Wertschöpfung vom Mittelpunkt des Universums

Ich finde diese Studie der Wien Holding sehr inspirierend. Wertschöpfungsrechnung anstelle von Bilanzen oder Steuerleistung – da mache ich mir auch gleich Gedanken über die Wertschöpfung meiner Unternehmen. Schliesslich ist ja wohl nicht zuletzt Apple deshalb so ein hippes Unternehmen, weil ich durch die Nutzung meines Macbooks und iPhones immens zur Wertsteigerung in Cupertino beitrage. Und in China.
Die Wien Holding rechnet vor, was sie ausgibt und investiert, was ihre Lieferanten ausgeben und was das wieder an Folgeausgaben nach sich zieht. Interessanter Ansatz, zu dem man wahrscheinlich auch Galileo befragen müsste; der hat sich ja auch einige Gedanken über den Mittelpunkt des Universums gemacht.
Ich gebe knapp die Hälfte meines Umsatzes für Partner und Lieferanten aus, die Hälfte vom verbleibenden Gewinn dann noch mal für Steuern und Abgaben. Aber das allein als Beitrag zur Wirtschaftsleistung zu rechnen, wäre natürlich viel zu kurz gegriffen:
  • Ich sichere Arbeitsplätze bei meinen Kunden – was würden die Projektverantwortlichen dort denn sonst machen, als sich mit mir zu beschäftigen?
  • Durch die Nutzung des Internet leiste ich einen wesentlichen Beitrag zu digitaler Forschung, Innovation und Produktentwicklung – ohne mich würden die das alles nicht machen.
  • Es wäre auch viel zu kurz gegriffen, nur direkt bezahlte Lieferanten einzurechnen – wenn wir auf Papier produzieren, vergesst die Papierindustrie und Forstwirtschaft nicht, und natürlich die Post als Zusteller und die MA48 als Entsorger. – Wien Holding, heisst das, ich erhalte euch?
  • Ganz wesentlich sind dann noch die Kaffee- und manchmal leider auch Zigarettenressourcen, die während einer intensiven Produktionsphase verbraucht werden. Damit dehnt sich mein wirtschaftliches Netzwerk bis nach Kolumbien, Brasilien, Sumatra und Texas aus. Ich muss mal nach Kickbacks fragen.
  • Die gesamte Publishing- und Content Management-Software-Industrie wäre ohne meine Investitionen natürlich auch nicht lebensfähig.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Das einzige was mich bei diesem Sprint zur Weltherrschaft ein bisschen stutzig macht: Könnte das nicht jeder von sich behaupten? Aber das gilt für die Ergebnisse der „Studie“ der Wien Holding auch.

Tokio – Stadt ohne Mistkübel

Mein Bild von Tokio stammte ja ehrlich gesagt eher aus Filmen wie Tetsuo oder Ichi the Killer. Nach einer Woche etwas über eine Stadt zu sagen, ist genauso anmaßend. Tu ich auch nicht. Ich erzähl nur von ein paar Dingen, die mit auf 120 Kilometern zu Fuß kreuz und quer durch die Straßen Tokios aufgefallen sind (und mit der U-Bahn sind sicher noch fünf Mal so viele Kilometer dazugekommen).

Müll

„Please take your garbage home with you“, heißt es auf Schildern in vielen Parks. Anfangs habe ich das für eine nicht ganz gelungene Übersetzung der Aufforderung, Müll in Mistkübel zu werfen, gehalten. Es dürfte aber wörtlich gemeint sein – denn Mistkübel gibt es in Tokio praktisch nicht. Manche Seven Elevens oder Family Marts machen da mit kleinen Mistkübelbatterien (getrennt nach Plastik, Metall, Papier und Rest) eine Ausnahme, aber sonst ist weit und breit nichts in Sicht. Auch die Idee mit U-Bahn-Klos musste ich wieder aufgeben: U-Bahn-Klos gibt es zwar fast überall, aber immer ohne Papierhandtücher (nur mit Warmluftgebläsen), und damit auch ohne Mistkübel.
Sauber ist die Stadt trotzdem. Und in den Ausgehvierteln stehen manchmal kleine Müllsacksammlungen verschämt am Straßenrand vor den Lokalen, verschwinden aber schnell wieder.

Stadt der Helme und Laserschwerter

Japanische Bauarbeiter tragen Helme. Immer, überall und ausnahmslos. Auch wenn sie im Freien Farbe von der Wand kratzen (dabei fällt nichts Schweres hinunter) oder im Freien auf dem Boden arbeiten (wenn gar nichts über ihnen ist).
Und vor jeder Baustelle, die einen Gehsteig berührt, auch wenn sie gar nicht im Weg ist, steht ein Aufseher mit weißen Handschuhen und rotem Laserschwert, der Passanten den Weg an der Baustelle vorbei weist. Und auch trägt Helm. Auch nach Feierabend, wenn die Baustelle gar nicht mehr in Betrieb ist.

Stadt der Verbote

Manchmal sind es freundliche Bitten („Please don’t rush“ auf den U-Bahn-Gleisen), sachdienliche Hinweise („The doors will close soon after the music stops“ in der U-Bahn), manchmal strikte Ansagen. Vor allem in Parks und an öffentlichen Plätzen sind die Verbotslisten oft lang – allerdings sind es dann gar nicht so dramatische Verbote. Man schätzt offenbar Klarheit. So sind etwa Hunde-Kackverbote oft dreifach ausgeführt: Kein großes Geschäft (gar nicht), kein kleines Geschäft (in Wiesen und Blumenbeeten) und wenn’s passiert, dann wegräumen.
Rauchverbote sind ein eigenes Kapitel.
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Öffentlicher Raum

Anders als es viele Klischees vermitteln, gibt es erstaunlich viel Platz und Grün. Parks sind öffentlich, die vielen Verbotsschilder regeln klar, wo und in welchen man auf die Wiese darf und was man dort tun und lassen kann. Die Ufer der vielen Flüsse und Kanäle, die die Stadt durchziehen, sind großteils ausgebaut und grün.
Und Tokio ist eine Stadt für Fußgänger – wo eine Straße ist, kann man auch gehen (anders als in vielen amerikanischen Städten). Praktisch alle Brücken haben eigene Geh- und Radwege, und auch entlang sechsspuriger dreistöckiger Straßen, über die noch zwei Bahntrassen führen, gibt es Gehwege und Fußgängerampeln.

Rush Hour – Stadt ohne Staus?

Dicht gedrängte Straßen und überfüllte U-Bahnen sind großteils Legende. Die U6 kann, was das Gedränge betrifft, durchaus mithalten, und die Shibuya-Kreuzung, die als berühmteste Diagonal-Kreuzung der Welt pro Ampelphase von angeblich bis zu 15.000 Menschen überquert wird, wirkt auch kaum voller als die Mariahilferstraße am Samstag nachmittag.
Was noch auffällt: Das Tempo ist erstaunlich langsam – sowohl in der U-Bahn als auch auf den Straßen. Wenn man es eilig hat, steht einem immer irgendwer im Weg …
Und Stau habe ich in einer ganzen Woche zu keiner Tages- oder Nachtzeit gesehen, keinen einzigen.

Stadt ohne Gastgärten

Outdoor ist nicht. Auch in den belebtesten Ausgehvierteln hat vielleicht jedes zehnte Lokal ein oder zwei Barhocker vor der Tür stehen, noch einmal jedes zehnte hat zumindest die Tür offen. Der Rest findet klimatisiert hinter verschlossenen automatischen Türen statt.
Die häufigsten Ausnahmen, die ein paar Tische draußen stehen oder Balkone haben, sind Starbucks und Mc Donald’s.
In Parks oder an den Flussufern gibt es praktisch gar keine Lokale.

Rauchen

Angeblich herrscht in Tokio sehr strenges Rauchverbot an öffentlichen Plätzen. Das ist, wie eben so vieles, sehr vielschichtig geregelt:
Da gibt es die absoluten Rauchverbotsszonen; Rauchverbote sind da auch als Markierung auf dem Gehsteig eingezeichnet. Dafür gibt es in diesen Bereichen eigene Rauch-Zonen, meist vor Zigarettenläden, die große öffentliche Aschenbecher haben. Genaue Abgrenzungen oder weitere Bodenmarkierungen gibt es nicht.
Dann gibt es die Zonen, in denen Rauchen im Gehen verboten ist. Auch das ist mit eigenen Gehsteigmarkierungen gekennzeichnet (dürfte aber die allgemeine Regelung für die ganze Stadt sein). Man darf hier zwar überall rauchen – aber eben nur im Stehen. Japanische Raucher haben für solche Fälle transportable Aschenbecher dabei, Reisende vergrößern dann eben die Müllsammlung, die sie ohnehin mit sich tragen.
In Parks gilt meistens Rauchverbot, dafür gibt es wieder eigene Raucherzonen (mit Kennzeichnung und Aschenbechern).
Am Flughafen gibt es das meines Wissens einzige Outdoor-Raucheraquarium: Im Flughafen ist Rauchen verboten, außerhalb auch; im Freien steht aber eine von diesen verglasten Raucherboxen mit Schiebetür und Luftabzug …
Dafür wird in Lokalen getschickt, was das Zeug hält. Ich habe gefühlte drei Prozent Lokale mit getrennten Raucher- und Nichtraucherbereichen gesehen (vielleicht die Hälfte davon mit baulicher Trennung); das einzige Nichtraucher-Lokal war ein Starbucks.
Rauchverbot

Drogen

Keine Dealer, keine Junkies – Drogen sind im öffentlichen Stadtbild von Tokio nicht vorhanden.

Electric City

Hier schlagen Japan-Klischees einmal voll zu. Noch mehr – Electric City übertrifft alles, was man sich vorstellen kann. Hier fühlt man sich als Europäer wie ein Native aus einer der abgelegesten Gegenden der Welt ( so abgelegen, dass mir gar keine einfällt), der noch nie elektrisches Licht oder Menschen in Kleidung gesehen hat und zum ersten Mal auf der 5th Avenue steht. Also völlig ratlos. Der Grund ist nicht der überbordende Elektronikschrott, sondern die hohe Dichte an Maid-Cafés. Mädchen in einem Outfit zwischen Schuluniform, Dienstmädchenkleidung und Stripclub-Outfit stehen in Dutzenden an jeder Straßenecke, verteilen Flyer und lassen sich bewundern. In den Cafés gibt es dann Karaoke, Rollenspiele (Herr und Dienerin) oder Handmassagen – alles völlig sexfrei. Die Maids sind fallweise selbst Stars, Stars aus der Maid-Szene nachempfunden, oder Stars, die der Maid-Szene nachempfunden sind, nachempfunden.
Dazu kommen dann noch die zwei Sega-Gebäude mit Spielewahnsinn, Fanshops (für Maids, Mangas oder eben Sega-Spiele) und Riesen-Screens (fallweise drei pro Häuserfront) die den neuesten Maid-Pop oder wieder Spiele ankündigen.

MaidCafe

Mangas

Noch so ein Japan-Klischee, dass sich wiederfinden lässt. In der U-Bahn spielt man entweder (am Smartphone), schläft oder liest Mangas (reden und telefonieren sind – siehe oben unter Verbote – nicht gern gesehen; regelmässige Durchsagen mahnen sogar dazu, Handys lautlos zu stellen). Jeder Seven Eleven oder Family Mart hat neben den Zeitschriften noch ein eigenes Manga-Regal (oder drei), vor dem auch zu jeder Tageszeit drei Menschen (erwachsene Männer im Bürooutfit) stehen und blättern.

Spielhallen

Wenn die automatischen Schiebetüren aufgehen, entlassen sie ihre Gäste mit einem bösartigen Zischen: In den allgegenwärtigen Spielhallen herrscht ein Höllenlärm, wenn Menschen ab dem frühen Nachmittag dicht gedrängt Automaten bearbeiten. Beinahe so häufig wie Seven Elevens, meist sind im Erdgeschoß Pachinkos (eine Art Flipper), im Obergeschoß (oder Hinterzimmer) Slot-Machines. Das Publikum ist bunt gemischt, aber eher älter (Mitte 30+).
Spielhalle

Toiletten

Das traditionelle Klo ist ein Loch im Boden. Das ist mir allerdings nur vereinzelt in manchen U-Bahn-Stationen begegnet. In Lokalen und Hotels setzt man auf Hi-Tech-Geräte mit Sitzheizung, Vorspülung, Dusch-Programmen (getrennt zwischen Mann und Frau anwählbar) und automatischen Zwischenspülungen. Manche haben zusätzlich einen mechanischen Spülhebel. Ausschliesslich auf japanisch beschriftete Technikwunderwerke ohne diesen Notfallsknopf lassen einen dagegen ganz schön ratlos zurück …
Klo

Clubs, Ausgehen

Verbote sind der erste Vorbote. Nicht essen, nicht im gehen rauchen, keine Fotos, keine Teenies, keine Tätowierungen (ich hatte eine Jacke an und konnte also nicht herausfinden, wie ernst gemeint das ist) – jeder Club-Eingang wird ebenfalls von locker zwanzig Verbotsschildern geziert.
Die größeren Clubs sind in Shibuya (die geschleckteren in Roppongi), drin geht es dann relativ entspannt zu – schnelle und günstige Drinks in Plastikbechern und sagen wir mal eigenwillige Musikmixes: Die Kombination von Bon Jovi, Daft Punk und Alexandra Stan (alles mit Karaoke-Texten hinterlegt) hätte mich wohl einen Schneidezahn gekostet, wenn es nicht ein Plastikbecher gewesen wäre, den mir der Rempler einer spätestens bei Alexandra Stan restlos begeisterten Mädelsgruppe gegen die Zähne gerammt hat.

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Die Festplattenabgabe von einem anderen Stern

Kunst hat Recht kommt so was von einem anderen Stern. Gerade Medien und Kunstschaffende profitieren so was von enorm von digitalen Vervielfältigungs- und Verbreitungsmöglichkeiten – nicht weil ihre Werke raubkopiert werden, sondern weil sich die Kommunikation darüber vervielfacht hat, die Kaufanreize explodiert sind, weil wir Filme, Bücher und Kinotickets online kaufen können und im Onlinemagazin unseres Vertrauens bessere Information bekommen als von angegraut-berufssubkulturellen Kulturjournalisten in Staatsfunk und Distinktionspresse.
Kein Zweifel, geschäftsschädigende Piraterie findet statt. Manchmal aus Sammelleidenschaft (das sind aber eher Kunden, die kaum kaufen würden), manchmal aus Geiz, großteils aber aufgrund absurder Rechtemanagement- und Paymenthürden:
  • „Legale“ Anbieter verlangen Passkopien, um potentiellen Kunden am Ende eines siebenstufigen Registrierungsprozesses zu sagen, dass das Service in ihrem Land noch nicht verfügbar ist.
  • Lokale Distributionsrechte versuchen, die Welt in einen Status vor der Erfindung des Telefons zurückzuversetzen.
  • Unsinnige Subscriptionservices bewerfen Kunden mit Datenmüll aus Pauschalangeboten mit Jahresbindung, obwohl sie eigentlich nur einen (in Zahlen: 1) Film sehen wollten.

Das sind die Fälle, die das Geschäft verderben – hier griff man lieber auf Pirate Bay zurück. Vor allem hinter dem letzten Punkt lässt sich aber eine perfide Strategie von Distributoren und Künstlern vermuten: Distributoren sorgen für den Datenmüll, den niemand haben wollte, der auf noch mehr externe Festplatten ausgelagert werden muss, für die Künstler, wenn sie schon nichts verkaufen, jetzt Festplattenabgabenprovision einstreifen. Raffiniert. Aber ich bin euch auf die Schliche gekommen.

Gibt es eigentlich keine Bücherregalstellplatzabgabe für die Kompensierung eventuell antiquarisch gekaufter Bücher? Oder wenigstens Pirateriesammelmarken für gekaufte Filme, Bücher und Kinotickets – zehn Mal für Kultur cashen spart die Abgabe beim nächsten Kauf von Piratenequipment (einlösbar auf Holzbeine, Augenklappen und Festplatten).
Und außerdem sollten die Einnahmen aus der Festplattenabgabe erstens in den Ausbau der Bandbreiten investiert werden (die Netzgeschwindigkeit ist ja der eigentliche Leidträger beim massenhaften Download) und zweitens in Computerkurse für Künstler. Und drittens in verbesserte Bandscheibenvorfallvorsorge für Möbelpacker, die jetzt wieder mehr DVDs, Bücher und Vinyl-Sammlungen statt schlanker Festplatten schleppen müssen.
Ich geh dann mal Festplatten kaufen. Wobei ich dort nur eigene Sachen archiviere. Alles andere gibts ja eh jederzeit auf Piratebay …

Sesselrücken in der herrschenden Klasse

Ok, die Geschichte ist ja schon wieder ein paar Tage alt und für die Mainstream-Medien offenbar gegessen. Ich finde es trotzdem spannend, wie leger sich unterschiedliche Wahlrechtsformen kombinieren lassen und wie sich Parlamentsklubs zumindest im Transferverhalten der Leichtfüßigkeit von Fussballklubs annähern.
Die ÖVP hat sich also um zusätzliche Po-Grapsch-Kompetenz aus dem Team Stronach in den eigenen Reihen verstärkt. Geschmackssache.
Nachdem ich weder ÖVP noch Team Stronach wähle, kann mir das grundsätzlich egal sein – einer von vielen Abgeordneten, von dem ich mich nicht vertreten fühle, vertritt jetzt eben etwas anderes, von dem ich mich auch nicht vertreten fühle. Spannender ist die Frage, was ÖVP WählerInnen davon halten: Sie haben eine Liste gewählt und damit auch ausdrücklich eine andere Liste und die darin vertretenen Personen nicht gewählt. Und jetzt sollen sie sich trotzdem von jemandem, den sie nicht gewählt haben und der sich gegen die von ihnen gewählten Inhalte gestellt hat, vertreten fühlen?

Das ist der Moment, in dem repräsentative Demokratie etwas von der Idee der herrschenden Klasse bekommt. Die herrschende Klasse sitzt eben im Parlament und macht dort etwas. Was genau, ist offenbar nicht so wichtig. Es ist auch nicht so wichtig, wie du in die herrschende Klasse gekommen bist, sobald du einmal drin bist. Der Nationalrat wird aber nun einmal primär über ein Listenwahlrecht gewählt. Elemente des Persönlichkeitswahlrechts spielen eine ziemlich kleine Rolle.
Natürlich soll jeder jederzeit seinen Job hinschmeißen können. In allen anderen Jobs ist es aber ziemlich unüblich, zu sagen „Ich mach jetzt was anderes“ und gleichzeitig ein Fortlaufen der Bezahlung zu erwarten.
Herrenlose Abgeordnete dagegen spielen „Wer will mich?“, präsentieren sich als stubenrein (was gerade in der Situation des Parteiaustrittes ein wenig unglaubwürdig ist) und haben gute Chancen, ein neues kuscheliges Zuhause zu finden.
Ich hätte da mehrere Vorschläge:

  • Ungefragt bleiben kann, wer einen Vorzugsstimmenwahlkampf geführt hat und ausreichend persönliche Stimmen bekommen hat – ein passender Schlüssel wird sich dafür schon finden lassen.
  • Listenmitläufer, die als Stimmvieh ihren Stall wechseln möchten, sollten sich Mini-Neuwahlen stellen müssen. Die einfache Frage: Will dich irgendwer im Parlament? Oder streichen wir dich einfach aus der Mannschaft und berechnen die Mandatsverteilung neu?
  • Und zuletzt gäbe es dann immer noch die Alternative für herrenlose Abgeordnete, auf die Auferstehung von Edith Klinger und ein Retro-Revival von „Wer will mich?” zu warten.

 

(Foto: unter Verwendung von Material cc E J Ringhoffer)

“Awesome” ist das neue “ähhh”

Ich besitze ja keinen Fön. Also war ich vergangene Woche beim Pioneers Festival in der Hofburg …
Pioneers Festival, das bedeutet: Informatik- und WU-Studenten bügeln ihre Hemden, Banker und Investoren legen ihre Krawatten ab und man trifft sich irgendwo in der Mitte.
Aber Spaß beiseite. Pioneers ist mittlerweile eine ziemlich staatstragende Organisation. Zum Festival gesellen sich mittlerweile mit Pioneers Discover eine eigene Intelligence Unit, mit Global Pioneers eine Reihe weltweiter Veranstaltungen, und ganz neu mit Pioneers Ventures ein Early Stage Investor. Mit an Bord sind Partner wie Speed Invest oder Austria Wirtschaftsservice.
Das Pioneers Festival glitzert und glänzt und unter der Oberfläche läuft hartes Business, das weltweit Beachtung findet: Pioneers-Start-Ups und Unternehmen aus dem Speed Invest-Portfolio haben mittlerweile Investments von mehr als 200 Millionen Euro an Land gezogen. In den letzten eineinhalb Jahren haben sich über 4000 Start-Ups um Pioneers-Programme beworben, auf der anderen Seite arbeiten über 200 Unternehmen regelmäßig mit dem Pioneers Netzwerk zusammen.
Pioneers Global veranstaltet mittlerweile 35 Events jährlich in 25 Städten weltweit und vernetzt dabei 5000 Leute.
Pioneers Discover sammelt und analysiert Daten aus den über 4000 Start-Ups, die sich mittlerweile um Pioneers-Programme bemüht haben. Damit vermittelt die Organisation zwischen Unternehmen und Gründern, hilft Unternehmen, Businessmodelle und Chance besser zu verstehen und liefert Berichte über die aktuelle Dynamik in der Branche. Für Start-Ups bieten sich neue Kontakte, Partnerschaften und der Überblick über die eigene Branche.
Ventures schließlich kann jetzt nicht nur mit Rat und Vernetzung aufwarten, sondern mit echtem Geld. Pioneers selbst, kündigte CEO Andreas Tschas an, wird mit Beträgen zwischen 25.000 und 125.000 Euro einsteigen. Für mögliche weitere Investmentrunden stehen dann Speed Invest und andere Partner zur Verfügung. Neben der finanziellen Unterstützung kann Pioneers dann noch die ganze Organisation mit den weltweiten Events, Partnern im Silicon Valley, Mentoren und Daten aus dem Discover-Programm ins Rennen werfen.
Das war an den zwei Tagen in der Hofburg deutlich zu spüren. Das Pioneers Festival ist längst keine österreichische Nabelschau mehr. Gründer und Investoren aus ganz Europa drängen sich in den zeitweise hoffnungslos überfüllten Gängen, jeder blickt dem anderen zuerst auf das Namensschild. Die Namensschilder sind praktischerweise auch gleich farblich unterteilt, um Start-Ups, Investoren, Corporates und Presse zu unterscheiden.
Start-Ups pitchen um Kaffee-und-Kuchen-Termine bei Investoren oder VC-Beratern, über Networking-Apps können schon im Vorfeld Termine gemacht werden und besonders gut gebuchte Vorträge und VC-Lounges sind nur mit gesonderter Anmeldung zugänglich. Spätestens am Abend vereint sich dann aber doch wieder alles bei der großen Afterparty.
Im vergangenen Jahr, erzählt Andreas Tschas, wurden allein über die offiziellen Kanäle 11.056 Messages verschickt und 1.188 Meetings vereinbart. 44 davon führten zu Investments.
Für die New York Times war das Grund genug, Wien zum zukünftigen Start-Up-Hotspot zu erklären.
Dass bei sovielen Meetings, so viel Gründergeist und Ambition auch einiges an leeren Kilometern und heißer Luft im Spiel ist, versteht sich von selbst. „Amazing“ und „Awesome“ sind das neue „ähhh“ ratloser Speaker. Man benutzt es als Höflichkeitsfloskel gegenüber anderen, auf der Bühne als Selbstbeschreibung und ergänzt es durch gezielt eingesetzte Verwendung von „yeah“ und „whoa“. Das Spiel funktioniert offenbar, und wenn die Begeisterung mal nachlassen sollte, dann erklimmt ein Animateur die Bühne und erinnert daran, dass Pioniere Krieger sind, die nur laut „yeah“ rufend in Social Media abgebildet sein wollen.
Es gehört dazu, ja. Aber trotzdem schürt es bei mir zumindest die Lust auf subversive Verschwörungen:
Erstens werde ich in Zukunft immer „awful“ statt „awesome“ sagen – und mal abwarten, wem es auffällt.
Zweitens schreibe ich meine eigene Start-Up-Challenge aus: Du möchtest in deinen Pitches, Präsentationen und sonstigen Kommunikationsmaßnahmen auf „awesome“, „amazing“, „fucking“, „yeah“, „whoa” und dergleichen verzichten? Ich helfe dir beim Entzug … Rolemodels für bullshitfreie Start-Up-Kommunikation werden kostenlos beraten: Bewerbungen ab sofort hier.

Staatsschutz ist wie Heimatkitsch: Nur in Grenzen erträglich.

Staatsschutzgesetz ist so was die der Andreas Gabalier der Sicherheitspolitik: Ohne Kontext oder im hübsch frisierten Kontext ist nichts dagegen zu sagen. Natürlich wollen wir Schutz vor Terroristen, natürlich muss es Mittel geben, gegen jene vorzugehen, die sich an keine sozialen Regeln halten (Moment mal, wenn betrifft das dann eigentlich aller?), und natürlich ist gegen ein bisschen Heimatkitsch nichts zu sagen. Beides sehr schlüssige Konzepte, beide wohl auch erfolgreich.
Verteter von Innenministerium, Verfassungsschutz und AK Vorrat diskutierten vergangene Woche auf Einladung des Neos Lab über das geplante Staatsschutzgesetz. Die Befürworter schafften es durchaus, ein vernünftiges Bild zu zeichnen und konzentrierten sich vor allem auf die juristischen Aspekte: Das Gesetz sei sauber, notwendig und im Rahmen aller in Österreich geltenden Rechtsgrundlagen. Der Verfassungsschutz habe überdies nur eine verschwindend kleine Gruppe von einigen hundert Leuten im Auge; von Massenüberwachung könne keine Rede sein.
So weit so gut; ich bezweifle die Rechtmäßigkeit nicht und kann das auch nicht beurteilen. Allerdings hatte auch die DDR ihre Rechtsordnung, innerhalb derer auch Schüsse an der Berliner Mauer im Rahmen waren. Und vielleicht erinnert man sich noch an den Eiertanz rund um die Frage, auch welcher rechtlichen Basis man jetzt Erich Honecker und seine Leute vor Gericht stellen könne (Es waren dann Menschenrechtsverletzungen, das Verfahren wurde aber passenderweise auf Grund von Honeckers Gesundheitszustand eingestellt; er wanderte nach Chile aus).
Die Rechtmäßigkeit ist aber zugleich auch das Problem: Das Staatsschutzgesetz bezieht sich auf Straftatbestände, die in anderen Gesetzen geregelt sind und setzt die weltanschauliche oder religiöse Motivation oben drauf, um manche Verbrechen von anderen zu unterscheiden. Vielleicht ist heute alles im Rahmen. Aber so wie ich das verstehe, können Änderungen in anderen Rechtsgrundlagen dann leicht dazu führen, dass das Staatsschutzgesetz dann plötzlich auch auf ganz andere Delikte angewendet werden kann. Es kommt eben darauf an, in wessen Händen so ein Gesetz dann liegt.
Und die Frage der Weltanschauung ist ja eine sehr dynamische. Ein Vertreter einer Regierungspartei (Jörg Haider) und ein Justizminister (Wolfgang Böhmdorfer) empfanden schließlich einmal Strafen für “Österreich-Vernaderer” als “sicherlich verfolgenswerte” Idee. Mit dem neuen Gesetzesentwurf würde sich das dann auch leicht zur Sache für den Staatsschutz machen lassen.
Deswegen Gabalier: Nichts gegen erfolgreiche Musiker und Lederhosen. Aber wenn sich die Idee von Heimat in den Facebookseiten von FPÖ-Politikern spiegelt (die Asylwerbern Smartphones neiden… – im Übrigen wäre das doch der beste Beweis dafür, dass das eben keine Höhlenmenschen sind, oder?), absurde Manderl-Weiberl-Konstruktionen strapaziert und auf Ausgrenzung setzt, dann ist das eben nicht meine.
Deshalb fällt es mir schwer, diese Entwicklung hinzunehmen. Peter Gridling, Vertreter des Verfassungsschutzes bei der Diskussion vergangene Woche, forderte “ein bisschen mehr Vertrauen”. Ihm persönlich würde ich ja durchaus vertrauen. Der politischen Entwicklung allerdings nicht. Und dazu braucht es keinen FPÖ-Kanzler. Eiertänze ohne Linie wie bei GmbH Zero, Nichtraucherschutz und Bankgeheimnis, umgelegt auf die Kernbereiche von Freiheit (die nun einmal vom Staatsschutzgesetz betroffen sind), reichen mir da schon.
Nur noch eine Notiz am Rande: Ich möchte echt gern mal Argumente und Beispiele für das Staatsschutzgesetz hören, die sich nicht auf radikalen Islamismus stützen.

Die nächste Steuererklärung wird schnell gehen. Und im Herzen bin ich Anarchist

[su_dropcap]L[/su_dropcap]iebes Finanzamt, mit meiner nächsten Steuererklärung werde ich schnell fertig sein. Hab ich von euch gelernt. Wenn ein Ministerium dem Verfassungsgerichtshof keine Information geben muss, muss ich das gegenüber dem Finanzamt ja auch nicht machen, oder?
Ich habe mich näher mit der Steuerreform beschäftigt und es dabei immer schon lustig gefunden, dass die Refinanzierung über Betrugsbekämpfung geplant war. Erstens hat es ja durchaus Charme, der gesamten Bevölkerung pauschal kriminelle Energie zu unterstellen. Zweitens stellt das ja auch die Entlastungseffekte infrage: Irgendwo muss das Geld ja herkommen, und wenn diejenigen, die entlastet werden sollen, pauschal als Betrüger betrachtet werden und mehr (bislang hinterzogene) Steuern zahlen sollen, dann halbiert das die versprochenen Entlastungen ja gleich mal. Und drittens war ich schon lang gespannt, was dann an Kontrollmaßnahmen nachkommen wird.
Mit der Kassabonaufbewahrungspflicht nimmt das ja schon mal erste Formen an. Ich hoffe nur, dass wir dann auch jedes Mal UID-Nummern auf den Kassabons eintragen lassen können. Nur für den Fall, dass ihr die dann auch mal wissen wollt. So wie letztes Jahr, als ich die nette Aufforderung bekam, eine Liste sämtlicher Eingangsrechnungen mit Lieferantenadressen und UID-Nummern nachzureichen. Grundsätzlich kein Problem, aber warum sagt ihr das denn nicht gleich? Dann könnte man das gleich beim Buchen erfassen und müsste nicht nachträglich hunderte Belege durcharbeiten.
Auf der anderen Seite wars dann aber auch wieder beruhigend, dass mit diesen Daten nicht viel passieren wird. Auf Finanzonline kann man an Antworten auf Ergänzungsersuchen nämlich nur pdfs oder jpegs anhängen. CSV, Excel oder wenigstens zip? Geht nicht. Und eine Liste mit ein paar hundert Einträgen als jpg ist wohl nur zum Ausdrucken und ablegen geeignet …
Wird das mit der Kontenoffenlegung dann auch so sein? Sollen wir dann eBanking-Screenshots schicken?
Wahrscheinlich, weil dank Staatsschutzgesetz und neuen umfassenden Überwachungsbefugnissen auch ohne Vorratsdatenspeicherung wisst ihr den Rest dann sowieso schon.
Deshalb gleich noch ein Outing:
Liebe Staatsschutzgesetz-Autoren und -Autorinnen, im Herzen bin ich Anarchist, das wollte ich euch nur sagen. Nicht weil ich gern diese Kreise mit As gern wohin male oder per se ein Problem mit Beamten hätte. Man kann halt Bakunin und Kropotkin lesen und darin eine sehr nüchterne und zukunftsorientierte Variante fakten- und evidenzorientierter Politik finden.
Man kann sie sicher auch anders lesen.
Und ich habe letzte Woche mit einem Freund am Küchentisch einer Freundin, die davon nicht begeistert war, über Drogenpreise in Portugal diskutiert. Aber eigentlich nur, weil es mich genervt hat, ungefähr 15 Mal täglich gefragt zu werden, ob ich Gras, Dope, Koks, Speed oder E kaufen will. Und weil es mich durchaus fasziniert, dass die Dealer in Lissabon alle Alters- und sonstigen Bevölkerungsgruppen repräsentieren – vom angesandelten Exhipster über den erkennbaren Selbstversorger bis zum gestrandeten Working Class Hero jenseits der 60.
Ein Sons of Anarchy-T-Shirt habe ich auch. Sons of Anarchy ist aber nur eine Fernsehserie über eine kalifornische Bikergang, die schwach anfängt, zwischendurch ein paar gute Momente hat und dann stark abstinkt.

Wahrscheinlich bin ich schon ein staatsgefährdendes Element.
Aber das liegt wohl weniger an diesen formalen Kriterien, als an mangelndem Respekt für Institutionen und Autoritäten. Und je mehr Misstrauen mir diese entgegenbringen, je mehr Aufwand sie mir umhängen wollen und je deutlicher sie mir zu verstehen geben, dass sich mich für blöd halten, desto mehr schwindet dieser Rest-Respekt.
Und ich fühle mich durchaus als für blöd verkauft, weil ich mir immerhin diese offensichtliche Chance zum Milliarden-Steuerbetrug in den letzten Jahren entgehen habe lassen. Ich hab halt immer gezahlt. Aber vielleicht kann ich ja noch von euch lernen.

Das ist Medienarchäologie!

Ich wundere mich ehrlich gesagt noch immer. Vergangenes Wochenende habe ich wieder mal »Die Zeit« gekauft, eigentlich nur, weil ein paar Euro auf die Rechnung gefehlt haben, um in der Trafik mit Bankomatkarte zahlen zu können. Und dieser Kauf erwies sich als gefühlter medienhistorischer Sensationsjackpot: Wir reden da seit Jahrzehnten über Diversität, schwindende Aufmerksamkeit und sinkende Marktanteile von was auch immer, über selbständige Leser und Konsumentinnen und solche, die sich ihre Inhalte selbst zusammenklauben – und dann feiert das Zeit-Magazin sein 45jähriges Jubiläum mit einer Schwerpunkt-Ausgabe zu 45 Jahren »Tatort«.
»Tatort«, das halte ich der Fairness halber für erklärungsbedürftig, ist eine Fernsehserie. Ich habe schon mitbekommen (vor allem über dieses Facebook…), dass »Tatort« immer wieder Gesprächsstoff ist, vielleicht auch so eine Art Herrgottswinkel melancholischer Medienmacher (»Die Budgets!« »Die Reichweite!« »Diese Dominanz eines traditionellen Mediums über passive Zuschauermassen!« – ok, zuletzt steckt hier  ein bisschen Interpretationsspielraum drin), aber diese Inszenierung hat jetzt wirklich den Anstrich eines Kombipakets aus Entedankfest, Militärmesse und Wiesn-Fest, gebucht beim als Mozart verkleideten Blasmusik-Vertreter deines Vertrauens, der den Pensionisten-Ausflugsbus in einem wunderschönen Luftkurort betreut. Mit anderen Worten: Mehr old school geht wohl wirklich nicht.
Wenn man Fernsehen schon wieder verlernt hat, wirkt das so was von befremdlich, dass ich das wirklich für eine Art medienhistorischen Moment halte – so ähnlich wie damals, als vor knapp 20 Jahren zum ersten Mal Internetadressen auf und in gedruckten Büchern auftauchten, nur eben umgekehrt…
Jedenfalls: Liebe Publizistik-Erstsemester – kauft das Ding und hebt es gut auf. In ein paar Jahren kann man darüber sicher super Seminar- und Diplomarbeiten schreiben… 🙂
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PS: Auch nicht schlecht: Das Impressum im Zeit-Magazin. Klarer Fall von »Chefredakteur, Art Director, Stellvertreter – oh shit, jetzt sind uns die wichtigen Chef-Jobs ausgegangen…«. Aber schön, irgendwie.
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