Lederhosen, Gendern, gesunder Rausch – so lustig ist es in Österreich

Manchmal ist es ja großartig, nicht nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sonst müsste ich mich ja jetzt über vorgebliche Gender-Mafiosi, dumpfbackige Landeier und den gesunden Rausch ärgern. Das Kolumnisten-Dasein ist sicher kein leichtes – von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung, und die noch schön formulieren. Und sich darauf verlassen, dass die Kolumne von gestern heute eh niemanden mehr interessiert. Ich hab den Fehler gemacht, mal eine Woche lang viel Meinungsmut (vorrangig den aus den Alphamedien) zu lesen. Das ist schwer verdaulich. – Und beim Lesen dieses Christian Ortner-Kommentars habe ich mich – bevor ich bei der Autorenzeile angelangt bin – ernsthaft gefragt, ob Michael Jeannée auf Grund seiner jüngsten publizistischen Leistungen jetzt auch für die Presse schreibt.

Aber zurück zu Landeiern, Lederhosen, Gendern und Drogen. Sagenhaft ergiebige Kolumnisten-Themen.

Fangen wir mit den Landeiern an: Seit sich ein volkstümelnder Städter, der auch ein bisschen singt, nicht getraut hat, die österreichische Hymne richtig zu singen, ergehen sich die urbansten Kolumnisten und Leitartikler in sagenhaftem Schwachsinn über die angeblichen dunklen Tendenzen des Landlebens.

Auch Städte haben ihre Prater-Domes und Lugners, und auch Tara und Moni geben sich schliesslich sehr urban. Und hat nicht auch Mundl Sackbauer in zumindest einer Folge einen Lederhosen-Auftritt hingelegt?
Der kalte Schauer läuft mir weniger bei ländlichen Feuerwehr- und anderen Zeltfesten über den Rücken, eher angesichts von urbanen Wiesenfesten, deren Gäste sich wohlig in Retro-Gedankenlosigkeit wälzen und sich am nächsten Tag ohnehin wieder ganz anders geben. Das Problem ist ja nicht die Tracht (die es, anscheinend muss das auch gesagt werden, schon lange vor ihrer politischen Belastung gab), sondern die damit einhergehende Reproduktion von Klischees, die Macht und Bedeutung verleiht – obwohl natürlich alle immer darauf pochen, dass das nicht wirklich so ist. Wir machen nur mit, gerade weil wir drüber stehen. Mit aufwendig dekorierten Poloshirts oder Hemden mit ultrasteifen Krägen und Manschetten funktioniert das – im übrigen im urbanen Umfeld – ja genauso gut. Mode ist oft ein sehr einfacher Weg, um zu zeigen: „Ich denke nicht“.
Und genau deshalb wäre es ja auch schön, wenn die Gestaltung von Plattencovers und anderen Marketingmaterialien wirklich so reflektiert vonstatten ginge, dass jede mögliche Anspielung einer Pose oder eines Fotos gründlich analysiert würde – dann gäbe es wohl weit weniger prekäre Kreative oder arbeitslose Kulturwissenschaftlerinnen.
Und was „Deutsche, Italiener und Japaner“ betrifft: Schaut doch einfach mal in die österreichische Motorrad-Zulassungsstatistik. Dort hat zwar KTM die Nase vorne, auf den Plätzen der noch relevanten Marktanteile über 5 Prozent folgen Honda, Vespa, Yamaha und BMW. (Und um das gleich klarzustellen: Mein Motorrad ist aus China. Also möglicherweise diktatorisch vorbelastet, aber hoffentlich faschismusfrei. Und es ist ein Einsitzer… Obwohl: Gerade habe ich festgestellt, dass einige Schraubenköpfe unerklärlicherweise mit „88“ beschriftet sind…  omg!) Bemerkens- und kritisierenswert wäre daran eher der Retro-Touch, der ein Bild aus den Siebzigern vermittelt – die Formulierung könnte von meiner Großmutter stammen (die, als Deutsche, im übrigen immer der Meinung war, “dass ‘die Italiener’ ‚uns’ verraten haben“).

Dann die Genderei: Ich habe mir lange wenig Gedanken über das Gendern von Texten gemacht. Auch heute finde ich es manchmal noch holprig, manchmal funktioniert es mit dem Binnen-I in allen Varianten schlicht nicht. Allerdings hat die durchschnittliche Anzahl von Tipp- und Rechtschreibfehlern (vor allem in Online-Zeitungen) meines Erachtens einen weit gewichtigeren negativen Einfluss auf die deutsche Sprache.
Aber seit ich mein erstes Magazin in der Schlussredaktion durchgehend gegendert habe (aus Platzgründen oft mit „_i“ statt mit ausformulierten männlichen und weiblichen Bezeichnungen), kann ich sehr wohl sagen, dass diese „i“ großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Texten hat: Den Vorspann für eine Story, in der keine Frauen explizit vorkommen, zu gendern, macht erst mal bewusst, dass hier keine Frauen vorkommen. Und umgekehrt erinnert das Gendern von weiblich dominierten Geschichten daran, dass das kein Frauen-Thema ist, sondern eines, in dessen Aufbereitung jetzt eben mal Frauen die Hauptrolle spielen.
Warum gehört das hierher? – Das Hymnen-Drama hat mit der Ausblendung einer weiblichen Formulierung begonnen und sehr schnell zu einem „Das war immer schon so“ und „mir san mir“-Status geführt. Dazu mischen sich Argumente wie „moderne starke Frauen brauchen keine Sonderbehandlung“, und Formulierungen wie „unsere Frauen“ (wem gehören die noch mal?) oder „geschätzte Damenwelt“ – was in meinen Ohren ziemlich gleichlautend ist mit „ich grapsche gern“.
Und jetzt rückt eine neue Phalanx, flankiert von Intellektuellen, aus und schlägt in die gleiche Kerbe. Ich halte selten viel von Normierungen, und das durchgehende Gendern mit Wortanhängseln funktioniert nicht immer, aber trotzdem muss doch klar sein, dass es hier weniger um Sprache als um Macht geht.
Mein Anti-Gender-Lieblingsargument – „Haben wir keine anderen Sorgen?“ – bringt seine Antwort gleich mit. Nein, haben wir nicht. Denn es geht hier um Bildung und Haltung, und diese sind Grundvoraussetzungen für ein freies und selbstbestimmtes Leben für möglichst viele Menschen.
Die Haltung drückt sich nicht durch die normgerechte Verwendung des Binnen-I aus, sondern durch die Anerkennung der dahinter liegenden Anliegen. Stattdessen vorauszusetzen, dass Disziplinierung und Selbstkontrolle so weit verinnerlicht sind, dass jeder und jede aus eigenem Antrieb sagen muss „Ich brauche das nicht“, ist Zeichen eines ähnlichen Gruppenbildungsreflexes wie das urbanisierte Tragen von Lederhosen, natürlich vollkommen gesinnungsfrei: Wir machen das, gerade weil wir, befreit von allen Klischees, darüberstehen – aber trotzdem nur dort, wo es alle machen. (An diesem Punkt muss ich immer daran denken, wie mich meine Eltern in den späten Siebziger-Jahren mit Lederhosen in eine englische Volksschule geschickt haben, völlig kontextfrei also. Nicht mit den coolen knielangen, sondern mit Hotpants im Ziegenpeter-Style. Glaubt mir, das war ein exotischer Auftritt – und Abhärtung fürs Leben.)
Und dass sich jemand auch wehren könnte, ist kein Grund, dem- oder derjenigen gleich das Leben schwerer zu machen und einen Grund zur Gegenwehr zu geben. Aber ich ernte ja auch immer noch erstaunte Blicke, wenn ich auf diversen Business-Events oder -Galas (Veranstaltungen, bei denen Macht im Spiel ist) zu späterer Stunde, wenn Hüftgreif-Ausleger ausgefahren werden, zugegebenermaßen völlig humorlos anmerke, dass ich glaube, dass nicht alle Frauen darauf stehen. – Ich bin immer seltener dort.

Krankheit

Und dann, das ist nur eine Randbemerkung, die entfernt auch zum Thema passt, taucht noch der gesunde Rausch wieder auf: “Wer will denn schon rauschfrei durchs Leben gehen?”, fragt der berühmte Videoblogger Robert Misik.
Der öffentliche Rausch ist ungefähr so weit Privatsache wie das Hantieren mit verklausulierten Nazi-Anspielungen oder demonstrative Anti-Gender-Positionen: Es bereitet die große Wohlfühl-Bühne vor, auf der wir all unsere Unzulänglichkeiten rechtfertigen können. Die Verharmlosung reduziert den Horizont, nach dem wir uns strecken müssen: “Macht doch nichts”, denkt sich der Alki, “siehst du, die saufen auch alle und es ist etwas aus ihnen geworden.” “Bin ich jetzt wirklich so empfindlich”, denkt sich der Angehörige des Alkis, der sich wieder mal für dessen Ausfälle entschuldigt hat und dessen Aussetzer zu kompensieren versucht, “wahrscheinlich muss ich nur ein bisschen entspannter sein und nicht so kleinlich.“ – „Mach doch nichts“, denken sich Gender-Gegner und -Gegnerin, „Das Binnen-I will ja eh keiner wirklich.“ „Muss ich jetzt wirklich um etwas streiten, das mir persönlich egal sein kann?“, fragen sich Betroffene.
Sportreporter, die siegreiche Sportler dazu nötigen, zu sagen, dass sie jetzt aber schon einen über den Durst trinken werden, hantieren mit der gleichen Anti-Stalinismus-Keule wie die Gender-Phobiker mit ihren „Diktatur“-Rufen. Irgendwie würde ich jetzt gern Putin fragen, was er davon hält.

Saufen tamma alle gern – da trifft sich der intellektuelle urbane Kolumnist mit dem rustikalen Opfer seiner Gesinnungskritik wieder. – Das ist mir ehrlich egal, Prost, meinetwegen; spannender ist: Hier treffen einander auch die Argumentationsmuster wieder. „Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Volkstümler, und weiss die Mehrheit hinter sich. “Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Intellektuelle und weiss die Mehrheit (inklusive der Volkstümler) ebenfalls hinter sich. – Die Position wird mit ein bisschen Ironie gewürzt, damit sie bloß nicht zu einer Haltung verkocht, und als natürlich in keiner Weise unreflektiert garniert – „wir wissen eh…”. Bloß: Machtfragen bleiben unberührt, und wir drehen uns immer schön im Kreis.

Wer will schon immer korrekt sein, wo Sexismus, Nationalismus und Alkohol doch so lustig sein können? – Eh niemand. Ein bisschen weniger dämlich würde reichen. Und schliesslich müssen wir ja zuspitzen, um weiter so lustige Kolumnen schreiben zu können. Des Lohns der Unterhaltsamkeit wegen auf Inhalte zu verzichten – tja, das ist eben Business.

Und weil wir uns stattdessen lieber ohne Haltung im Kreis drehen, gehen jetzt auch ein paar hundert Leute einer Organisation rund um abendländisches Kulturgut, die im übrigen vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes skeptisch beäugt wird und deren Vorstandsmitglieder in Turnerbund und FPÖ engagiert sind, unhinterfragt auf den Leim und unterstützen deren Binnen-I-Attacken. Bravo, und viel Spass dabei…!

Und weils etwas komplizierter geworden ist, hier noch die Zusammenfassung für Eilige:

Jemand gendert nicht, weil es seiner volkstümlichen Seele widerspricht. – „Nazi!”, „Landei!“, sagen die einen.
Andere gendern, weil sie sich gegen die volkstümliche Seele richten. – „Diktatur!“, „Stalinisten!“, sagen die anderen.
Und dann sagen alle: „Man wird doch wohl noch dürfen…“
Also so kommen wir nicht weiter. Vielleicht wollen wird das ja gar nicht. – Dann sollten wir’s halt auch einfach so sagen…

“iiiiihhhh, Content Marketing!” – Wie ist das jetzt mit journalistischer Qualität?

[su_dropcap]I[/su_dropcap]n den achtziger Jahren war ich viel mit dem Fahrrad quer durch Niederösterreich unterwegs, mit einem dieser hässlichen 80er-Rennräder, die jetzt aus mir unverständlichen Gründen Hipster-Traumteile sind (Puch Olympia war damals das äußerste; Francesco Moser war außer Reichweite).
Was mir dabei am häufigsten aufgefallen und offenbar langfristig hängen geblieben ist, waren die alten Emailschilder an Holzstadeln, die immer möglichst nah beim Ortsschild verkündeten: „Jeder hier liest gern Kurier“ und „Unabhängige Kronen Zeitung“, später „Neue Kronen Zeitung“. (Für Geschichte-Nerds: Die Krone heisst sein 1971 nicht mehr „unabhängig“, die Schilder waren aber offensichtlich für die Ewigkeit gemacht.)
Den Kurier hab ich kaum jemals jemanden lesen gesehen, und an den Krone-Schildern hat mich immer gewundert, was die Attribute „neu“ oder „unabhängig“ hier eigentlich bedeuten.

Lustigerweise sind das ja immer noch zwei Insignien eines Qualitätsjournalismus, der sich mit seiner eigenen Selbstdarstellung so schwer tut. Redaktionen pochen auf Unabhängigkeit, Reflexions- und Analyseskills und auf fundierte Meinungen. – Die sie damit anderen absprechen. Redaktionen etablierter Medien sind auf dem Weg, die neuen Mächtigen zu werden, gegen die sich die Pressefreiheitsdramen vor gut 160 Jahren gerichtet haben.
Deswegen noch mal der Reihe nach: Also was macht jetzt Qualität aus?

  • Unabhängigkeit: Der der Qualität verpflichtete Journalist macht sein Ding, unbeeindruckt von kommerziellen, politischen und anderen Einflüssen. – Müssten dann nicht von allen ignorierte Blogger, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, der Inbegriff von Qualität sein? – Ok, es gibt ja noch gewisse Spielregeln, die die Branche diktiert…
  • Handwerk: Wenn wir die Regeln auch noch miteinbeziehen, dann müssten es ja handwerkliche Kriterien sein, die über Qualität bestimmen. Dazu gehören Recherchequalität, Ausgewogenheit, schreiberische und erzählerische Qualitäten – und eben alle Tricks, die man im Laufe eines Journalistenlebens lernt, mit denen sich eine Geschichte so hinbiegen lässt, wie man sie gerne haben möchte. – Das ist eine zweischneidige Sache: Handwerkliche Qualität sagt wenig über ideologische Qualität aus; eine handwerklich optimale Story muss ganz und gar nicht den Idealen eines ausgewogenen, unabhängigen und informierten Journalismus entsprechen (wobei: informiert wahrscheinlich schon – aber man muss ja nicht alle Informationen gleichermaßen weitergeben). Und: Um über handwerkliche Qualität reden zu können, müsste man sich mit Inhalten auseinandersetzen, unabhängig davon, woher sie kommen. Das verhindern oft schon der Standesdünkel und die schnell einstudierten neuen Reflexe („iiiiihhhh, Contentmarketing!“).
  • Anspruch: Man sollte etwas lernen können, wäre eine weitere denkbare Position. Anspruchsvoller Journalismus, der Zusammenhänge vermittelt und Erklärungen liefert und es vielleicht auch wagt, gegen die Erwartungen der Zielgruppe zu schreiben, hat einen starken Qualitätsanspruch – und ist zugleich reichweitenfeindlich, subjektivitätsgefährdet und oberlehreranfällig.
  • Exklusivität: Ja, diesen Punkt gibt es auch noch. Geschichten, die man sonst nirgends liest, können auch ein Zeichen von Qualität sein. Themen, die sonst niemand aufgreift, Positionen, die sonst niemand vertritt, oder Informationen, die sonst niemand verbreitet, können auch ein Zeichen von Qualität sein. Dabei treffen sich der Anspruchs-Anspruch und die handwerkliche Qualität – theoretisch. Wer die Exklusivitätsschiene am schnellsten und lautesten befährt, braucht wohl nicht erwähnt zu werden.

Die Liste lässt sich fortsetzen und ist natürlich nur eine Momentaufnahme. Diskussionen über die Medienzukunft strapazieren immer wieder den Qualitätsbegriff und koppeln sich stark an Einnahmenfragen und alternativen Finanzierungsformen. Um guten Journalismus machen zu können, brauche es eben Geld und Zeit. Das sind aber nur zwei von mehreren Einflussfaktoren.

Ich behaupte: Ein Medium alleine kann kein Qualitätsmedium sein. Dafür ist ein zeitgenössischer Qualitätsanspruch, der sich der Vielfalt an Perspektiven und Informationen stellt, zu hoch. Deshalb braucht es immer mehrere Quellen. Und deshalb ist jeder, der auf die Systemrelevanz seines Produkts oder seiner Gattung pocht, auf verlorenem Posten.

Und: Deshalb ist die wichtige Fragestellung auf der Suche nach zukünftigen Entwicklungen sicher nicht die nach print oder online

Shitstorm, est. 1877

Auch nicht schlecht: Die Meinungswut der Medienmachtmenschen kannte schon früh wenig Grenzen. Als bekannt wurde, dass Telefongespräche abhörbar sind, verstieg sich George Jones, damals Herausgeber der „New York Times“, 1877 zu einem blutrünstigen Leitartikel, der in folgender Passage gipfelte: „Eine Erfindung, deren Konsequenz die absolute Stille ist, kann gar nicht genug verdammt werden. Und während Gewalt immer abgelehnt werden sollte – sogar Gewalt zur Selbstverteidigung -, so besteht doch wenig Zweifel daran, dass der Tod der Erfinder und Hersteller des Telefons das notwendige Vertrauen wiederherstellen würde, das aus Sicht der Finanziers essentiell für eine lebendige Wirtschaft ist.“ – Fundstück aus „The European“

telefon

Liebe Crowd, ich habe ein Problem

[su_dropcap]D[/su_dropcap]as ist ein Outing: Liebe Crowd, ich habe ein Problem. Und zwar mit euch. Warum? – Die Krautreporter wurden stellvertretend für vieles bejubelt (nachdem sie auch selbst ordentlich geprügelt wurden). Sie haben Taschengeld gesammelt, um ein Medium zu starten. Ein wirklich vernünftiges. Mit guten Stories, guter Recherche und einer großen Portion Unabhängigkeit. Und zwar richtig viel Taschengeld.

crowd

Ich finde das gut, habe meine Mitgliedschaft bezahlt und bin mal gespannt auf das, was da kommt. Aber trotzdem stellt sich mir eine Frage: Was habt ihr vorher gemacht? Und was wird jetzt anders? Es geht bei dieser Frage nicht um die Krautreporter an sich und schon gar nicht um die Personen dahinter.
Nur: Wer bisher keine guten Stories machen konnte (obwohl er sie immer machen wollte) – inwiefern hilft dabei Taschengeld? Und wie genau unterscheidet sich Clickhunting von Content der den User interessiert (abgesehen davon, dass man vielleicht auf Slideshows verzichtet)? Und wenn die Inhalte die User wirklich interessieren, warum finden sie dann ihren Platz nicht in den „großen Medien“?
Nicht falsch verstehen: Erstens fällt mir auch wenig besseres ein. Zweitens halte auch ich viel von unzensuriertem Selfpublishing aller Art. Drittens habe ich schon oft in Crowdfunding-Projekte investiert. Und viertens wünsche ich mir auch Medien und Inhalte, die mich wirklich interessieren.
Aber ich glaube nicht daran, dass das kollektive „da fällt uns nichts ein“ der Verleger durch die Erweiterung des Kreises derjenigen, denen nichts einfällt, beseitigt werden kann. Ich halte den Versuch, Prinzipien zu verkaufen, nicht für besonders zielführend. Das ist jetzt nicht moralisch gemeint. Aber Unabhängigkeit oder Qualität sind toll für denjenigen, der unabhängig ist oder gern Qualität produziert, weniger für denjenigen, der die Unabhängigkeit anderer finanziert. Der Leser hat – sagt zumindest mein Bauchgefühl – zuwenig davon.
Anstelle von Prinzipien sind es immer noch Produkte, die verkauft werden können. Produkte sind Inhalt und ein Image, können eine Haltung rüberbringen und sind nützlich. – Weil sie sich an der Welt des Konsumenten orientieren, und nicht an der des Produzenten.
Noch mal: Ich hoffe auf viele tolle Stories, neue Erkenntnisse und neue Geschäftsmodelle und wünsche allen das beste. Aber ein bisschen kommt mir der Crowdjournalismus so vor, als würden Medienmacher jetzt das auf die Spitze treiben, wofür Hersteller von Konsumgütern schon lange gebashed werden: das Produkt auf den Produzenten ausrichten, und nicht auf den Konsumenten.

Klar bietet das, was ich hier gesagt habe, viele Angriffspunkte. Aber ich lass es trotzdem mal so stehen.

Souverän ist, wer über den Shitstorm verfügt

“Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.“ – Das ist keine Erkenntnis der letzten Wochen; der deutsche Philosoph Byung-Chul Han schrieb das vergangenes Jahr in Anlehnung an Carl Schmitts Sager „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt.“
Souverän ist also, wer die herrschende Ordnung mal kurz durchbrechen kann, sei es durch ein Machtwort von oben, das geltende Regeln ausser Kraft setzt und Spielraum für Handlungen und Entscheidungen (ohne die lästige Mitsprache aller) schafft, sei es durch den Umsturz einer Ordnung von unten.

Shitstorm

Der Shitstorm ist aber kein romantisches Revolutionsidyll. Es ist eine kurze, ins Leere gehende Aufregung, die nicht nur keine Entscheidungen herbeiführt, sondern meistens auch keine Fragen stellt. Auch das sind wir gewohnt: Wo jeder Medien technisch bedienen kann, kann jeder jederzeit mitreden; es könnte sich grundsätzlich jeder jede Information beschaffen (von ein paar zu schliessenden Lücken in der Informationsfreiheit abgesehen). Kommen wir deshalb zu besseren Entscheidungen? Nein; Transparenz überfordert erst einmal, eine Fülle von Informationen ist das beste Versteck für die entscheidenden, relevanten Informationen.
Davon profitieren – auf die Medienbranche reduziert – selbsternannte Meinungseliten, die leitartikelnderweise zu allem eine Meinung haben und diese durch den Hinweis auf Qualitätsinsignien ihres Arbeitsplatzes betonieren. Und, das ist der eigentliche Spass, anderen das Potential absprechen, es ihnen gleichzutun.

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass alle Meinungen gleich reflektiert und fundiert sind, und ich sehe im Shitstorm kein gestalterisches Potential (Han im übrigen auch nicht, falls der Eindruck entstanden sein sollte). Aber ich halte auch nichts davon, derlei mit organisatorischen Mitteln unterbinden zu wollen, schon gar nicht in einer scheinheiligen Aktion derjenigen, die in Form von Traffic auf ihren Seiten am meisten davon profitieren.
Neu ist das ja auch nicht: Anspruchslose kommerzielle Medien, deren Hauptzweck darin besteht, Klischees zu bestätigen – jeder schreibt für die Klischees seiner Klientel – verstärken das Wir-Gefühl, in dem jeder immer recht hat. Er oder sie muss sich nur die passende Umgebung für seine Meinung suchen.
Blöderweise werden die Grenzen dieser heimeligen Meinungsuniversen immer durchlässiger. Das müssen Leitartikler zur Kenntnis nehmen, Radiomoderatorinnen, die aus einer kuschelig-unreflektierten Unternehmenskultur heraus eine ganze Nation von Musikschaffenden verunglimpfen, Travestiekünstler, die das vermutlich schon immer wussten und auch ohne Netz und Popularität schon öfter erfahren haben, und eben Politikerinnen und Politiker, die vermeintliche Traditionen herausfordern.
Beachtlich ist ja, dass diese drei Shit-Tsunamis in drei gesellschaftlich völlig unterschiedlichen Ecken entstanden sind. Argumentationstechnisch am spannendsten ist dabei schon das Bundeshymnen-Drama: Schritt eins – jemand verstößt gegen ein Gesetz und äussert damit nebenbei auch eine Gesinnung. Schritt zwei – jemand erinnert ihn daran, appelliert an das Gesetz und fordert eine Stellungnahme ein. Schritt drei – unterschiedliche Unterstützerfronten formieren sich. Schritt vier – Es sind so viele unterschiedliche Fronten im Gespräch, dass sich Shitstormer mühelos aussuchen können, welches Argumentationsklischees sie sich bedienen möchten („Wir brauchen das nicht“, „Haben wir keine anderen Sorgen“, „Recht hat er“, „Das ist gegen die Tradition” etc., um jetzt nicht in die ganz tiefe Dreckskiste zu greifen). Dabei zeigt sich wie so oft: Am stärksten ist die Meinung, zu deren Argumentation es am wenigsten braucht. Je näher sie bei Reflexen, Traditionen oder einem vermeintlichen Mainstream angesiedelt ist, desto leichter fällt es offenbar, sich ihr anzuschliessen. Und desto schwieriger wird es, abweichende Argumente vorzubringen, die dann zwei Dinge zugleich leisten müssen: Sie müssen erst einmal klar machen, dass Reflexe und Traditionen hinterfragbar sind, und sie müssen klar machen, dass sie eigentlich nicht darüber reden wollen, sondern über einen anderen – eigenen – Standpunkt. – In der Zwischenzeit gehen sich hier schon wieder ein paar tausend Rülpspostings aus.

Wer sind dann die eigentlichen Profiteure dieses Affentheaters? Ich gehe ja mal davon aus, dass niemand wirklich alle Kommentare liest. Man browst ein bisschen, gruselt sich, und wendet sich dann wieder anderen Themen zu.
Profiteure sind diejenigen, die diesen abstrakten Meinungswust für ihre Zwecke instrumentalisieren können. Sei es, indem sie sich bestätigt sehen und hier eine Welle der Unterstützung für sich reklamieren können – hinterfragen müsste man dabei, wer von wem unterstützt werden will, aber das setzt schon wieder zu viel Reflexion hinaus. Sei es, indem sich andere in ihrer Meinung bestätigt sehen, dass die Meinung anderer, die nicht den sanktionierten Meinungseliten angehören, wertlos ist. Oder sei es, indem die eigentlich Betroffenen das Kapital daraus ziehen, ein relevantes und umstrittenes Thema für sich verbucht zu haben.
Wer jedenfalls nicht davon profitiert, sind die Shitstürmer selbst. Vielleicht verschafft es manchen kurze Befriedigung, mal deutlich die Meinung gesagt zu haben. Die geht aber so diffus unter, dass nichts bleibt.

Souverän ist, wer den Shitstorm beherrscht. nachdem der Shitstorm nichts anderes ist, als eine flexibel verwendbare Projektionsfläche, hat sich damit an den Machtfragen noch nicht viel geändert. Deutungsmacht hat nicht der, der stürmt, sondern der, dem zugehört wird, wenn er über den Shitstorm redet. Und dabei laufen wir ja noch immer ganz in den eigenen Bahnen.
Wer an der Gehässigkeit von Shitstorms etwas ändern möchte, muss wohl etwas tiefer ansetzen als bei der Gestaltung von Registrierungsformularen für Postingseiten aller Art. Am besten, vor allem wenn er oder sie in der Kommunikationsbranche zuhause ist, an seiner eigenen Arbeit. Und Haltung. – Sind Reflexe und Instinkte willkommenes Kapital, das wir uns immer wieder neu zunutze machen können, indem wir die entsprechenden Klischees bedienen? Oder sollten wir uns mit der Idee anfreunden, dass wir mit der Aufklärung und dem Plan, Vernunft in der Welt zu haben, noch nicht so weit sind, wie wir es gern hätten – nicht zuletzt deshalb, weil es bequemer und lukrativer ist…

 

gabaliergate

Halb so schlimm? Tagcloud aus den Postings 10.000 – 16.000 zum Heinisch-Hosek-Post, bereinigt um Füllwörter (der, die das, und) und Facebook-Funktionen („Like“, „posted … hours ago“ etc.) und durch kreative Rechtschreibung etwas verunreinigt. – In der Menge relativiert sich auch der Hass und wird wieder leichter instrumentalisierter, als wäre es ein normales gesundes Volksempfinden, das hier spricht. Was auch immer das sein soll.

11 Dinge über die Stadt nach 12 Jahren auf dem Land

Über Fahrradschlösser, Ampeln, Wartezeiten und den Himmel und ein paar andere Dinge…

#1 Strafen

Friedhof

Ok, der Platz ist enger, jede Handlung wirkt sich direkter aus, es ist mehr Aufsichtspersonal aller Arten unterwegs und man begegnet diesem öfter. Egal ob Parkplatzwächter, U-Bahn-Kontrollore oder Polizei. Schon in den ersten Wochen habe ich eine imposante Menge an Strafen für überschrittene Parkdauer, falsch ausgefüllte Parkscheine, am Monatsdritten abgelaufene Vormonats-Monatskarten in den Öffentlichen oder auf den Gehsteig übergreifende Autoreifen (es war kein Gehsteig – zumindest keiner mit Gehsteigkante) gesammelt.
Foucault lässt grüßen, denke ich mir halt, und zahl das alles.

#2 Dreck

Dirt

Nein, dabei geht es nicht um Hundstrümmerl. Im Gegenteil – Hunde in der Stadt sind immer noch ein Zeichen von Freiheit. Sie sind ein Gradmesser dafür, wieviel Freiraum eine Stadt noch bietet, wieviel Freizeit die Menschen sich noch nehmen können, und ob es noch gefahrlos nutzbare Flächen gibt.
Dreck sehe ich eher in am Samstag- oder Sonntagmorgen vollgekotzten Strassenbahnhaltestellen, überquellenden Mistkübeln, improvisierten Mistabladeflächen in Parks, und eben dem kollektiven Strassendreck.
Auf dem Land begegnen dir ein bisschen Staub und ein bisschen Erde, gern auch größere Gatschmengen, aber du kennst die Geschichte des Drecks. Anonymisierter Stadtdreck, egal ob an den Schuhen, am Fahrrad, an den Händen, ist etwas, das du wirklich nicht haben willst. Auch daran gewöhnt man sich.

#3 Menschen

Kebap

Sie stehen auf Rolltreppen, drängeln an Kreuzungen, fotografieren in der Innenstadt oder beim Hundertwasserhaus und sind einfach da. Grundsätzlich etwas nettes. Ich höre von überfüllten Plätzen, die man meiden sollte, von lästigen Sehen- und Gesehen-Werden-Locations, von Beobachtungen und der Tendenz, die Stadt zum Dorf zurückzuentwickeln.
Sozialer Stress ist etwas, das ich noch nie empfunden habe – nach zwölf Jahren an einer dünn besiedelten Strassenkreuzung mitten in Feldern umso weniger. Jetzt höre ich wieder davon, wundere ich mich ein wenig, und fange doch auch manchmal an, mich manchmal von Bobo-, Hipster-, oder was auch immer-Horden belästigt zu fühlen, die Donaukanal oder Naschmarkt bevölkern und einander von mehr oder weniger spannenden Erlebnissen auf dem Weg zur Steuerberater- oder Wirtschaftsprüfer-Karriere erzählen. Kinder, denk ich mir dann manchmal, wenn ihr eh nur Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer werden wollt, dann macht das doch einfach, redet nicht so viel drüber und lasst mich hier in Ruhe in der Sonne sitzen.

#4 Wochenenden

Board

Das führt gleich zum nächsten Punkt. Wochenenden in der Stadt sind eine Fehlkonstruktion. Unter der Woche friedliche Plätze werden an Wochenenden zu hoffnungslos overcrowdeten Hotspots. Die naive Annahme, an Wochenenden auch das tun zu können, was unter der Woche angenehm ist, erweist sich schnell als Irrtum. Das kollektive „Wir sollten/wollen und können nicht“ äussert sich in überfüllten Terrassen, Wiesen und Donaustränden, an denen jene, die raus wollen, aber sich nicht zu weit bewegen wollen, ihr Glück suchen.
Einfach mal nichts tun oder das tun, was anliegt, fällt in den eigenen vier Wänden oder Zäunen schon deutlich leichter, wenn diese größer gesteckt sind. Und wer gewohnt war, schnell mal allein in den Urwald am nächsten Fluss abzutauchen und dort das Mountainbike oder das Paddelboard auszupacken, tut sich ein bisschen schwer damit, wenn die gleichen Aktivitäten, nur weil sie jetzt auf einem Parkplatz stattfinden, erstaunte Blicke auf sich ziehen. Nein Leute, es hat nicht mit Gesehenwerden zu tun, wenn ich in Boardshorts vor euch rumlaufe. Ich will einfach nur aufs Wasser. Und ihr seid mir dabei herzlich egal.

#5 Raunzen

Raunzen

Und noch ein Punkt aus der gleichen Ecke. Ich bin zur Zeit öfter mal allein unterwegs. Was dabei am meisten auffällt: Wie sehr die Leute, die das nicht sind, einander anraunzen. Nein, damit ist nicht das angeblich typisch wienerische Raunzen gemeint, sondern die schlicht generell weit verbreitete Raunzerei, die dir wahrscheinlich gar nicht mehr wirklich auffällt, wenn du nicht wieder eine Zeit allein warst. Frauen raunzen ihre Männer an, die dann relativ schnell innerlich explodieren, was sich in einem expressiven Grunzen äussert, bis sie dann ebenfalls zu raunzen anfangen, Eltern raunzen ihre Kinder an, Hundebesitzer (oder ebenfalls Eltern) raunzen einander über abwesende Dritte oder globale Mysterien an – und wenn du dir vielleicht vor ein paar Minuten noch gedacht hast, es wäre durchaus ok, jetzt auch nicht allein unterwegs zu sein, lernst du sehr schnell wieder bescheidene Zufriedenheit. Hat was durchaus therapeutisches.

#6 Outdoor Offices

Office3er

Aber bevor ich selber ins Raunzen kippe: Outdoor Offices im Frühling sind etwas Großartiges. Als noch nicht sesshafter Neugründer mit Laptop, Smartphone und Notizbuch unterwegs zu sein, ausreichende Wlan-Dichte in Terrassen und Gastgärten zu finden und die Zeit zwischen Terminen zugleich produktiv und angenehm nutzen zu können, ist einer der wirklich großartigen Vorteile von Städten wie Wien. Ja, ich kann dabei wirklich arbeiten; der Ablenkungs- und Lärmpegel ist nichts im Vergleich zu den Vorteilen, die der Wegfall von Festnetztelefonen, Großraumbüros und der ständigen direkten Verfügbarkeit für andere bringt.
Und die Chance, dem Arbeitstag dank Freunden, die kurz (oder länger) vorbeikommen, einen fliessenden Übergang in den Abend zu verpassen, entschädigt für den Wochendstress. An Wochenenden kann man schliesslich auch zuhause arbeiten. Oder einfach rausfahren.

#7 Mobilität

Bikes

Städte sind viel besser für die Mobilität, sagt man. Nur: Menschen in den Stadt bewegen sich kaum. Während der durchschnittliche Aktionsradius des Pendlers wohl bei 50 Kilometern (one way) liegt, habe ich manchmal den Eindruck, der des Städters liegt bei eher 50 Metern, den täglichen Weg ins Büro vielleicht ausgenommen. „Schon weit draussen“, heisst es, wenn eine Strecke ein paar U-Bahn-Stationen weit ist, und Stadtbewohner kennen ihre Stadt meist weniger, als die, die ihr täglich als zu durchquerendes Hindernis begegnen.
Es ist ja nicht notwendig, lautet das Gegenargument, und ausserdem ökologisch wertvoller. Stimmt. Aber auch eine Frage des Horizonts. Demonstrative Weltläufigkeit bleibt farblos, wenn sie zwar den Flughafen von Dubai, die Fussgängerzonen von Singapur oder den Strand von Los Angeles einschliesst, aber Simmering, Donaustadt oder den Praterstern ausschliesst.
Und die fehlende Mobilität führt dann auch wieder zu den Wochenend-Zusammenrottungen. Siehe oben.

#8 Warten

Gasse

Warten ist auch eine Qualität, die dem Landmenschen abhanden kommt. Draussen packst du deine Sachen, machst dich auf den Weg, und es hält dich praktisch nichts auf. In der Stadt sind es Ampeln, öffentliche Verkehrsmittel, Schlangen vor Supermarktkassen und sogar überfüllte Postämter, die den täglichen Flow sehr unvermittelt bremsen. Die ersten Wochen war das sehr überraschend und gewöhnungsbedürftig, danach tritt das wieder in den Hintergrund, wahrscheinlich auch des schleichend abnehmenden Aktionsradius wegen.
Schnell ist in der Stadt entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil aber erst mal gar nichts. Und das hat denke ich erst mal gar nichts mit Wien zu tun.

#9 Fahrräder

Fisch

Kaum ein Ding funktioniert in beiden Umgebungen – Stadt und Land – so gleich und ändert sich dennoch vollkommen. Ein Wald und Wiesen gewöhntes Bike auf Fahrradwegen zu bewegen, ist fast so, wie einen alten Hund vom Garten in die Stadt zu übersiedeln. Wirkt unangebracht, passt nicht wirklich – und du hast auch immer das Gefühl, du würdest etwas falsch machen. Machst du auch: Fahrradschlösser sind in der Stadt etwas sehr praktisches, stellst du gleich beim ersten Mal fest. (Und ja, ich hab das Fahrrad noch…)

#10 Kultur

Garage

Ja, wahrscheinlich sollte ich jetzt auch etwas über Kultur sagen. Städte werden als kulturelle Zentren betrachtet. Ich halte das aber nur für ökonomischen Zufall: Hier begegnen einander mehr Menschen auf engerem Raum, und es ist leichter, Publikum zu finden. Und es ist leichter, sich auf anderes zu konzentrieren, wenn das Leben weniger banale Anforderungen stellt, wie auf den Terminplan der Müllabfuhr zu achten, den Gehsteig sauber zu halten oder nach jedem gröberen Sturm den Dachdecker anzurufen.
Das Problem an Kultur ist nur, dass sie meistens etwas bewahrendes hat. Das macht sie umso langweiliger, je größer sie ist.

#11 Himmel

Himmel

Tagsüber ist das ja ok. Es gibt genug Plätze für den Blick ins Freie; Donau, Kanal und diverse Aussichten. Was aber wirklich fehlt, ist nachts die große Finsternis. Alle paar Meter irgendwo Laternen, eine Lichtglocke über der Stadt  – und kein Blick ins Schwarz, kaum Sterne, und kaum Gelegenheit, einfach mal ruhig stehen zu bleiben und zu warten, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben und die Sterne klar und hell leuchten.

Das Kapital, die Unternehmensgröße und das lebenslange Lernen

Das Problem am Kapital, so einfach können wir das meiner Meinung nach durchaus sehen, ist meistens, dass wir es einfach nicht haben. Diese Tatsache als Problem zu sehen, muss nicht zwangsläufig mit Neid zu tun haben (das ist ein vereinfachender Reflex, der einen an sich neutralen Zustand negativ klassifiziert und damit denjenigen, der ihn beschreibt, in die Defensive drängt). Es beschreibt eher Möglichkeiten oder fehlende Möglichkeiten, und die müssen nicht immer mit anderen zu tun haben: Das Problem ist nicht, dass andere es haben, sondern dass es jetzt nicht hier ist.

CapitalismAthen
Aber der Reihe nach:

Das setzt gewisse Grundkenntnisse in Wirtschaft und Mathematik voraus, es sei denn, man vertraut blind seinem Finanzberater, aber das ist schon lange vor der Finanzkrise weder Al Capone noch Rocky wirklich gut bekommen.

Kapital ist etwas sehr praktisches, das auf unterschiedlichste Arten eingesetzt werden kann. Wir können es ausgeben, anlegen, spenden, praktisch investieren – und es macht vieles leichter. Eine der Voraussetzungen dafür ist, dass wir damit umgehen können. Das setzt gewisse Grundkenntnisse in Wirtschaft und Mathematik voraus, es sei denn, man vertraut blind seinem Finanzberater, aber das ist schon lange vor der Finanzkrise weder Al Capone noch Rocky wirklich gut bekommen. Es schafft Freiräume, die aber an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. Gesetze, Steuern und Märkte geben vor, wie wir uns mit unseren Mitteln bewegen können. Abgesehen davon, dass manche eben von Haus aus mehr haben, geht es allen dabei gleich.
Über die Frage, ob und wie diese Gleichheit perfektioniert werden kann, sind sich jetzt Marx und Bakunin in die Haare gekommen. Marx setzt auf Aufklärung, Schulungen und Kollektivismus, Bakunin auf radikale Freiheit, die keine Einschränkungen duldet. Der Einzelne soll keine Regeln dulden, nichts, das die persönliche Freiheit auch nur annähernd einschränkt, ist zu akzeptieren. Und er soll auch nicht erzogen oder gebildet werden – wenn es nicht aus eigenem Antrieb passiert.
Freiheit macht einsam. Wer nur nach seinen eigenen Regeln lebt, ist vielleicht ein charismatischer Glücksfall, der Anhänger um sich schart, ohne deren Freiheit gezielt einzuschränken. Gemeinsamkeit hat aber immer auch mit einem gewissen Mass an Regeln zu tun, und seien es nur so flexibel definierbare Werte wie Vertrauen. Vertrauen setzt, wenn es auf Freiheit beruht, Nachvollziehbarkeit voraus – ich glaube zu wissen, was ich vom anderen erwarten kann, weil er sich (zumindest in der Beziehung zu mir) konsistent verhält. Andere Formen des Vertrauens beruhen auf Macht und Unterdrückung: Die romantischen Vertragsphantasien zur Konstituierung menschlicher Gesellschaften verschleiern das sehr schön. Während Hobbes den Vertrag noch als Gegenmittel gegen beidseitige Bedrohung und Brutalität darstellt, ist Rousseau, auch wenn er oft als Urvater von natürlicher Romantik gesehen wird, der Gottvater der modernen Sklaventreiber. Wir geben ein Stück Freiheit auf, um bequemer zu leben – und ordnen uns damit dem Staat und der Religion unter. Sein Kumpel Voltaire meinte schliesslich auch: “Wenn es Gott nicht gäbe, dann müsste man ihn erfinden.” – Klar, so ein praktisches Ordnungsprinzip gibt es sonst nicht oft so billig.
Diese Art von Vertrauen braucht nur der Schwächere, der auf irgendeine Regelung angewiesen ist, die seine Existenz sichert. Der Vertragsgedanke, so demokratisch er sich auch gibt, setzt Ungleichheit als selbstverständlich voraus. Ungleichheit bedeutet dabei weitgehend Unfähigkeit – für sich selbst zu sorgen, eigene Interessen zu vertreten, oder sich durchzusetzen. Praktisch gibt es diese Unfähigkeit. Aber sie vorauszusetzen, ist infam.

Der Experte, der dem Anarchisten nach gründlicher Prüfung am glaubwürdigsten erscheint, hat Autorität. Und nur der: Autorität aus anderen Gründen zieht für Bakunin nicht.

So weit kann man mit Bakunin gehen. Aber was macht der freie Mensch? Wirtschaftlich gesehen kann auch der freieste Mensch nicht allein leben. Nach welchen Regeln organisiert sich dann das Zusammenleben freier Menschen? Auf den ersten Blick mag es verwundern: Bakunin als Galionsfigur der Anarchie hat kein Problem mit Autorität. Sein Autoritätskonzept ist praktisch orientiert und immer auf ein Fachgebiet bezogen: Die Autorität eines Experten (z.B. eines Handwerkers) ist unumstritten, gilt aber nur auf dessen Gebiet, und muss sich im Vergleich mit anderen Experten behaupten. Der Experte, der dem Anarchisten nach gründlicher Prüfung am glaubwürdigsten erscheint, hat Autorität. Und nur der: Autorität aus anderen Gründen zieht für Bakunin nicht.
Das bedeutet, dass Wissen wichtig ist. Wissen hat paradoxerweise mit Regeln zu tun, damit, Gesetzmässigkeiten erkennen zu können und auf Grund dessen (vergangene) Zusammenhänge erklären oder zukünftige Abläufe planen zu können. – Regeln, die der Anarchist eigentlich nicht haben möchte. Alle Regeln zu ignorieren, ist aber grundsätzlich erst einmal dumm. Das hat zwei Gründe: Gegen manche Regeln lässt sich wenig einwenden – einfache Naturgesetze scheinen wirklich so zu sein, wie sie sind. Zweitens: Regeln zu kennen, bedeutet noch lange nicht, sie zu akzeptieren; Wissen liefert oft einmal auch die Basis, auf der gegen Regeln gearbeitet werden kann. Regeln, die sich nicht klar oder nur metaphysisch argumentieren lassen, sind davon ausgenommen. Im Gegenteil: Sie bringen das für ihre Ablehnung notwendige Werkzeug bereits mit. „Wann immer ein Führer von Gott spricht (…), seid sicher, dass er gleich dazu ansetzt, einmal mehr seine Volksherde zu scheren.“

Nicht jeder, der auf eigene Rechnung arbeitet, verfolgt ein großes Ideal von Freiheit.

Wozu dieser Anarchie-Exkurs? Mit nur wenig gutem Willen lässt sich auch in Bakunin lesen, dass Freiheit nicht notwendigerweise mit Einsamkeit und Ignoranz gleichzusetzen ist. Es geht vielmehr um einen Zugang zur Welt auf eigene Rechnung.
Und damit kommen wir zu den Tagelöhnern. Nicht jeder, der auf eigene Rechnung arbeitet, verfolgt ein großes Ideal von Freiheit; nicht jeder ist davon überzeugt, die absolut einmalige Geschäftsidee zu haben oder das unnachahmliche Dienstleistungsportfolio zu bieten. Nicht jeder macht das, weil er keinen anderen Job findet oder zu wenig erfolgreich ist, um sein Unternehmen auszubauen.
Sowohl hochspezialsierte als auch generalistisch aufgestellte Unternehmen (also eben alle, die kein klassischer Handwerksbetrieb sind oder keine Miniatur-Me-too-Kopie handelsüblicher Dienstleister oder Agenturen) spiegeln einen ganz anderen Trend wider: Wir brauchen immer weniger handelsübliche Unternehmen – zumindest dann, wenn wir unsere Interessen verfolgen und sie, in einer Kombination die eben gerade Sinn macht, auf dem Markt anbieten wollen.

Selbst wenn ich mir heute zwei Mitarbeiter suchen könnte – ich wüsste nicht, wofür mich mich entscheiden sollte.

Agilität und Flexibilität sind die üblichen Zauberworte. Selbst wenn ich mir heute zwei Mitarbeiter suchen könnte – ich wüsste nicht, wofür mich mich entscheiden sollte. Die Job Description wäre vermutlich so etwas wie „Universal Warrior“ (und auch der ist unlängst unter nicht ganz geklärten Umständen ums Leben gekommen): Im einen Monat wären journalistische Kompetenzen gefragt, im nächsten Filmproduktions-Skills, zugleich wahrscheinlich Programmier-Knowhow, und es sollten sich selbst antreibende Nerds sein, die gerne selbst Hand anlegen, Projektmanagement nicht nur als Schlagwort kennen, aber auch mit Kunden gut können, strategische Perspektiven verstehen, unternehmerisch denken und sich trotzdem sagen lassen, was zu tun ist.  Dabei mache ich eigentlich immer das gleiche: Medienkonzepte in unterschiedlichen Größenordnungen, Medienformaten und Zielgruppenszenarien entwickeln und umsetzen.
Ich würde jetzt glatt darüber nachdenken, ob ich zu hohe Ansprüche hätte, wenn nicht die Stellenanzeigen etablierter Unternehmen noch mehr von potentiellen Bewerbern verlangen würden; rein anhand der Jobdescription lässt sich ja heute nur noch selten sagen, ob das ein 7000- oder ein 1.500-€-Job ist, ob einer für interessierte Absolventen oder für erfahrene Spezialisten. (Randbemerkung: Besonders gern habe ich die Management- oder Leitungsjobs, von denen „als Teil unseres Teams“ Teamgeist erwartet wird.)

Nach drei bis fünf Jahren im Unternehmen gehörst du zum schwer vermittelbaren alten Eisen, egal ob du Birkenstockschlapfen trägst und mit Kollegen in der Kaffeeküche quatschst, oder ob du mit der Magnumflasche in der Hand auf der Dachterrasse feierst.

Deshalb gehe ich lieber das Risiko ein, Teams für neue Projekte immer wieder neu zusammenzustellen (zum Glück gibts ja so viele Single-Unternehmer…) und mit den Leuten zu arbeiten, die mir im Moment gerade eben am besten geeignet erscheinen. Und dabei erwarte ich mir dann auch von jedem, dass er sein eigener Experte ist, seine Autorität einsetzt und innerhalb des vorgegebenen Rahmens (Budget, Deadline, Zielsetzung) den Job als sein eigenes Projekt betrachtet.
Und manchmal ist das umgekehrt. Manchmal bin ich eben Tagelöhner, und manchmal erpresserisches Kapitalistenschwein. Relativ einfach; und ich habe keine Identitätsprobleme dabei.
Noch funktionieren Organisationen. Die wenigsten in unserer Breitengraden haben allerdings eine Größe erreicht, in der Spezialistenjobs auf Dauer interessant bleiben. Deutlich wird das in Kommunikations- oder Kreationsjobs, weniger deutlich vielleicht in Forschungs- und Entwicklungsjobs; Menschen, die sich in reinen Dienstleistungs- oder Abwicklungsjobs wohlfühlen, stellen sich diese Frage vielleicht gar nicht. Nach kurzen in Projektform organisierten Phasen der Abwechslung tritt Business as usual ein. Wer sehr formal karriereorientiert ist, tröstet sich dann mit dem Management der nächsten Abteilung, von der er fachlich keine Ahnung hat (Hauptsache, die Mitarbeiterzahl ist größer), wer sich und seinen Kenntnissen und Fähigkeiten offen gegenübersteht, stellt fest: Nach drei bis fünf Jahren im Unternehmen gehörst du zum schwer vermittelbaren alten Eisen, egal ob du Birkenstockschlapfen trägst und mit Kollegen in der Kaffeeküche quatschst, oder ob du mit der Magnumflasche in der Hand auf der Dachterrasse feierst. Ausserhalb der geschützten Werkstatt zählt dein Knowhow nichts mehr.

Wenn wir kurz die Seiten wechseln: Was heisst das für den nicht alleinstehenden Unternehmer? Erstens – deine Mitarbeiter wollen sich nichts von dir sagen lassen. Zweitens – du hast (hoffentlich) keine Ahnung, was sie genau machen und wie sie das tun, sonst bräuchtest du sie nicht. Und drittens: Auch mit Mitarbeitern solltest du keine geschlossenen Werkstätten bauen, sondern Netzwerke bilden, Perspektiven suchen und vor allem auch bieten.
Und als Mitarbeiter? Die Entscheidung für einen Job bedeutet heute vor allem auch die Auseinandersetzung mit der Frage, welches Mass an Abhängigkeit und Verantwortung jedem persönlich wichtig ist. Unternehmen treffen Entscheidungen, fordern und schlagen Wege ein – und dabei heisst es mitmachen, wenn die Voraussetzungen nicht grundlegend geschaffen sind. Deshalb ist es keine Frage eines Generationenkonflikts oder eines vagen Freiheitsdrangs, wie Arbeitsorganisationen heute aussehen sollen, es ist eine ganz nüchterne Frage des Realitätssinns.
Aus Unternehmersicht: Biete ich etwas, das Leuten auch nur irgendeinen Grund liefert, für mich zu arbeiten?
Und aus Mitarbeitersicht: Mache ich etwas, von dem ich in zwei Jahren und unter anderen Umständen auch noch leben kann?

Der Unterschied liegt nicht in der Freiheit. Sondern der Unterschied liegt, um nur einen Punkt herauszugreifen,  im Bewusstsein, Organisationskram um des eigenen Überlebens willen zu erledigen – und nicht um demjenigen, der eigentlich an meiner Arbeit verdient, das Budget für einen Teilzeit-Assistenzposten zu ersparen. Und was hat das mit Kapital zu tun? Eigentlich nichts. Es macht keinen Unterschied, wenn das eigentliche Ziel ist, die Wellen plätschern hören zu können – das geht von der Yacht aus, oder auch auf dem Ruderboot. 
Kapital wird dann ein wichtiger Unterschied wenn es nicht mehr selbst arbeitet, sondern Menschen und Ideen besser arbeiten lässt. 

Und noch ein Disclaimer: Ich weiss, die Überlegungen treffen nicht auf alle Branchen und auch nicht auf alle Menschen zu. Für manche wird es immer wichtig bleiben, in klar strukturierten Umgebungen klar strukturierte  Tasks abzuarbeiten. Dafür sind Unternehmen da, und das zu bieten ist eine der Hauptaufgaben großer Unternehmen. Was meiner Meinung nach dann auch viel über deren Zukunft voraussagt. 

Jö, Meinungswut!

Herrlich: Eine Gruppe von Herausgebern und PR-Bossen, die selbstverständlich noch nie mit den Instinkten ihrer Leser und Zielgruppen gearbeitet haben, immer nur mit deren Intellekt, grämt sich jetzt und ersucht ihre Leser und Zielgruppen, doch bitte die Instinkte zu Hause zu lassen.
Es ist schon viel Schlaues dazu gesagt worden; ich fühle mich gleich ganz unanonym bemüssigt meinen notorisch schlechten Musikgeschmack (sorry, L.) zu outen: „I have a constant fear that someone’s always near…“, sagt der man who walks alone in Iron Maidens „Fear of the Dark“ und klingt dabei ähnlich lustig heroisch.

Ist so, kann ich nur sagen, da draussen ist immer wer, der etwas sagen wird. Aber kein Grund, Angst zu haben. Wer über den Kommentarspam auf den eigenen Nachrichtenseiten hinaus sieht, wird auch in diesem Internet Freunde finden, die nicht nur anonym trollen. Wobei, wenn’s mir nicht zu mühsam wäre, würde ich jetzt glatt mein FB-Profil anonymisieren.

Und um kurz mal wieder ernst zu werden: Eine Meinung hat hoffentlich jeder selbst. Und wenn (noch) nicht, dann findet er oder sie hoffentlich ausreichend Informationen (und nicht Meinungen) in eben den erwähnten intellektuell hervorstechenden Medien, um sich eine bilden zu können.
Und ich empfehle einen Blick in den Medienfokus 2 des Forum für Journalismus und Medien, vor allem Punkt 4, “Organisation und Umsetzung”: Ein Viertel der befragten Medien (und das ist die größte Gruppe) beschäftigt exakt 0 Community-, Social Media- oder User Engagement Manager.