Eier aus Stahl und Ziele wie eine Laborratte

Sie werden mehr. Menschen mit eisernem Willen, glasharten Zielvorstellungen und dem Wissen um die Grundlagen des Universums. Zumindest des eigenen. Sie verfolgen einen Plan, können einem ungefragt erklären, was man falsch macht und was oder wer ihnen im Weg steht.
Das nennt sich dann Achtsamkeit: Man achtet auf die eigenen Bedürfnisse und eben diese Ziele und darauf, wie man möglichst gut und sicher, vielleicht auch schnell, dorthin kommt.
Kein Wunder, könnte man meinen, ist halt auch eine Art Altersfrage, so rund um vierzig. Und wenn ich auf durchaus turbulente letzte zwei drei Jahre zurücksehe, könnte ich mich da nicht ganz ausnehmen. Wenns nicht eindeutig keine Altersfrage wäre. Und auch keine neoesoterische Ausprägung. Es ist eine neue Form des Egoismus, bei der sich erstaunlich unterschiedliche Menschen erstaunlich einig sind.
Da gibts auf der einen Seite die Start Up-Kinder: „Um ein Start Up hochzuziehen, brauchst du Eier aus Stahl“, erklären sie und vergessen dabei, dass manche Menschen keine Eier haben und dass das weder ihr Fehler noch überhaupt ein Fehler ist. Sie reden von Zielen und Voraussetzungen, die man sich schaffen muss, um sie zu erreichen, und treffen sich dabei mit meditierenden nachdenklichen Unschlüssigen, die ihre Tage mit Listen und Zeitplänen vom ritualisierten Aufstehen bis zum ritualisierten Schlafengehen durchstrukturieren – um ihre Ziele zu erreichen.
Ich hätte gern solche Ziele. Einerseits solche, die sich durch das geordnete Vorbereiten der Kleidung für den nächsten Tag erreichen lassen, andererseits solche, denen ich erlauben kann, einen derart umfassenden Einfluss auf mein Leben zu haben. Denen ich alles unterordnen kann, weil – ja weil was? Weil mit dem Erreichen dieser Ziele tatsächlich alles anders wird?
Gewissheit ist etwas Feines. Wenn nicht der Zweifel das ausgeprägte Talent hätte, die eigene Gewissheit immer wieder in Frage zu stellen. Das bedeutet nicht, dass man unentschlossen und planlos umhertorkeln muss. Zweifel bedeutet eher die Gewissheit, mit Planänderungen umgehen zu müssen. Und die Gewissheit, dass man sich selbst nicht loswerden kann.
Wozu also Pläne und Zielsetzungen? Um etwas zu erreichen, sich zu entwickeln, etwas zu schaffen, Sicherheit herzustellen – was auch immer man möchte. Das kann Zeit in Anspruch nehmen und langfristige Horizonte erfordern. Der Wille zu Abkürzungen wird als Symptom der Zeit gesehen, Ungeduld ist eine Krankheit der Moderne und nicht zuletzt ist auch dieses Internet daran schuld, dass wir alles zugleich und sofort haben wollen.
Naja, nicht ganz. Dieser Fischer, der dem pläneschmiedenden Jungunternehmer, der ihm vorrechnet, er könnte, wer er nur mehr investierte, Genug Geld verdienen um friedlich am Strand zu sitzen, erklärte: „Das kann ich auch so“, hatte aller Wahrscheinlichkeit nach kein Internet.
So gehts mir immer mit Plänen und Zielen. Der eine Plan, der so klares und strukturiertes Handeln ermöglichen würde, erscheint mir immer so eindimensional wie der Plan einer Laborratte im Konditionierungstraining. Und dann stehe ich trotzdem jeden Tag auf, arbeite manchmal auch zu lang und ärgere mich, wenn ich andere Pläne aufschieben muss oder sie gar vorübergehend aus den Augen verliere. Und bin dann am zufriedensten, wenn ich mal nicht an Pläne und Ziele denke.
Aber vielleicht habe ich auch nur noch nie wirklich gelernt, wie man Pläne schmiedet und Ziele definiert. Vielleicht aber haben jene, die egal ob geschäftlich oder esoterisch, so klare Ziele haben, ja insgeheim einfach auch mal mit einer Wahrsagerin geredet, um Gewissheit über ihre richtigen Ziele zu erlangen. Wobei – dann steht ja schon wieder die Frage im Raum: Wenns wirklich deines ist, wozu brauchst du dann Eier aus Stahl und den strukturierten Tagesplan zum Ausfüllen und Abhaken?

Kriegsrhetorik ist soziale Genmanipulation

Bernard-Henri Lévy will Krieg. Barack Obama will das nicht. Die Kronen Zeitung veröffentlicht weiter IS-Propaganda. Auch österreichische Politiker üben sich in Kriegsrhetorik und formulieren abstruse Theorien zu Überwachung, rachsüchtigem Christentum und Jesus’ Schwertern. Und jetzt?
Eigentlich habe ich nichts dazu zu sagen; wer von uns hat schon etwas Sinnvolles zu sagen, angesichts von über hundert Toten, die einfach beliebige Europäer waren?

Krieg vereint nicht wirklich.

1993 und 1994, als die NATO erst Flugverbotszonen in Bosnien einrichtete und dann vereinzelte Angriffe flog, war ich in New York. Es war ein befremdendes Gefühl, weit weg in einem Land zu sein, das wenige hundert Kilometer von zuhause Krieg führte. Auch wenn die Ratlosigkeit angesichts des Blutvergießens groß war.
Der klar definierte Feind, der  Lévy fordert, war nicht wirklich so klar. Ein Europäer in den USA war jemand, der auf die Hilfe der USA angewiesen war, die dazu ansetzten, Ordnung in der Welt zu schaffen. Im Februar 1993 hatte es den ersten Anschlag auf das World Trade Center gegeben, der auch dazu beitrug, die Wir-sorgen-für-Recht-und Ordnung-Haltung zu schüren.
1999 bombardierte die NATO Serbien. Arabelle Bernecker und Susanne Glass beschreiben in Interviews mit Otpor-Aktivistinnen in ihrem Buch „Schwestern der Revolution“, wie die Angriffe die Position des Widerstands in Serbien schwächte. Die Menschen hatten begonnen, sich vom Milosevic-Regime zu distanzieren – ein gemeinsamer Feind trug dazu bei, diese Distanz wieder zu überbrücken.
Nicolas Hénin, französischer Journalist und ehemalige Geisel des IS, beschreibt in seinem Guardian-Kommentar ähnliches.
Als 2001 George Bush von „Krieg“ sprach, war der Enthusiasmus nicht groß. Amerikanischer Imperialismus; der Versuch, die Welt in ein amerikanisches Problem zu ziehen; Rechtfertigung und Spielwiese für die internationale Rüstungsindustrie. Das mag auch an Bushs Persönlichkeit und der Aura seiner Entourage gelegen haben. Er hatte eben keinen eloquenten Lévy an seiner Seite.

Krieg oder Verbrechen?

Im Krieg stehen einander Armeen und Soldaten gegenüber. Die Opfer in Paris waren keine Soldaten. Wo Zivilisten im Spiel sind, redet man von Kriegsverbrechen. Im Krieg spielen Gut und Böse eine Rolle; der gerechte Krieg steht auf der Seite des Guten. Verbrechensbekämpfung hat es leichter: Gut und Böse müssen nicht strapaziert werden, es gibt Gesetze, die uns die Entscheidungsarbeit abnehmen.
Gesetze rund um den Krieg sind keine ganz so eindeutige Angelegenheit. Krieg überschreitet Grenzen und bringt Ausnahmesituationen mit sich. Frankreich ruft den Ausnahmezustand aus, Konservative in Europa sinnieren über mehr Überwachung. Londons Bürgermeister Boris Johnson und andere meinen sogar, in Edward Snowden einen Ziehvater des Terrorismus identifiziert zu haben: Seine Enthüllungen hätten praktische Hinweise geliefert, wie man sich am besten vor Überwachung schütze.
Es gibt wohl nicht zu wenig Daten, nicht zu wenig Quellen und Symptome, anhand derer man spekulieren könnte. Was fehlt, sind die praktischen Anwendungen: Spätestens seit 9/11 überwachen Behörden großflächig und digital. Erfolgsgeschichten bleiben aus. Vielleicht, um neue Verschwörungstheorien ins Spiel zu bringen und in der Anti-Snowden-Logik zu spekulieren, werden die Erfolgsgeschichten ja verheimlicht, eben um nicht zu enthüllen, wie erfolgreich Überwachung funktionieren kann. Abgesehen davon, dass ich das nicht glaube (schwaches Argument), wäre das ein großer Schritt in Richtung ausser Kontrolle geratener staatlich unterstützter Terrororganisationen.
Frankreich ist einer der aktivsten Datensammler in Europa. Die Vorratsdatenspeicherung wurde nie, auch nicht nach dem EuGH-Urteil im April 2014, ausser Kraft gesetzt. Nach dem Charlie Hebdo-Attentat wurden Überwachungsmaßnahmen  ausgeweitet. Die vollständige Metadatenaufzeichnung wurde im Juli auch vom französischen Verfassungsgericht bestätigt.
Im Gegensatz dazu hat gerade erst vergangene Woche der United States Court of Appeals festgestellt, dass das Sammeln des so beliebten Browserverlaufs nicht als Metadaten anzusehen ist und damit nicht vom sehr umfassenden Wiretap-Act gedeckt ist.
Die Frage nach der Rechtfertigung von Überwachung wirft auch die Frage auf, wo die Grenzen zwischen „wir“ und „ihr“ verlaufen, wer handeln darf und wer zum Dulden gezwungen ist. Nicht über Überwachung reden zu dürfen (also Snowden zu verurteilen), ist die Forderung nach Obrigkeitshörigkeit. Das ist nicht nur eine Befindlichkeitsfrage, es ist ein Sicherheitsproblem: Die Arbeit von Behörden nicht offen analysieren zu können, Schwächen nicht anzusprechen, Fehler, die nicht behoben werden, nicht veröffentlichen zu können (Details dazu in Citizen Four), schwächt Behörden mehr, als ihre Schwächen zu veröffentlichen. Das ist die Forderung nach dem unmündigen Bürger, der sich in die fürsorgende Hand des Staates begibt.

Nicht mit uns. Mit mir auch nicht.

Wer Krieg fordert, fordert auch klare Fronten. So auch Lévy. Demokraten und Europäer halten zusammen, Muslime distanzieren sich von Islamisten; der Feind wird klar benannt.
Jetzt haben wir den Salat.
Auch angesichts von Szenarien, in denen man nicht „nein“ sagen kann, muss es möglich bleiben, „nein“ zu sagen. Terrorismus nicht zu unterstützen kann nicht gleichbedeutend damit sein, ein christliches gebärfreudiges Abendland zu unterstützen.
Einheit schliess aus – nicht nur den definierten Gegner. Das Kuriositätenkabinett der österreichischen Innenpolitik auf Twitter beschwört düstere mittelalterliche Szenarien herauf. Nationalratsabgeordnete reden von christlicher Leitkultur und Schwertern.

Das ist Krieg: Unterwerfung, Disziplin, Unterordnung unter eine konstruierte Gemeinsamkeit. Viele Nicht-Muslime wollen nicht Teil einer christlichen Leitkultur sein. Sind sie unsere Feinde, potenzielle Verräter, die wir im Auge behalten müssen? Deren missliebige Äußerungen wir beobachten müssen, um – ja um was? Um ihnen nachher die Schuld geben zu können? Um sie zu denunzieren? Um eine Handhabe zu schaffen, zwischen wertvollen und weniger wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft unterscheiden zu können? Oder um eine Linie konstruieren zu können, nach der wir entscheiden, welche „bürgerlichen Freiheiten“ wir aufzugeben gewillt sind?

Waffenverboten
Das ist schräg. Ich habe nichts dagegen, vor einem Konzertbesuch auf Flaschen, Messer oder Regenschirme kontrolliert zu werden. Das ist ein sehr konkretes Bedrohungsszenario; Konflikte können schnell und anonym gelöst werden; die Vorgeschichte (Besitzt du ein Taschenmesser? Hattest du schon einmal eine Bierflasche in der Hand?) spielt ebenso keine Rolle wie allfällige oder konstruierte Intentionen.
Daten dagegen sind geduldig und bieten Spielraum für Interpretationen. Je mehr sie vor einem bestimmten Hintergrund (christliche Leitkultur!) gelesen werden, desto größer und abwegiger wird dieser Interpretationsspielraum.
Der Ruf nach Krieg, Überwachung und Einheit ist so etwas wie Embryonen-Genmanipulation mit sozialen und politischen Mitteln: Wir schaffen uns den Einheitsbürger, den wir auf das ideologische oder schlimmstenfalls wirklich kriegerische Schlachtfeld stellen. Alle anderen sind Drückeberger oder Saboteure.
Niemand kann sich aus dem Spiel nehmen, wenn Bedrohungen der Freiheit etwas entgegengesetzt werden muss. Unterwerfung zu verlangen, fördert Freiheit nicht.

Kämpfen? Oder doch nur Kriegsrhetorik?

Von Krieg zu reden, fühlt sich nicht gut an. Von erfolgreichen Militärschlägen gegen den IS zu hören, fühlt sich dagegen schon gut an. Das ist eine Dissonanz.
Welche Optionen gibt es überhaupt? Kämpfe finden statt; ein Ende des IS ist begrüßenswert – auch ohne Terror in Europa.
Das Krieg zu nennen, kann zu einem schnelleren Ende führen (weil gezielter und in größerem Stil gehandelt wird), es kann zu mehr Terror führen (weil der politischen Symbolik eine kriegerische und wesentlich praktischere Symbolik entgegengesetzt wird).
Beides ist möglich und wohl nicht einmal die Mächtigsten der Welt können sich den Ausgang aussuchen.
Vielleicht ist es für Regierungschefs wichtig, zwischen Krieg und anderen kämpferischen – kriegerischen – Auseinandersetzungen zu unterscheiden. Für die Betroffenen ist es wahrscheinlich ebenso unwichtig wie für die nicht Betroffenen.
Und die Frage ist wohl weniger, ob wir es Krieg nennen oder nicht, sondern wie weit Krieg und die dafür geforderte Einheit zu Unterdrückung, Schweigen und Blindheit führen.
Kriegsrhetorik lässt vermuten, man könnte große Entscheidungen treffen, die große Probleme lösen und auch große Opfer fordern und rechtfertigen. – Es mag absurd und nebensächlich klingen: Wenn wir von Krieg reden, dann muss sich das auch mit der Vorstellung einer offenen und vielschichtigen Gesellschaft vertragen. Und so abwegig ist das gar nicht. Denn eine nicht unwichtige Frage ist auch noch nicht abschließend beantwortet: Krieg gegen wen eigentlich? Gegen den IS oder gegen das Assad-Regime in Syrien?

Link-Radikal

Dank der EU-Kommission diskutieren wir also wieder mal, ob und was man verlinken darf. Der Kern: Verleger wollen zwar schon in (Google-)Suchergebnissen präsent sein, aber sie sind Google den Erfolg neidisch und würden gerne mitschneiden.
Ritchie Pettauer hat das Wesentliche dazu beschrieben, aber mir fallen da noch ein paar Ideen für neue Geschäftsmodelle auf dieser Basis ein:

  • Buchungsplattformen sollen Hotels und Restaurant bezahlen, um sie auf ihre Plattformen zu nehmen.
  • Ebay soll Anbieter bezahlen – ohne Produkte gäbs schliesslich keinen Traffic auf der Seite.
  • iTunes müsste ebenso zur Kasse gebeten werden wie Google selbst, denn ohne User hätten auch bezahlte Suchtreffer wenig Marktpotenzial.
  • Und Zeitungen müssten dann auch in ihre Taschen greifen: Einerseits, um Leser zu bezahlen, ohne die es keine Anzeigen gäbe, andererseits, um die Protagonisten ihrer Stories zu entschädigen, ohne die es eben keine Stories gäbe.

So weit hergeholt ist das gar nicht. Von Medien finanzierte Politiker würden vielleicht geringfügig mehr Spektakel machen – fraglich allerdings, ob man den Unterschied merken würde.
Und die Geschäftsmodelle erinnern mich an die Urzeiten der Contentsyndication. Als wir damals, als die Telekom Austria noch Jet2Web hiess und Telekomunternehmen die besseren Medienunternehmen sein wollten, redaktionelle Portale aufgebaut haben, wurden für Unmengen an Geld Inhalte gekauft. Nicht etwa, um Redaktionen damit zu finanzieren und spannende eigene Inhalte zu erstellen, sondern um längst veröffentlichte Agentur- und Zeitungsmeldungen zu kaufen. Das waren goldene Zeiten für Zeitungen: Sie haben einfach ihren Job gemacht und doppelt dafür kassiert. Und sobald User die Adresszeile ihres Browsers bedienen konnten, waren sie dann auch weg von den Telekom-Portalen.
Damals wurde im übrigen auch nicht verlinkt – denn es ging ja darum, User möglichst lang auf den eigenen Seiten zu halten.
Und heute?
Heute funktioniert das Modell eigentlich. Jeder macht sein eigenes Ding mit seinem eigenen Geschäftsmodell. User entscheiden, was sie nutzen möchten. Gewohnheit, Faulheit und Konzentrationstendenzen verzerren den Markt ein wenig.
Allerdings gibt es auch noch andere als die EU-Kommission, die diesen Zustand ankreiden. Jaron Lanier beschäftigt sich in seinen Büchern “You are not a Gadget” und “Who owns the future?” schon länger mit Ideen für Gegenentwürfe zu Gratis-Geschäftsmodellen. Sie spielen den Ball an die User zurück. Denn entscheidend ist letztlich, wer wofür zu zahlen bereit ist. Ein Punkt, den auch Joachim Hirsch in seinem Beitrag zum Elevate-Sammelband (“Ein Handbuch für morgen”) macht: Gesellschaft und Wirtschaft werden “dadurch verändert, dass Menschen anders leben, anders arbeiten, andere Vorstellungen davon entwickeln, was ein gutes und würdiges Leben ist.” – Und dabei hilft uns eine Linksteuer vielleicht sogar: Wer nicht verlinkt werden will, kann sich selbst aus dem Spiel nehmen. Dann bleibt mehr für Blogger und andere Publisher, die sich über Traffic freuen und ihn zu nützen wissen.

Der Schein trügt – Wieviel Korruption ist notwendig?

Eindimensionalität verdirbt die Phantasie – und die Ehrlichkeit. Colin Crouch stellte am Dienstag in der Diskussion mit Robert Misik sein aktuelles Buch “Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht” vor.
Die Kernthese lässt sich am besten anhand eines von Crouch schon vor einem Jahr beschriebenen Beispiels zusammenfassen: Was machen wir, wenn wir ein vernünftiges, also schadstoffarmes Auto kaufen wollen? Wir können keine eigenen Tests durchführen, also sind wir auf Prüfberichte und Herstellerangaben angewiesen. Uns steht das Wissen nicht originär zu Verfügung, wir müssen auf das Wissen anderer vertrauen.

Eindimensionale Ziele fördern Ignoranz

Wenn sich dann ein grosser Schwindel bei Abgaswerten (wie bei VW) herausstellt, wird gleich auf mehreren Ebenen deutlich, wie eindimensionale finanzielle Ziele Wissen bedrohen: Falsche Abgaswerte enthalten den Kunden Wissen vor und verzerren dadurch den Markt. Aus der internen Perspektive betrachtet muss jemand im Unternehmen gewusst haben, dass die Werte falsch sind und dass das Auffliegen des Schwindels dramatische finanzielle Kinsequenzen nach sich ziehen werde – auch hier wurde besseres Wissen und der kurzfristigen finanziellen Ziele willen ignoriert.
Eindimensionale Ziele sind leicht zu beobachten und zu messen, es ist leicht, Handlungen nach ihnen auszurichten. Am eindimensionalsten und auf den ersten Blick auch am eindeutigsten sind finanzielle Ziele. Crouch führt dazu Beispiele aus dem öffentlichen Dienst an: Seit hier messbare Ziele und Prämien Einzug gehalten haben, geht der Nonprofit-Gedanke verloren und anstelle der Problemlösung tritt Effizienz als oberstes Prinzip. Was manchmal schon schräge Blüten treibt: In England, auch eines von Crouchs Beispielen, vermuteten Gesundheitsbehörden eine zu niedrige Anzahl von Demenz-Diagnosen. Betroffene bekommen so keine rechtzeitige Therapie. Die Lösung war ein Kopfgeld für Ärzte: Jede Demenz-Diagnose wurde mit einer Geldprämie belohnt. Für das Vertrauen in den Arzt nicht gerade förderlich …

Crouch zeigt Entwicklungen und Probleme auf; Lösungen und Ratschläge verkneift er sich.

Geht es überhaupt ohne Korruption?

Jetzt ist gegen Effizienz grundsätzlich nichts einzuwenden. Ich denke auch, dass die Gut/Böse-Gegenüberstellung von profitgetriebener Privatwirtschaft und dem unabhängigen, der allgemeinen Entwicklung verschriebenen öffentlichen Bereich nicht in Crouchs Sinn ist.
Politiker brauchen nicht den Kontakt zu Unternehmen, um korrumpierbar zu sein – das schafft der Drang zum Machterhalt oft schon alleine. Und Regulierungsbehörden müssen nicht korrupt sein, um dumme, besserem Wissen widersprechende Regulierungen zu erlassen – sie sind schließlich selbst keine praktizierenden Experten, sondern nur Beobachter.
Crouch verwendet den Begriff “Korruption” sehr häufig und meint damit den nicht mehr offenen, vorbehaltlosen Umgang mit Wissen. Das erinnert an Objektivitäts- und Faktentreue-Diskussion im Journalismus und wirft damit auch die Frage auf: Gibt es überhaupt so etwas wie Nicht-Korruption?

Finanzziele können sehr leicht korrumpieren. Das muss noch gar nichts mit Bestechlichkeit zu tun haben. Wer sich auf ein – finanzielles – Ziel ausrichtet, hat einen starken Anreiz andere, durchaus auch vernünftige Ziele außer Acht zu lassen. Das gilt für aufgrund ihrer Zielvereinbarungen gegeneinander arbeitende Abteilungen ein und desselben Unternehmens ebenso wie für Effizienzvorgaben in der Gesundheitsversorgung oder für Controller, die zu Leitern von Innovationsabteilungen bestellt werden.
Politische Ziele sind mehrdimensionaler, orientieren sich aber auch nicht gerade an Wissen. Sie orientieren sich an Werten und ziehen damit einen ganzen Rattenschwanz nach sich, der letztlich dann doch auch vereinfacht werden muss. Denken wir nur an Pensionsdebatten: Was heissen Generationenfairness und Rechtssicherheit heute (verdiente, sichere und steigende Pensionen), was in 20 Jahren (ein nicht finanzierbares Loch von 30 statt 8 Miliarden jährlich)?
Zudem scheint Korruption unvermeidbar. Jede Entscheidung schliesst etwas aus, das dann nicht mehr wichtig ist. (Kurzer Exkurs: Der erste mit dieser Idee war Spinoza, der damit schon auf die Beschränktheit von Schlauheit aufmerksam machte. Und zuletzt kam Lacan mit seiner Meinung einfache Feststellungen wie “Du bist John” seien kein Zeugnis von Identität sondern von Gespaltenheit. Wenn das Ergebnis dieser Feststellung auf der Hand läge, bräuchte es sie nicht, aber wir machen uns die Welt eben, wie sie uns gefällt. – Ja, Pippi Langstrumpf war da klarer auf dem Punkt, wie Chefredakteure, die Kommentare ihrer Juniorredakteure twittern, heute sagen würden.)

Das versteckte Gespenst in dieser Diskussion ist der Finanzzahlen über alles stellende Neoliberalismus, den es es in der Praxis ebensowenig in seiner reinen Form gibt wie den perfekten Markt.

Wieviel Korruption ist notwendig?

Der (Geld)Schein trügt also. Aus einer anderen liberalen und faktenorientierten Sicht drängt sich die Frage auf: Wieviel Korruption ist genug? Oder wieviel ist ok? Gibt es gute und schlechte Korruption?
Gute Korruption klingt auf den ersten Blick etwas komisch. Auf den zweiten Blick ist das der Stoff, aus dem Helden gemacht sind. – “Narcos” ist eine Netflix-Serie, die den Aufstieg und Fall des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar beschreibt. In einer Szene wünscht sich Horacio Carillo, sein behördlicher Gegenspieler, “unkorrumpierbare Männer” für seine Einsatztruppe. Und man denkt sich: Echt jetzt? Escobar soll Attentate auf Präsidentschaftskandidaten organisiert haben, Kopfgelder auf Polizisten ausgesetzt haben und hatte mit einem Vermögen von ein paar Milliarden Dollar das ganze Land im Griff – dieser Situation soll sich jemand aus edlen unkorrumpierten Beweggründen entgegenstellen, und das nicht hinter Bodyguards am Schreibtisch, sondern auf der Strasse mit der Waffe in der Hand? Anscheinend. In einer kleinen Nebenszene zeigt sich dann aber: Die Unkorrumpierbaren sind zutiefst korrumpierte, gewaltbereite und von Hass bewegte Leute, die persönliche (und sehr eindimensionale) Ziele verfolgen und in erster Linie ermordete Familienangehörige rächen wollen.
Vielleicht nicht gerade “gut” und moralisch astrein, aber auch nicht gerade verwerflich …

Ungleichheit ist schlecht für den Markt

Wenn Korruption schon praktisch unvermeidbar scheint, dann wäre es nett, ihr Ausmaß zu kennen. Dem stehen, um wieder zur Crouch-Diskussion zurückzukehren, im wesentlichen zwei Dinge im Weg: Das eine ist Komplexität in Form von angeblich komplexen Produkten. Finanzprodukte sind ja angeblich komplex. Meiner Meinung nach sind sie sehr einfach: Sie sind unvorhersehbar, und das Risiko, lieber Kunde, trägst du. Komplexität dient dazu, Unvorhersehbarkeiten oder Schwindel (wie bei den Abgaswerten) zu verschleiern. Und das verzerrt den Markt, weil die relevanten Informationen nicht auf dem Tisch liegen – Wissen wird ignoriert.
Das zweite Hindernis sieht Crouch in wachsender ökonomischer Ungleichheit. Diese kann aus in wenig Wettbewerb (sein Beispiel: Ratingagenturen), marktbeherrschenden Positionen oder ungleichen Ausgangspositionen bei der Durchsetzung von Interessen entstehen. Ungleichheit führt dann dazu, dass keine rationalen Entscheidungen getroffen werden können, weil es keine Alternativen gibt, weil nicht alle Informationen auf dem Tisch liegen und weil eben Wissen von der Finanzlogik bedroht wird.

Insofern bietet Crouch dann eben doch eine Lösungsperspektive für das Problem. Mit allgemeiner klareren und besser verteilten Machtverhältnissen kann dann auch Wissen wieder Macht werden.

An beiden Enden der Nahrungskette

  • Von der gängigen Ausschreibungspraxis profitieren Unternehmen, die ihr Geschäft mit Overhead machen. Auftraggeber und eigentliche Auftragnehmer – die Enden der Nahrungskette – zahlen drauf.

Ich habe mal wieder einen Blick in diverse öffentliche Ausschreibungsunterlagen geworfen. Schwerer Fehler. Dreissigseitige Formalkriterien, Strafregisterbescheinigungen, Sozialversicherungskontoauszüge und so weiter ok, aber was soll das eigentlich werden, wenn die ausschreibende Stelle der Agentur auch die Personalstruktur vorschreibt?
Im konkreten Fall geht es um ein Jahresbudget von 250.000 Euro, für das vier Personen Schlüsselpersonal gefordert werden, die natürlich während der Laufzeit nicht ohne Zustimmung des Auftraggebers ausgetauscht werden dürfen und deren Verfügbarkeit auch an Wochenende und Feiertagen gefordert wird. Funktionsüberschneidungen sind ausgeschlossen, nur der Geschäftsführer darf zusätzlich auch produktiv arbeiten. Die Funktionen sind allerdings alle auf administrativer Ebene, es braucht also zusätzlich noch Personal, um den Job auch zu erledigen.
Abgesehen vom Mengengerüst frage ich mich auch, mit welcher Expertise ein Auftraggeber die Personalstruktur des Auftragnehmers vorschreiben möchte – aber vor allem: Warum möchte ein Auftraggeber von einem Lieferanten mit zwangsverordnetem Overhead beglückt werden?

Wir predigen jetzt schon lang andere und agile Arbeits- und Organisationsformen, fordern günstige Produktionen und betreiben Expertenkulte. Was Kreativität betrifft, wird gern kopiert (und dann um Orginialität gestritten), man unterstellt lang langfristigen Partnern, sich abgenutzt zu haben, und fordert frische Ideen.

Und dann zementieren branchenfremde Anforderungen das business as usual auf scheinbar ewig ein. Das ist in seinen Auswirkungen noch krasser als Gewerbeordnungen und andere Formalbestimmungen. Und es ist ein Aspekt mehr, der es Unternehmern nicht wirklich möglich macht, selbstbestimmt und souverän statt prekär zu handeln.
Wer hier in solchen Fällen mitarbeiten will, ohne sich drei Overhead-Stufen einzuhandeln, muss sich dann also bei der dank ihres Overheads gewinnenden Agentur hinten anstellen.
Damit habe ich zwei Probleme:

  • Es bleibt verdammt viel Geld auf der Strecke liegen.
  • Es ist ein teuer bezahltes Stille-Post-System, das Missverständnisse fordert.
  • Es stützt das falsche System, indem es den Anschein erweckt, als wäre Overhead kreationsförderlich oder notwendig, um kreative Leistung zu kaufen.

Wer draufzahlt, sind dabei beide Enden der Nahrungskette: Der Auftraggeber und der eigentliche Auftragnehmer.

Blau ist so was wie die Null beim Roulette

Blaue Koalitionen – “Lasst sie machen”, sagen viele. Blau hat aber von jedem Koalitionskrach noch profitiert. Dem Partner hat’s selten gut getan.

Düstere Mienen bei der Angelobung, Eiertänze bei Gesprächen über die Verhandlungen („Die sind nicht alle so“) und gegenseitige Distanzierungen: Es wieder Blaue-Koalitions-Zeit in Österreich.
Nachdem es die SPÖ geschafft hat, im Burgenland sogar den Support von Lukas Resetarits zu verlieren, möchte die ÖVP da um nichts nachstehen und machts jetzt in Oberösterreich auch mit der FPÖ.
Die gleich darauf in seltener Dummheit aus dem Boden gestampfte gegenschwarzblau.at-Webseite ist eines von vielen Zeichen dafür, dass Koalitionen mit Blau so etwas ähnliches sind wie das Setzen auf Null beim Roulette: Es ist eine hochriskante Verzweiflungsaktion, bei der es, wenn sie aufgeht, wenige Gewinner und sehr viele Verlierer gibt. Ok, Wolfgang Schüssel brachte zusätzlich die Auswischermentalität mit ins Spiel: Seine Koalitionsvariante war eher so, als würde ein_e beleidigt_e Partner_in mit dem besten Freund oder halt doch gleich mit dem oder der Nächstbesten in die Kiste springen.
„Lasst sie arbeiten“, orakeln seither Journalisten. „Sobald die FPÖ arbeiten muss, werden sie eh wieder scheitern.“
Abgesehen davon, dass mir der Preis (zumindest der, der sich aus der letzten Blau-Schwarz-Kärnten-Periode ablesen lest) zu teuer ist, um jemanden seine Inkompetenz demonstrieren zu lassen, glaube ich nicht daran.

Blau profitiert vom Koalitionsende

Deshalb habe ich die Wahlergebnisse rund um alle blauen Koalitionen ausgegraben. Meine These war eigentlich, dass der Koalitionspartner mehr beschädigt wird als die FPÖ. Das lässt sich auch nicht ganz bestätigen. Tatsahce ist eher, dass die FPÖ immer vom Ende von Koalitionen profitiert.

  • Kreisky warf Haider 1986 aus der Koalition – seither wächst die FPÖ
  • Sausgruber warf Egger vor den Wahlen 2009 in Vorarlberg aus dem Landhaus – die FPÖ verdoppelte ihren Anteil.
  • Kärnten ist politisch zu bunt, um eindeutige Beziehungen festzustellen. Aber auch nicht lustig.
  • Das Schwarz-Blaue Fiasko auf Bundesebene kostete die FPÖ während der Koalition nahezu ihre Existenz, kaum war man die Reguerungsrolle los, verdoppelten sich die Anteile wieder nahezu. Und dieser Fall ist der einzige, bei dem es auch vorher den deutlichen Absturz gab.

Nachdem Niessl und Pühringer immer wieder betonen, dass ihre jeweiligen blauen Freunde eh ok wären (nur die der anderen nicht), gibts in der Infografik noch ein paar Best-of-Sager der ehemals ebenfalls salonfähigen Koalitionspartner. Nur so zur Erinnerung.
Wers vergessen hat: Manfred Haimbuchner haben wir unter anderem die idiotische Diskussion, warum Flüchtlinge Smartphones haben, zu verdanken. Als neuer Staatsmann könnte er jetzt seinem Parteifreund erklären, dass das unter anderem ein erstes Indiz dafür ist, dass Flüchtlinge eben keine Höhlenmenschen sind.

(Links zum Vergrößern gibts ganz unten.)

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Crashkurs Medienpolitik und politische Bildung

Die Regierung denkt also darüber nach, die Veröffentlichung von Meinungsumfragen kurz vor Wahlen zu verbieten. Wir hätten noch ein paar Vorschläge dazu.

Wie geht man so etwas gründlich an?
1) inhaltsleere, auf Umfragen schielende Politik machen
2) schwachsinnige Medien fördern und mit Inseraten überschütten
3) nach der Pfeife dieser Medien tanzen
4) sich dabei blaue Flecken holen
5) beleidigt sein und sich mit Verboten revanchieren

Wobei die Beschränkung auf Umfrageberichterstattung natürlich viel zu kurz gegriffen ist. EIgentlich kann man sich die ganze Innenpolitik sparen – wo es doch die Parlamentskorrespondenz gibt. Die müsste allerdings auch noch etwas auffrisiert werden, schliesslich wird dort der Opposition viel zu viel Platz eingeräumt.

Konsequenterweise bräuchten wir dann noch ein Werbeverbot im näheren Umkreis von Geschäften. Schliesslich ist die Bevölkerung hier auch unzulässiger Manipulation ausgesetzt.
Werbung sollte eher durch eine Belehrung im Steuerrecht ergänzt werden (Merkmale einer Rechnung! Belegaufbewahrungspflicht! Registrierkassenidentifikationsbingo!), damit BürgerInnen jederzeit ihrer BürgerInnenpflicht nachkommen können.

Das ist sehr fürsorglich. Die Sorge um die unmanipulierte Meinungsfreiheit hat sich schliesslich auch schon in den Diskussionen der Demokratieenquete gezeigt: Direkte Demokratie sei nicht so das Ding, hieß es da von Regierungsvertretern, weil die Bevölkerung bei großen Fragen zu sehr dem Einfluss von Lobbyisten ausgesetzt sei. Man wolle das lieber auf lokale Entscheidungen reduzieren – sprich auf Fälle, in denen Bürgermeister das Volk gut im Griff haben.

Das wäre doch auch eine Option, um diese lästigen Wahlen ein bisschen besser in den Griff zu kriegen: Das Volk soll einfach vor jeder Wahl den Bürgermeister fragen. Spart einen Haufen Ärger, Inseratengeld und Wahlkampfkilometer. Und wirkt sicher ganz krass direktdemokratisch.

PS: Der Umgang mit Umfragen in vielen Medien ist fraglos grenzdebil. Wer lernen möchte, wie man als JournalistIn richtig mit Umfragen umgeht, kann das am 13. November beim Neuwal-Umfrageworkshop tun.