Digitales Storytelling – Warum ich Comics lese

Digitales Storytelling – Warum ich Comics lese

Die schönsten Stories wachsen dort, wo es keine Grenzen gibt.

Storytelling ist ein Modewort. Punkt. Eine Strategie, Inhalten ein bisschen Relevanz zu verleihen, die Verpackung aufzupolieren.
Wer den Bonus, der in diesem Begriff mitschwingt, wirklich für sich beanspruchen will, der muss schon den ganzen Weg gehen. Storytelling ist nicht schummelnde Kosmetik, die aus fadem Alltag mit selektiven Facebook-Posts glamouröses Highlife macht, und auch nicht zögerliches Aufrunden von Fakten mit ein bisschen Making Of. Nein, iPhone-Selfie-Videos im Corporate Blog sind auch kein Glanzbeispiel von Storytelling.

Storytelling Comics

Die schönsten Stories wachsen dort, wo es keine Grenzen gibt. Deshalb funktioniert Film noch immer – ein Medium bedient alle Sinne, um eine Welt zu schaffen, auf die wir uns einlassen können. Comics haben weniger Mittel zur Verfügung, um diese Welt zu schaffen – um so größeren Respekt habe ich vor Comicproduzenten und den Welten und Stories, die sie aufs Papier bringen.
Die Ausgangslage ist ein leeres Blatt – es gibt keine Kulissen, Szenerien und Landschaften, auf die Film setzen kann. Und das Ergebnis sind noch nie dagewesene Perspektiven, Erzählformen, die in anderen Genres nicht funktionieren würden, Universen, die viele Angebote für die Phantasie machen, aber ihr nichts vorschreiben, und nicht zuletzt eben Stories.
Comicautoren können Geschichten weder beschreiben noch erzählen – sie müssen sie machen. Die Story muss direkt auf dem Blatt stattfinden, es gibt keine langen Textpassagen, keine  Musik, keine Specialeffects – nur ein Bild nach dem anderen und ein paar Wortfetzen in Sprechblasen dazu.
Und trotzdem hat es das Genre geschafft, zu einer breiten Entertainmentindustrie zu werden – auch wenn natürlich die Löwenumsätze nicht gerade mit den Glanzstücken gemacht werden, und auch wenn die Industrie im Vergleich zu den großen Konkurrenten Musik und Film nicht einmal ein Mauerblümchen ist.
Wer die Nase rümpft und hier Bildgeschichten für Analphabeten sieht, kann statt Comic auch gern den kulturell staatstragenderen Begriff Graphic Novel verwenden. Und Graphic Novels wie die journalismuskritischen Kriegsdokumentationen von Joe Sacco lesen: Sacco verknüpft minutiöse historische Dokumentationen und Recherchen vor Ort in sich über mehrere hundert Seiten erstreckende Comicbücher, die unterschiedliche Erzählformen ausloten, die gleiche Geschichte aus mehreren Perspektiven darstellen und statt mit zwangsläufig wertenden Textanalysen mit simplen Schwarzweisszeichnungen das Drama seiner Geschichten ausdrücken.
Mir ist in meinem Respekt vor Comicautoren aber keineswegs die historisch-politische Dimension (Achtung, kultureller Anspruch!) wichtig; meine Begeisterung für ihre Erzählkunst gilt genauso Scott Snyder (Batman) oder Dan Slott und Stan Lee (Spiderman).
Stan Lees „How to write comics“ ist eine großartige Storytelling-Anleitung, die weit über Comics als Anwendungsfall hinausgeht.

Ich sehe erfolgreiche Comics als Musterbeispiele für gelungenes Storytelling:

  • Es gibt begrenzte Möglichkeiten, die virtuos genutzt werden müssen.
  • Es gibt Regeln (Text, Sprache, zwei Dimensionen), innerhalb derer sich die Erzähltechniken bewegen müssen (natürlich nicht ohne sie zu biegen oder neu zu erfinden).
  • Comics sind Stories, die es auf den ersten zwei oder drei Seiten schaffen müssen, ein Universum zu entwerfen, das den Rahmen für die Geschichte bietet: Wer ist der Held? Welche Welten treffen aufeinander? Welches Problem kommt auf uns zu?
  • Comicprotagonisten müssen als Marken funktionieren – sie haben begrenzten Spielraum, sich zu erklären, aber ihre Motivation und ihre Ziele müssen klar sein, ihre Gegner und Widerstände ebenso.
  • Und Comics sind auf den Leser angewiesen – seine Phantasie muss mitspielen. Und damit das funktioniert, muss der Autor der Phantasie des Lesers gegenüber fair sein.

Stan Lees Drei-Akt-Struktur für packende Comic-Dramaturgie sehe ich dann auch als grundlegendes Muster  für Storytelling-Projekte.

  • Schritt eins: Starker Auftritt. Es gibt wenig Zeit, Interesse zu wecken und einen guten Eindruck zu machen.
  • Schritt zwei: Warum ist diese Story spannend, was kann ich hier erwarten? So wie im Comic auf den ersten Seiten klar werden muss, dass diese Geschichte nicht so ohne weiteres gut ausgehen wird, weil hier Welten aufeinanderprallen, unterschiedliche Interessen aufeinander treffen und verborgene Motive herrschen, muss auch dem User klar werden: Hier gibt es mehr. Hier gibt es Inhalte, mit denen ich mich auseinandersetzen kann, hier kommt noch etwas nach, und vor allem – hier geht es um etwas, das mich wirklich interessiert. Das kann an der Sache selbst, oder an ihrer Aufbereitung liegen. Und hier ist auch der Punkt, an dem sich diese Vorgangsweise von üblichen Content- und Story-Maximen unterscheidet, die alles unter die Prämisse der Einfachheit stellen. Einfachheit, der Verzicht auf Komplexität sind oft der sicherste Weg, langweilig zu werden. Ob der Zuschauer im Kino einschläft ist grundsätzlich egal, sobald er sein Ticket bezahlt hat – das Ziel von Unternehmensmedien ist aber nicht deren Konsum, das Ziel liegt einige Schritte weiter; der User soll nachher etwas wissen, tun oder gar kaufen.
  • Schritt drei: Showdown. Seien wir realistisch: Selbst wenn Interesse geweckt wurde, wird es nicht ewig weiterlaufen. Die Geschichte muss in einem Showdown zu Ende gebracht werden, der keine Fragen offen lässt – ausser denen, die für eine eventuelle Fortsetzung benötigt werden. Jede Kampagne kommt einmal zu  einem Ende; der Unterschied in der Vorgangsweise ist: In diesem Ansatz ist der Showdown Teil der Geschichte und hat damit auch Einfluss darauf, wie die Geschichte selbst verläuft.

So weit die Theorie. Beispiele gibts in unseren Cases.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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