Digitale Bildung – “With great power comes great responsibility”

Ich habe ein Problem mit dem, was unter digitaler Bildung diskutiert wird. Für mich bedeutet das um einiges mehr, als einen Computer bedienen zu können, Mails schreiben, Facebookposts veröffentlichen oder Texte in eReader lesen zu können. Aber der Reihe nach.
Wofür braucht man jetzt diese digitalen Skills? – Darüber diskutierten gestern Vertreter der Nationalratsparteien auf Einladung der Telekom im neuen A1 Internet für alle Campus. Meinungen waren kaum vorhanden, Haltungen sehr unterschiedlich. Sie reichten von „Ich hoffe, ich muss das Wort digital nicht in den Mund nehmen“ (Walter Rosenkranz, FPÖ), „Die Digitalisierung ist die Zukunft, da brauchen wir uns gar nicht einmischen“ (Matthias Strolz, Neos), „Die Kinder bei mir im 15. spielen auch ohne iPad Fussball“ (Marco Schreuder) über „Den Kindern heute fehlt der Hausverstand“ (Brigitte Jank) bis zu „Man lernt in der Schule keine Teamarbeit“ (Christoph Matznetter, SPÖ). Natürlich war allen digitale Bildung sehr wichtig; schliesslich setzt es sich durch, dass das Buch als Leitmedium in der Wissensvermittlung langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät und andere Kanäle und Kulturtechniken effizienter sind.

Die Konzentration auf diesen Punkt ist mein Problem. Kulturtechniken sind kein Selbstzweck. Sie entstehen als Antwort auf bestimmte Herausforderungen und sind dann die Mittel, die zur Zeit eben am besten geeignet sind. Das Buch steht für kompaktes, reproduzierbares, mit Autorität versehenes und kontrolliertes Wissen. Es steht auch für Abgeschlossenheit und Vollständigkeit und ist Ausdruck des Bemühens, Ordnung in die Dinge zu bringen.
Digitale Techniken stehen für Unvollständigkeit, Beweglichkeit (sie sind selten abgeschlossen) und radikalisierte Reproduzierbarkeit, sie sind nicht kompakt und sie schaffen gerade erst ihre eigenen Autoritätsmechanismen. Damit muss man umgehen können, das muss man lernen; einverstanden.
Mit diesen Eigenschaften stehen digitale Techniken aber auch für einen anderen Zugang zur Welt: Sie erlauben es, Dinge auseinanderzunehmen, neu zusammenzubauen, erhöhen Reichweite und Kontaktmöglichkeiten, ermöglichen und erfordern Aktivität, drücken aufs Tempo und erhöhen mit all diesen Eigenschaften sowohl die Macht als auch die Abhängigkeit und die Verantwortung des einzelnen. Spiderman hat das am besten auf den Punkt gebracht: „With great power comes great responsibility“.
Damit das aber Macht wird (und nicht nur Abhängigkeit bleibt), ist aber viel zu lernen. Allerdings nicht in der Bedienung von Tablets, sondern im Selbstverständnis. Und das geht möglicherweise mit Taschenmesser und Schnur fast genauso gut wie mit Laptop und Tablet (natürlich ist beides notwendig).

Zwei immer wiederkehrende Beispiele, die ich nicht mehr hören kann, illustrieren das vielleicht ganz gut:

  • Menschen erzählen einander immer wieder begeistert, wie schnell und gern Kinder mit Smartphones spielen und wie schnell sie verstehen, dass mit Wischbewegungen zum nächsten Bild geblättert werden kann. Die Begeisterten nehmen als Indiz für das digitale Talent der Kinder (und die intuitive Bedienbarkeit der Geräte). – Es ist eine Nutzungsmöglichkeit der Devices. Ähnlich aussagekräftig, als würde man aus Buchseiten Papierflieger basteln oder sie einfach essen.
  • In der Schule dürfe man nicht abschreiben, im Berufsleben sei Teamarbeit wichtig, ist ein bildungspolitisches Bonmot; der Schüler werde für die Teamarbeit bestraft, der Chef für die Unterlassung der Teamarbeit (wenn er seine Entscheidungen nicht mit Experten abstimmt). Das Problem dabei: Die Entscheidungen eines Unternehmers sind zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung selten richtig oder falsch (von großen Dummheiten und Billigstbieterverfahren (ist das nicht das gleiche?) mal abgesehen). Sie wählen eine von mehreren Optionen – und müssen dann damit leben.

(Damit keine Missverständnisse aufkommen: Digitale Skills sind extrem wichtig (/). Einen sehr umfassenden Überblick dazu wird es im Herbst mit dem “Werde Digital“-Leitfaden geben. )

Böse Onkels im Klassenkampf

[su_dropcap]E[/su_dropcap]s wiederholt sich immer wieder: Die, die es damals nicht gemacht haben, erklären jenen, die es ihrer Meinung nach machen sollten, was sie machen sollen. – Es geht um Revolte, Aufstand, Protest, darum sich nichts mehr gefallen zu lassen. Übrig bleiben dann die dummen Kinder, die immer älter werden. Und eine Form von Rechthaberei, die vielleicht in die Jugendgruppe eines Pfarrhofs passt.
Der neueste Jugendgruppenleiter in dieser langen Tradition ist Manfred Klimek – und das in einem Ausmass, dass man ja glauben möchte, sein Facebook-Profil wäre Opfer eines komödiantischen Identitäts-Hijacks. Gesegnet mit den Insignien des zeitgenössischen Alterns (Weinfaible, Steuerschulden) erklärt er, wie Protest richtig funktioniert. Oder eigentlich: Was in Wien (im Vergleich zu Berlin) an Protestformen und Haltung fehlt.

Das hat irgendwo Methode. Mich erinnert das daran, als Josef Haslinger (es war irgendwann in den späten Neunzigern) Wiener Rappern vorwarf, in ihren Texten zu wenig systemkritisch zu sein. Oder daran, als die Spex bewundernd über Studentendemos in Wien schrieb (es war in den frühern Neunzigern) und diese für so viel lebendiger, politischer und subversiver hielt, als die deutschen Pendants (wer dabei war, wunderte sich). Oder auch an Wolfgang Schüssel und seine Prophezeiung von der Internetgeneration. Oder an die meinungsmutigen Chefredakteure und Herausgeber, die Leserchens dazu ermutigen, eine Meinung zu haben – aber bitte die richtige, nämlich die, die man in ihren Zeitungen liest, und dabei auch bitte immer schön höflich bleiben.
[su_pullquote align=”right”]Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere.[/su_pullquote]In allen Fällen werden Formen anstelle von Positionen kritisiert. Politik- und Meinungsfragen werden zu Fragen des guten Geschmacks und des richtigen Benehmens. Das hat manchmal eben traditionell gestriegelt zu sein, manchmal angemessen rotzig und althergebracht aufmüpfig – damit die Seiten immer schön klar sind und jeder auch bei der reinen Reduktion auf die Form und beim Verzicht auf die Inhalte immer gut erkennen kann, was da gerade läuft. Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere; unspannende Details können gerne vernachlässigt werden.

Ich halte gar nichts von einem Fatalismus, der alles für total komplex hält und den Spielraum des Einzelnen als eingeschränkt betrachtet. Auch das ist nur Selbstdisziplinierung. Aber ich halte auch nichts davon, Feindbilder auf das leicht Greifbare zu reduzieren, das uns auf der Strasse begegnet. Polizei und Justiz befolgen und exekutieren Gesetze – manchmal schlauer, manchmal weniger schlau. Beide Institutionen sind die falschen Adressaten, um das Ergebnis von Verfahren und Exekutivmassnahmen zu kritisieren.
Für deren Arbeit gibt es Regeln. Für die Institutionen, die die Rahmenbedingungen schaffen, auf die sich diese Regeln beziehen sollten, gibt es weit weniger Regeln.
[su_pullquote align=”right”]Das Recht bevorzugt immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen.[/su_pullquote]Dabei habe ich vor allem wirtschaftliche und die diesen zu Grunde liegenden finanzwirtschaftlichen Entwicklungen im Sinn. – Diese schaffen das Umfeld, auf das Politik reagieren zu müssen meint.
Wirtschaft heisst heute vor allem sparen. Das funktioniert lustigerweise auf allen Ebenen – sparen, um bessere Profite zu erzielen, um Jobs zu erhalten, um wachsen zu können. Die unternehmerische Sparsamkeit findet ihre Entsprechung in finanzpolitischen Instrumenten: Niedrigzinspolitik und Inflationsvermeidung sind Mittel, um den Status Quo zu erhalten – wer etwas hat, behält es, wer nichts hat, wird auch in absehbarer Zeit zu nichts kommen. So lange Geld teuer ist (also die Inflation niedrig), ist das gut für die, die es besitzen. Niedrige Zinsen wären zwar ein passendes Gegeninstrument, um Geld erschwinglich zu machen, und auch jenen entgegenzukommen, die Geld nur in negativer Form (also als Schulden) kennen, aber die Milchmädchenrechnung geht nicht auf: Niedrige Zinsen bedeuten, dass Schulden für Gläubiger kein gutes Geschäft mehr sind – umso kritischer sind sie natürlich bei der Vergabe neuer Finanzierungen. Vor allem, wenn das Geld, dank niedriger Inflation, ohnehin seinen Wert behält.
[su_pullquote align=”right”]”It’s hard to think of a reason for this other than class war.”[/su_pullquote]Auf der anderen Seite bedeuten niedrige Zinsen: Es wird immer wichtiger, mehr zu besitzen. Kleine Guthaben werden mit lächerlichen Prozentsätzen verzinst; größere Beträge können Konditionen verhandeln. Im Kombination mit langfristigen Bindungen bedeutet das: Wer mehr hat (und es nicht braucht), hat mehr davon und wächst schneller. Noch besser funktioniert das bei Renditen für andere Geschäfte, die nicht an traditionelle Bankprodukte gebunden sind. Thomas Piketty weist in seinem „Capital“ nach, dass das Kapitalwachstum langfristig und auch immer noch, trotz aller Krisenzeiten, bei 4-5 Prozent im europäischen Durchschnitt liegt. Angesichts aktueller Bankkonditionen ist damit klar: Es wächst anderswo schneller; vor allem dort, wo es noch höhere Einstiegshürden gibt – etwa in der Immobilienbranche.

Umgelegt auf das jüngste Polizei- und Proteststück in Wien, die Räumung der Pizzeria Anarchia, heisst das: Die Wertschöpfung diktiert die Möglichkeiten. Wir haben die perfekten Möglichkeiten für derartige Investitionen geschaffen. Die Renditechancen sind so hoch – und unvergleichlich höher als in anderen Feldern -, dass Eigentümer locker Wartezeiten, Leerstände und wahrscheinlich sogar Räumungskosten in Kauf nehmen können. So lange die Kapitalwachstumsraten deutlich über jenen des Wirtschaftswachstums liegen (auch das weist Piketty nach), bleibt das noch immer ein Geschäft. Und das Recht bevorzugt dabei noch immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen und währenddessen einfach mal was anderes macht.
Was bringen dann in diesem Zusammenhang das ironische Sich-Mokieren über ein paar hundert gelangweilte Polizisten oder der Aufruf, gefälligst im Widerstand etwas wilder zu sein? – Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, in solchen Fällen Beobachter vor Ort zu haben, über Hintergründe zu informieren und Verhältnismäßigkeiten in Frage zu stellen. Aber Polizei und Justiz schaffen ihre Rahmenbedingungen nicht selbst; fraglich ist, ob es überhaupt noch die Politik ist, die sie schafft.
In der Interviewserie „Power Systems – Conversations on Global Democratic Uprisings“ sagt Noam Chomsky über Sparpolitik, die ihre Grundlagen in der Zins- und Inflationspolitik der Europäischen Zentralpolitik findet: „It’s hard to think of a reason for this other than class war. The effect of the policies is to weaken the welfare-state measures and to reduce the power of labor. That’s class war. It’s fine for the banks, for financial institution, but terrible for the population.“
Deshalb ist die angemessenste Protestform vermutlich, nicht nur auf die Strasse zu gehen und Klischees zu erfüllen, sonder auch rechnen zu lernen und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Und klarzumachen, dass verstehen nicht immer einverstanden sein bedeutet.
Böse Onkels, die Protest und Subversion gern mit Körperflüssigkeiten verbinden, haben da vielleicht, wie wir alle, auch noch ein bisschen was zu lernen.

Pizza für alle – Pizzeria Anarchia wird geräumt

[su_dropcap]E[/su_dropcap]igentum ist ja immer ein Problem. Vor allem, wenn man das, was man besitzt, so wenig braucht, dass man es dauerhaft anderen überlässt, die dann dafür bezahlen sollen. – Oder auch nicht bezahlen, wie es ursprünglich in der Geschichte der Pizzeria Anarchia der Fall war: Hausbesitzer quartieren Punks, Anarchisten, oder wie man es auch nennen möchte, in einem teilweise leerstehenden Haus ein – in der Hoffnung, so meint man, diese würden im Lauf der Zeit die verbliebenen regulären Mieter aus dem Haus ekeln.

Das Gegenteil war der Fall – man vertrug sich gut, hatte wenig Ärger mit der Umgebung, und dachte dann nicht mehr daran, das Haus aufzugeben.
Das schon lange erlassene Räumungsurteil wurde heute durchgesetzt. Über die Zahl der eingesetzten Polizisten wussten offenbar diese selbst nicht so genau bescheid – von bis zu 1700 war die Rede, es waren jedenfalls viele. Und es wurden immer mehr.
Im Lauf des Vormittags haben sich dann auch viele Schaulustige und Anrainer versammelt. Was auffällt: Die meisten schüttelten den Kopf. Kaum einer zeigte sich erleichtert, dass jetzt endlich Ordnung einkehrt; manchen war anscheinend noch gar nicht aufgefallen, dass sie bis jetzt in der Nachbarschaft eines besetzten Hauses gewohnt hatten. Vereinzelte „Der Hitler hätt a Bombn reingeworfen und a Ruh is“-Sager, kamen nicht von Harald Vilimsky. Und ältere Damen zeigten sich eher um die Hausbesetzer als die Hausbesitzer besorgt.

Schön, wenn sich das Kapitalwachstum so viel leichter sichern lässt, als das Wirtschaftswachstum. Und selten hat man so schön gesehen, um welchen Preis…
Und die Sache mit dem Eigentum? Darauf komme ich später noch mal zurück.

Lederhosen, Gendern, gesunder Rausch – so lustig ist es in Österreich

Manchmal ist es ja großartig, nicht nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sonst müsste ich mich ja jetzt über vorgebliche Gender-Mafiosi, dumpfbackige Landeier und den gesunden Rausch ärgern. Das Kolumnisten-Dasein ist sicher kein leichtes – von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung, und die noch schön formulieren. Und sich darauf verlassen, dass die Kolumne von gestern heute eh niemanden mehr interessiert. Ich hab den Fehler gemacht, mal eine Woche lang viel Meinungsmut (vorrangig den aus den Alphamedien) zu lesen. Das ist schwer verdaulich. – Und beim Lesen dieses Christian Ortner-Kommentars habe ich mich – bevor ich bei der Autorenzeile angelangt bin – ernsthaft gefragt, ob Michael Jeannée auf Grund seiner jüngsten publizistischen Leistungen jetzt auch für die Presse schreibt.

Aber zurück zu Landeiern, Lederhosen, Gendern und Drogen. Sagenhaft ergiebige Kolumnisten-Themen.

Fangen wir mit den Landeiern an: Seit sich ein volkstümelnder Städter, der auch ein bisschen singt, nicht getraut hat, die österreichische Hymne richtig zu singen, ergehen sich die urbansten Kolumnisten und Leitartikler in sagenhaftem Schwachsinn über die angeblichen dunklen Tendenzen des Landlebens.

Auch Städte haben ihre Prater-Domes und Lugners, und auch Tara und Moni geben sich schliesslich sehr urban. Und hat nicht auch Mundl Sackbauer in zumindest einer Folge einen Lederhosen-Auftritt hingelegt?
Der kalte Schauer läuft mir weniger bei ländlichen Feuerwehr- und anderen Zeltfesten über den Rücken, eher angesichts von urbanen Wiesenfesten, deren Gäste sich wohlig in Retro-Gedankenlosigkeit wälzen und sich am nächsten Tag ohnehin wieder ganz anders geben. Das Problem ist ja nicht die Tracht (die es, anscheinend muss das auch gesagt werden, schon lange vor ihrer politischen Belastung gab), sondern die damit einhergehende Reproduktion von Klischees, die Macht und Bedeutung verleiht – obwohl natürlich alle immer darauf pochen, dass das nicht wirklich so ist. Wir machen nur mit, gerade weil wir drüber stehen. Mit aufwendig dekorierten Poloshirts oder Hemden mit ultrasteifen Krägen und Manschetten funktioniert das – im übrigen im urbanen Umfeld – ja genauso gut. Mode ist oft ein sehr einfacher Weg, um zu zeigen: „Ich denke nicht“.
Und genau deshalb wäre es ja auch schön, wenn die Gestaltung von Plattencovers und anderen Marketingmaterialien wirklich so reflektiert vonstatten ginge, dass jede mögliche Anspielung einer Pose oder eines Fotos gründlich analysiert würde – dann gäbe es wohl weit weniger prekäre Kreative oder arbeitslose Kulturwissenschaftlerinnen.
Und was „Deutsche, Italiener und Japaner“ betrifft: Schaut doch einfach mal in die österreichische Motorrad-Zulassungsstatistik. Dort hat zwar KTM die Nase vorne, auf den Plätzen der noch relevanten Marktanteile über 5 Prozent folgen Honda, Vespa, Yamaha und BMW. (Und um das gleich klarzustellen: Mein Motorrad ist aus China. Also möglicherweise diktatorisch vorbelastet, aber hoffentlich faschismusfrei. Und es ist ein Einsitzer… Obwohl: Gerade habe ich festgestellt, dass einige Schraubenköpfe unerklärlicherweise mit „88“ beschriftet sind…  omg!) Bemerkens- und kritisierenswert wäre daran eher der Retro-Touch, der ein Bild aus den Siebzigern vermittelt – die Formulierung könnte von meiner Großmutter stammen (die, als Deutsche, im übrigen immer der Meinung war, “dass ‘die Italiener’ ‚uns’ verraten haben“).

Dann die Genderei: Ich habe mir lange wenig Gedanken über das Gendern von Texten gemacht. Auch heute finde ich es manchmal noch holprig, manchmal funktioniert es mit dem Binnen-I in allen Varianten schlicht nicht. Allerdings hat die durchschnittliche Anzahl von Tipp- und Rechtschreibfehlern (vor allem in Online-Zeitungen) meines Erachtens einen weit gewichtigeren negativen Einfluss auf die deutsche Sprache.
Aber seit ich mein erstes Magazin in der Schlussredaktion durchgehend gegendert habe (aus Platzgründen oft mit „_i“ statt mit ausformulierten männlichen und weiblichen Bezeichnungen), kann ich sehr wohl sagen, dass diese „i“ großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Texten hat: Den Vorspann für eine Story, in der keine Frauen explizit vorkommen, zu gendern, macht erst mal bewusst, dass hier keine Frauen vorkommen. Und umgekehrt erinnert das Gendern von weiblich dominierten Geschichten daran, dass das kein Frauen-Thema ist, sondern eines, in dessen Aufbereitung jetzt eben mal Frauen die Hauptrolle spielen.
Warum gehört das hierher? – Das Hymnen-Drama hat mit der Ausblendung einer weiblichen Formulierung begonnen und sehr schnell zu einem „Das war immer schon so“ und „mir san mir“-Status geführt. Dazu mischen sich Argumente wie „moderne starke Frauen brauchen keine Sonderbehandlung“, und Formulierungen wie „unsere Frauen“ (wem gehören die noch mal?) oder „geschätzte Damenwelt“ – was in meinen Ohren ziemlich gleichlautend ist mit „ich grapsche gern“.
Und jetzt rückt eine neue Phalanx, flankiert von Intellektuellen, aus und schlägt in die gleiche Kerbe. Ich halte selten viel von Normierungen, und das durchgehende Gendern mit Wortanhängseln funktioniert nicht immer, aber trotzdem muss doch klar sein, dass es hier weniger um Sprache als um Macht geht.
Mein Anti-Gender-Lieblingsargument – „Haben wir keine anderen Sorgen?“ – bringt seine Antwort gleich mit. Nein, haben wir nicht. Denn es geht hier um Bildung und Haltung, und diese sind Grundvoraussetzungen für ein freies und selbstbestimmtes Leben für möglichst viele Menschen.
Die Haltung drückt sich nicht durch die normgerechte Verwendung des Binnen-I aus, sondern durch die Anerkennung der dahinter liegenden Anliegen. Stattdessen vorauszusetzen, dass Disziplinierung und Selbstkontrolle so weit verinnerlicht sind, dass jeder und jede aus eigenem Antrieb sagen muss „Ich brauche das nicht“, ist Zeichen eines ähnlichen Gruppenbildungsreflexes wie das urbanisierte Tragen von Lederhosen, natürlich vollkommen gesinnungsfrei: Wir machen das, gerade weil wir, befreit von allen Klischees, darüberstehen – aber trotzdem nur dort, wo es alle machen. (An diesem Punkt muss ich immer daran denken, wie mich meine Eltern in den späten Siebziger-Jahren mit Lederhosen in eine englische Volksschule geschickt haben, völlig kontextfrei also. Nicht mit den coolen knielangen, sondern mit Hotpants im Ziegenpeter-Style. Glaubt mir, das war ein exotischer Auftritt – und Abhärtung fürs Leben.)
Und dass sich jemand auch wehren könnte, ist kein Grund, dem- oder derjenigen gleich das Leben schwerer zu machen und einen Grund zur Gegenwehr zu geben. Aber ich ernte ja auch immer noch erstaunte Blicke, wenn ich auf diversen Business-Events oder -Galas (Veranstaltungen, bei denen Macht im Spiel ist) zu späterer Stunde, wenn Hüftgreif-Ausleger ausgefahren werden, zugegebenermaßen völlig humorlos anmerke, dass ich glaube, dass nicht alle Frauen darauf stehen. – Ich bin immer seltener dort.

Krankheit

Und dann, das ist nur eine Randbemerkung, die entfernt auch zum Thema passt, taucht noch der gesunde Rausch wieder auf: “Wer will denn schon rauschfrei durchs Leben gehen?”, fragt der berühmte Videoblogger Robert Misik.
Der öffentliche Rausch ist ungefähr so weit Privatsache wie das Hantieren mit verklausulierten Nazi-Anspielungen oder demonstrative Anti-Gender-Positionen: Es bereitet die große Wohlfühl-Bühne vor, auf der wir all unsere Unzulänglichkeiten rechtfertigen können. Die Verharmlosung reduziert den Horizont, nach dem wir uns strecken müssen: “Macht doch nichts”, denkt sich der Alki, “siehst du, die saufen auch alle und es ist etwas aus ihnen geworden.” “Bin ich jetzt wirklich so empfindlich”, denkt sich der Angehörige des Alkis, der sich wieder mal für dessen Ausfälle entschuldigt hat und dessen Aussetzer zu kompensieren versucht, “wahrscheinlich muss ich nur ein bisschen entspannter sein und nicht so kleinlich.“ – „Mach doch nichts“, denken sich Gender-Gegner und -Gegnerin, „Das Binnen-I will ja eh keiner wirklich.“ „Muss ich jetzt wirklich um etwas streiten, das mir persönlich egal sein kann?“, fragen sich Betroffene.
Sportreporter, die siegreiche Sportler dazu nötigen, zu sagen, dass sie jetzt aber schon einen über den Durst trinken werden, hantieren mit der gleichen Anti-Stalinismus-Keule wie die Gender-Phobiker mit ihren „Diktatur“-Rufen. Irgendwie würde ich jetzt gern Putin fragen, was er davon hält.

Saufen tamma alle gern – da trifft sich der intellektuelle urbane Kolumnist mit dem rustikalen Opfer seiner Gesinnungskritik wieder. – Das ist mir ehrlich egal, Prost, meinetwegen; spannender ist: Hier treffen einander auch die Argumentationsmuster wieder. „Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Volkstümler, und weiss die Mehrheit hinter sich. “Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Intellektuelle und weiss die Mehrheit (inklusive der Volkstümler) ebenfalls hinter sich. – Die Position wird mit ein bisschen Ironie gewürzt, damit sie bloß nicht zu einer Haltung verkocht, und als natürlich in keiner Weise unreflektiert garniert – „wir wissen eh…”. Bloß: Machtfragen bleiben unberührt, und wir drehen uns immer schön im Kreis.

Wer will schon immer korrekt sein, wo Sexismus, Nationalismus und Alkohol doch so lustig sein können? – Eh niemand. Ein bisschen weniger dämlich würde reichen. Und schliesslich müssen wir ja zuspitzen, um weiter so lustige Kolumnen schreiben zu können. Des Lohns der Unterhaltsamkeit wegen auf Inhalte zu verzichten – tja, das ist eben Business.

Und weil wir uns stattdessen lieber ohne Haltung im Kreis drehen, gehen jetzt auch ein paar hundert Leute einer Organisation rund um abendländisches Kulturgut, die im übrigen vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes skeptisch beäugt wird und deren Vorstandsmitglieder in Turnerbund und FPÖ engagiert sind, unhinterfragt auf den Leim und unterstützen deren Binnen-I-Attacken. Bravo, und viel Spass dabei…!

Und weils etwas komplizierter geworden ist, hier noch die Zusammenfassung für Eilige:

Jemand gendert nicht, weil es seiner volkstümlichen Seele widerspricht. – „Nazi!”, „Landei!“, sagen die einen.
Andere gendern, weil sie sich gegen die volkstümliche Seele richten. – „Diktatur!“, „Stalinisten!“, sagen die anderen.
Und dann sagen alle: „Man wird doch wohl noch dürfen…“
Also so kommen wir nicht weiter. Vielleicht wollen wird das ja gar nicht. – Dann sollten wir’s halt auch einfach so sagen…

“iiiiihhhh, Content Marketing!” – Wie ist das jetzt mit journalistischer Qualität?

[su_dropcap]I[/su_dropcap]n den achtziger Jahren war ich viel mit dem Fahrrad quer durch Niederösterreich unterwegs, mit einem dieser hässlichen 80er-Rennräder, die jetzt aus mir unverständlichen Gründen Hipster-Traumteile sind (Puch Olympia war damals das äußerste; Francesco Moser war außer Reichweite).
Was mir dabei am häufigsten aufgefallen und offenbar langfristig hängen geblieben ist, waren die alten Emailschilder an Holzstadeln, die immer möglichst nah beim Ortsschild verkündeten: „Jeder hier liest gern Kurier“ und „Unabhängige Kronen Zeitung“, später „Neue Kronen Zeitung“. (Für Geschichte-Nerds: Die Krone heisst sein 1971 nicht mehr „unabhängig“, die Schilder waren aber offensichtlich für die Ewigkeit gemacht.)
Den Kurier hab ich kaum jemals jemanden lesen gesehen, und an den Krone-Schildern hat mich immer gewundert, was die Attribute „neu“ oder „unabhängig“ hier eigentlich bedeuten.

Lustigerweise sind das ja immer noch zwei Insignien eines Qualitätsjournalismus, der sich mit seiner eigenen Selbstdarstellung so schwer tut. Redaktionen pochen auf Unabhängigkeit, Reflexions- und Analyseskills und auf fundierte Meinungen. – Die sie damit anderen absprechen. Redaktionen etablierter Medien sind auf dem Weg, die neuen Mächtigen zu werden, gegen die sich die Pressefreiheitsdramen vor gut 160 Jahren gerichtet haben.
Deswegen noch mal der Reihe nach: Also was macht jetzt Qualität aus?

  • Unabhängigkeit: Der der Qualität verpflichtete Journalist macht sein Ding, unbeeindruckt von kommerziellen, politischen und anderen Einflüssen. – Müssten dann nicht von allen ignorierte Blogger, die niemandem Rechenschaft schuldig sind, der Inbegriff von Qualität sein? – Ok, es gibt ja noch gewisse Spielregeln, die die Branche diktiert…
  • Handwerk: Wenn wir die Regeln auch noch miteinbeziehen, dann müssten es ja handwerkliche Kriterien sein, die über Qualität bestimmen. Dazu gehören Recherchequalität, Ausgewogenheit, schreiberische und erzählerische Qualitäten – und eben alle Tricks, die man im Laufe eines Journalistenlebens lernt, mit denen sich eine Geschichte so hinbiegen lässt, wie man sie gerne haben möchte. – Das ist eine zweischneidige Sache: Handwerkliche Qualität sagt wenig über ideologische Qualität aus; eine handwerklich optimale Story muss ganz und gar nicht den Idealen eines ausgewogenen, unabhängigen und informierten Journalismus entsprechen (wobei: informiert wahrscheinlich schon – aber man muss ja nicht alle Informationen gleichermaßen weitergeben). Und: Um über handwerkliche Qualität reden zu können, müsste man sich mit Inhalten auseinandersetzen, unabhängig davon, woher sie kommen. Das verhindern oft schon der Standesdünkel und die schnell einstudierten neuen Reflexe („iiiiihhhh, Contentmarketing!“).
  • Anspruch: Man sollte etwas lernen können, wäre eine weitere denkbare Position. Anspruchsvoller Journalismus, der Zusammenhänge vermittelt und Erklärungen liefert und es vielleicht auch wagt, gegen die Erwartungen der Zielgruppe zu schreiben, hat einen starken Qualitätsanspruch – und ist zugleich reichweitenfeindlich, subjektivitätsgefährdet und oberlehreranfällig.
  • Exklusivität: Ja, diesen Punkt gibt es auch noch. Geschichten, die man sonst nirgends liest, können auch ein Zeichen von Qualität sein. Themen, die sonst niemand aufgreift, Positionen, die sonst niemand vertritt, oder Informationen, die sonst niemand verbreitet, können auch ein Zeichen von Qualität sein. Dabei treffen sich der Anspruchs-Anspruch und die handwerkliche Qualität – theoretisch. Wer die Exklusivitätsschiene am schnellsten und lautesten befährt, braucht wohl nicht erwähnt zu werden.

Die Liste lässt sich fortsetzen und ist natürlich nur eine Momentaufnahme. Diskussionen über die Medienzukunft strapazieren immer wieder den Qualitätsbegriff und koppeln sich stark an Einnahmenfragen und alternativen Finanzierungsformen. Um guten Journalismus machen zu können, brauche es eben Geld und Zeit. Das sind aber nur zwei von mehreren Einflussfaktoren.

Ich behaupte: Ein Medium alleine kann kein Qualitätsmedium sein. Dafür ist ein zeitgenössischer Qualitätsanspruch, der sich der Vielfalt an Perspektiven und Informationen stellt, zu hoch. Deshalb braucht es immer mehrere Quellen. Und deshalb ist jeder, der auf die Systemrelevanz seines Produkts oder seiner Gattung pocht, auf verlorenem Posten.

Und: Deshalb ist die wichtige Fragestellung auf der Suche nach zukünftigen Entwicklungen sicher nicht die nach print oder online

Shitstorm, est. 1877

Auch nicht schlecht: Die Meinungswut der Medienmachtmenschen kannte schon früh wenig Grenzen. Als bekannt wurde, dass Telefongespräche abhörbar sind, verstieg sich George Jones, damals Herausgeber der „New York Times“, 1877 zu einem blutrünstigen Leitartikel, der in folgender Passage gipfelte: „Eine Erfindung, deren Konsequenz die absolute Stille ist, kann gar nicht genug verdammt werden. Und während Gewalt immer abgelehnt werden sollte – sogar Gewalt zur Selbstverteidigung -, so besteht doch wenig Zweifel daran, dass der Tod der Erfinder und Hersteller des Telefons das notwendige Vertrauen wiederherstellen würde, das aus Sicht der Finanziers essentiell für eine lebendige Wirtschaft ist.“ – Fundstück aus „The European“

telefon

Liebe Crowd, ich habe ein Problem

[su_dropcap]D[/su_dropcap]as ist ein Outing: Liebe Crowd, ich habe ein Problem. Und zwar mit euch. Warum? – Die Krautreporter wurden stellvertretend für vieles bejubelt (nachdem sie auch selbst ordentlich geprügelt wurden). Sie haben Taschengeld gesammelt, um ein Medium zu starten. Ein wirklich vernünftiges. Mit guten Stories, guter Recherche und einer großen Portion Unabhängigkeit. Und zwar richtig viel Taschengeld.

crowd

Ich finde das gut, habe meine Mitgliedschaft bezahlt und bin mal gespannt auf das, was da kommt. Aber trotzdem stellt sich mir eine Frage: Was habt ihr vorher gemacht? Und was wird jetzt anders? Es geht bei dieser Frage nicht um die Krautreporter an sich und schon gar nicht um die Personen dahinter.
Nur: Wer bisher keine guten Stories machen konnte (obwohl er sie immer machen wollte) – inwiefern hilft dabei Taschengeld? Und wie genau unterscheidet sich Clickhunting von Content der den User interessiert (abgesehen davon, dass man vielleicht auf Slideshows verzichtet)? Und wenn die Inhalte die User wirklich interessieren, warum finden sie dann ihren Platz nicht in den „großen Medien“?
Nicht falsch verstehen: Erstens fällt mir auch wenig besseres ein. Zweitens halte auch ich viel von unzensuriertem Selfpublishing aller Art. Drittens habe ich schon oft in Crowdfunding-Projekte investiert. Und viertens wünsche ich mir auch Medien und Inhalte, die mich wirklich interessieren.
Aber ich glaube nicht daran, dass das kollektive „da fällt uns nichts ein“ der Verleger durch die Erweiterung des Kreises derjenigen, denen nichts einfällt, beseitigt werden kann. Ich halte den Versuch, Prinzipien zu verkaufen, nicht für besonders zielführend. Das ist jetzt nicht moralisch gemeint. Aber Unabhängigkeit oder Qualität sind toll für denjenigen, der unabhängig ist oder gern Qualität produziert, weniger für denjenigen, der die Unabhängigkeit anderer finanziert. Der Leser hat – sagt zumindest mein Bauchgefühl – zuwenig davon.
Anstelle von Prinzipien sind es immer noch Produkte, die verkauft werden können. Produkte sind Inhalt und ein Image, können eine Haltung rüberbringen und sind nützlich. – Weil sie sich an der Welt des Konsumenten orientieren, und nicht an der des Produzenten.
Noch mal: Ich hoffe auf viele tolle Stories, neue Erkenntnisse und neue Geschäftsmodelle und wünsche allen das beste. Aber ein bisschen kommt mir der Crowdjournalismus so vor, als würden Medienmacher jetzt das auf die Spitze treiben, wofür Hersteller von Konsumgütern schon lange gebashed werden: das Produkt auf den Produzenten ausrichten, und nicht auf den Konsumenten.

Klar bietet das, was ich hier gesagt habe, viele Angriffspunkte. Aber ich lass es trotzdem mal so stehen.

Souverän ist, wer über den Shitstorm verfügt

“Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.“ – Das ist keine Erkenntnis der letzten Wochen; der deutsche Philosoph Byung-Chul Han schrieb das vergangenes Jahr in Anlehnung an Carl Schmitts Sager „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt.“
Souverän ist also, wer die herrschende Ordnung mal kurz durchbrechen kann, sei es durch ein Machtwort von oben, das geltende Regeln ausser Kraft setzt und Spielraum für Handlungen und Entscheidungen (ohne die lästige Mitsprache aller) schafft, sei es durch den Umsturz einer Ordnung von unten.

Shitstorm

Der Shitstorm ist aber kein romantisches Revolutionsidyll. Es ist eine kurze, ins Leere gehende Aufregung, die nicht nur keine Entscheidungen herbeiführt, sondern meistens auch keine Fragen stellt. Auch das sind wir gewohnt: Wo jeder Medien technisch bedienen kann, kann jeder jederzeit mitreden; es könnte sich grundsätzlich jeder jede Information beschaffen (von ein paar zu schliessenden Lücken in der Informationsfreiheit abgesehen). Kommen wir deshalb zu besseren Entscheidungen? Nein; Transparenz überfordert erst einmal, eine Fülle von Informationen ist das beste Versteck für die entscheidenden, relevanten Informationen.
Davon profitieren – auf die Medienbranche reduziert – selbsternannte Meinungseliten, die leitartikelnderweise zu allem eine Meinung haben und diese durch den Hinweis auf Qualitätsinsignien ihres Arbeitsplatzes betonieren. Und, das ist der eigentliche Spass, anderen das Potential absprechen, es ihnen gleichzutun.

Nein, ich bin nicht der Meinung, dass alle Meinungen gleich reflektiert und fundiert sind, und ich sehe im Shitstorm kein gestalterisches Potential (Han im übrigen auch nicht, falls der Eindruck entstanden sein sollte). Aber ich halte auch nichts davon, derlei mit organisatorischen Mitteln unterbinden zu wollen, schon gar nicht in einer scheinheiligen Aktion derjenigen, die in Form von Traffic auf ihren Seiten am meisten davon profitieren.
Neu ist das ja auch nicht: Anspruchslose kommerzielle Medien, deren Hauptzweck darin besteht, Klischees zu bestätigen – jeder schreibt für die Klischees seiner Klientel – verstärken das Wir-Gefühl, in dem jeder immer recht hat. Er oder sie muss sich nur die passende Umgebung für seine Meinung suchen.
Blöderweise werden die Grenzen dieser heimeligen Meinungsuniversen immer durchlässiger. Das müssen Leitartikler zur Kenntnis nehmen, Radiomoderatorinnen, die aus einer kuschelig-unreflektierten Unternehmenskultur heraus eine ganze Nation von Musikschaffenden verunglimpfen, Travestiekünstler, die das vermutlich schon immer wussten und auch ohne Netz und Popularität schon öfter erfahren haben, und eben Politikerinnen und Politiker, die vermeintliche Traditionen herausfordern.
Beachtlich ist ja, dass diese drei Shit-Tsunamis in drei gesellschaftlich völlig unterschiedlichen Ecken entstanden sind. Argumentationstechnisch am spannendsten ist dabei schon das Bundeshymnen-Drama: Schritt eins – jemand verstößt gegen ein Gesetz und äussert damit nebenbei auch eine Gesinnung. Schritt zwei – jemand erinnert ihn daran, appelliert an das Gesetz und fordert eine Stellungnahme ein. Schritt drei – unterschiedliche Unterstützerfronten formieren sich. Schritt vier – Es sind so viele unterschiedliche Fronten im Gespräch, dass sich Shitstormer mühelos aussuchen können, welches Argumentationsklischees sie sich bedienen möchten („Wir brauchen das nicht“, „Haben wir keine anderen Sorgen“, „Recht hat er“, „Das ist gegen die Tradition” etc., um jetzt nicht in die ganz tiefe Dreckskiste zu greifen). Dabei zeigt sich wie so oft: Am stärksten ist die Meinung, zu deren Argumentation es am wenigsten braucht. Je näher sie bei Reflexen, Traditionen oder einem vermeintlichen Mainstream angesiedelt ist, desto leichter fällt es offenbar, sich ihr anzuschliessen. Und desto schwieriger wird es, abweichende Argumente vorzubringen, die dann zwei Dinge zugleich leisten müssen: Sie müssen erst einmal klar machen, dass Reflexe und Traditionen hinterfragbar sind, und sie müssen klar machen, dass sie eigentlich nicht darüber reden wollen, sondern über einen anderen – eigenen – Standpunkt. – In der Zwischenzeit gehen sich hier schon wieder ein paar tausend Rülpspostings aus.

Wer sind dann die eigentlichen Profiteure dieses Affentheaters? Ich gehe ja mal davon aus, dass niemand wirklich alle Kommentare liest. Man browst ein bisschen, gruselt sich, und wendet sich dann wieder anderen Themen zu.
Profiteure sind diejenigen, die diesen abstrakten Meinungswust für ihre Zwecke instrumentalisieren können. Sei es, indem sie sich bestätigt sehen und hier eine Welle der Unterstützung für sich reklamieren können – hinterfragen müsste man dabei, wer von wem unterstützt werden will, aber das setzt schon wieder zu viel Reflexion hinaus. Sei es, indem sich andere in ihrer Meinung bestätigt sehen, dass die Meinung anderer, die nicht den sanktionierten Meinungseliten angehören, wertlos ist. Oder sei es, indem die eigentlich Betroffenen das Kapital daraus ziehen, ein relevantes und umstrittenes Thema für sich verbucht zu haben.
Wer jedenfalls nicht davon profitiert, sind die Shitstürmer selbst. Vielleicht verschafft es manchen kurze Befriedigung, mal deutlich die Meinung gesagt zu haben. Die geht aber so diffus unter, dass nichts bleibt.

Souverän ist, wer den Shitstorm beherrscht. nachdem der Shitstorm nichts anderes ist, als eine flexibel verwendbare Projektionsfläche, hat sich damit an den Machtfragen noch nicht viel geändert. Deutungsmacht hat nicht der, der stürmt, sondern der, dem zugehört wird, wenn er über den Shitstorm redet. Und dabei laufen wir ja noch immer ganz in den eigenen Bahnen.
Wer an der Gehässigkeit von Shitstorms etwas ändern möchte, muss wohl etwas tiefer ansetzen als bei der Gestaltung von Registrierungsformularen für Postingseiten aller Art. Am besten, vor allem wenn er oder sie in der Kommunikationsbranche zuhause ist, an seiner eigenen Arbeit. Und Haltung. – Sind Reflexe und Instinkte willkommenes Kapital, das wir uns immer wieder neu zunutze machen können, indem wir die entsprechenden Klischees bedienen? Oder sollten wir uns mit der Idee anfreunden, dass wir mit der Aufklärung und dem Plan, Vernunft in der Welt zu haben, noch nicht so weit sind, wie wir es gern hätten – nicht zuletzt deshalb, weil es bequemer und lukrativer ist…

 

gabaliergate

Halb so schlimm? Tagcloud aus den Postings 10.000 – 16.000 zum Heinisch-Hosek-Post, bereinigt um Füllwörter (der, die das, und) und Facebook-Funktionen („Like“, „posted … hours ago“ etc.) und durch kreative Rechtschreibung etwas verunreinigt. – In der Menge relativiert sich auch der Hass und wird wieder leichter instrumentalisierter, als wäre es ein normales gesundes Volksempfinden, das hier spricht. Was auch immer das sein soll.