Carlos Katzenjammer

Die da oben und ihre Unfähigkeit, auf Menschen jenseits der eigenen Szene einzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihre Sorgen zu verstehen – das zu analysieren ist ein spannendes Unterfangen, wenn es nicht von einem ideologisierenden Populisten kommt, sondern von Carlo Strenger, der als Essayist und Kolumnist schon einige Jahre mit der Welt hart ins Gericht geht.
Sein letztes Buch, „Zivilisierte Verachtung“, war eine Abrechnung mit falscher Toleranz und Korrektheit und zugleich ein Aufruf, die Arbeit der Aufklärung fortzusetzen und ernstzunehmen.
Gegen das Anliegen gibt es wenig einzuwenden; warum das ausgerechnet über Verachtung passieren soll, bleibt allerdings ein wenig zweifelhaft. Verachtung beendet Beziehungen, statt sie zu beginnen; verachten können Gleichgesinnte am besten geschlossenen Gesellschaften, und Verachtung ist auch nicht gerade ein fördernder oder positiver Kommunikationsstil.
Dazu habe ich schon einiges gesagt; hier möchte ich nur noch mal betonen: Natürlich muss nicht jeder Unsinn gleich behandelt werden wie nachvollziehbare und logisch strukturierte Argumente. Mit Verachtung wird man allerdings weniger jemanden überzeugen noch eines besseren belehren; Verachtung als Reaktion und Taktik dient ebenso nur der eigenen Zufriedenheit wie das Gefühl, eine „guter“ und toleranter Mensch zu sein.

Geringschätzung ist Teil der Gruppenidentität von Eliten

Auf den ersten Seiten von “Diese verdammten liberalen Eliten” klingt es auch so, als hätte Strenger sich die Sache anders überlegt. Er kritisiert liberale Eliten für ihre Unfähigkeit, Realitäten und Lebenssituationen anderer wahrzunehmen, für die fehlende Bereitschaft, sich mit ganz praktischen Alltagsproblemen (und man kann ergänzen: strukturellen Schwierigkeiten) auseinanderzusetzen. Er kritisiert auch die Tendenz zu herablassenden Reaktionen und stellt ein Zunehmen von Distinktionsriten und der Betonung kulturellen Kapitals fest.
In einem Exkurs zeichnet er sogar Personas von Vertretern der liberalen Elite, die er aus Patientinnen seiner Praxis als Psychoanalytiker zusammensetzt. – Diese super erfolgreichen und weltgewandten Menschen haben also auch Zweifel, erfahren wir, und sie leiden darunter, dass sie nicht nur von außen starkem Erfolgsdruck ausgesetzt sind, sondern auch an sich selbst den Anspruch stellen, die Welt verändern zu müssen, einen Fußabdruck hinterlassen zu müssen.

So weit, so gut.

Vage Hoffnung: Die anderen mögen „endlich begreifen”

Dann zerfällt Strenger Argumentation etwas. Während er eben noch erklärt hat, dass dieser Erfolgs- und Größendruck dem Erkennen realer Probleme realer anderer Menschen im Weg steht, Empathiemangel, Tunnelblick und Arroganz kritisiert hat empfiehlt er dann doch wieder sein Konzept zivilisierter Verachtung als angemessene Reaktionsform. Denn die Verachtung solle sich ja nicht gegen Menschen richten, sondern gegen die Idee, denen diese anhängen. Das ist allerdings ein Problem. Denn gerade weniger gebildeten, weniger diskurserprobten Menschen fällt es schwerer, zwischen der Kritik an einer Idee (die vielleicht gar nicht ihre ist, wie im Fall von Religion) und der Kritik an sich selbst zu unterscheiden.
Schmerzhaft ist, wenn Strenger seine Empfehlung zu zivilisierter Verachtung mit der Erwartung verknüpft, „die Wähler“ mögen „irgendwann begreifen“.

Welche Art von Bildung braucht es?

Strenger plädiert denn auch für mehr und umfassendere Bildung – sowohl für die Eliten als auch für alle anderen. Dem kann man grundsätzlich nicht widersprechen, im Detail kann ich allerdings wieder nicht mit. Das hat zwei Gründe:
Erstens plädiert Strenger für eine Erweiterung des Bildungskanons, der auch mehr sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Knowhow sowie Mathematik und Statistik umfassen müsse, und sich nicht mehr auf Geisteswissenschaften konzentrieren solle. – Geisteswissenschaften sehe ich schon lange nicht mehr im Zentrum des praktischen Wissensuniversums, dafür fehlt mir Informatik (gut das könnte man noch mit einer Kombination aus Mathematik- und Wirtschaftsknowhow ersetzen).
Der größere Widerspruch liegt für mich darin, dass Eitelkeit, Arroganz, Spott und das dauernde Kratzen an den Leistungen anderer die unabdingbaren Kernelemente jeder Form von elitären Gesellschaft ist. Nehmen wir nur die akademische Welt, in der es immer nur um Exzellenz geht, darum, besser zu sein als andere, andere überwinden und auch ein wenig bloßstellen zu wollen – darauf beruht akademische Forschung und Karriereplanung. Dank dieser Dauerwettkampfes haben auch nur sehr weniger ForscherInnen Interesse daran und Energie dafür, etwas außerhalb ihres Fachgebietes und ihres direkten Wirkungskreises zu bewegen.
Für wirtschaftliche Eliten gilt das ähnlich – Anwälte, Banker und andere Mitglieder der Finanzelite sind eher oft der Inbegriff des bildungsmäßig unkultivierten Menschen.
SpezialistInnen müssen außerdem SpezialistInnen bleiben, um exzellent sein zu können. Der Versuch, die mehr als GeneralistIn zu betätigen, führt zu unerwünschten Blößen schließlich ist auch strukturiertes Denken ein spezielles akademisches Fach (wenn wir schon in elitären Kreisen bleiben; es nennt sich Philosophie).
Zuletzt ist Strenger zwar zuzustimmen, dass Entscheidungen aufgrund bewusster Abwägungen und anhand der aktuellsten und am besten gesicherten Erkenntnisse getroffen werden sollen, allerdings ist das allein keine politische Kategorie. Hinter politischen Fragen sollte immer noch die Frage stehen, wie wir leben wollen – und auf die gibt es keine rein wissenschaftliche Antwort.
Die Antwort wird vermutlich immer schwieriger, je weiter sich Eliten vom Rest der Welt entfernen und darauf warten, dass dieser Rest eben irgendwann begreifen möge (siehe oben).

Was bleibt dann?
Schöner wäre die Welt natürlich, wenn wir alle Eliten wären. Aufgeklärt genug um nicht in falschen Traditionen zu verharren, entspannt genug, um Bräuchen und Traditionen Raum zu geben, selbstbewusst genug, der Welt nicht um unseretwillen unseren Stempel aufdrücken zu müssen, gebildet und flexibel genug, um immer und überall unser wirtschaftliches Auskommen zu finden.

Strenger schließt denn auch damit, dass Gesellschaften in Bildung investieren müssen, und dass Eliten in den Ring steigen und Diskussionen aufnehmen müssen. Das wird allerdings wiederum nur ohne Verachtung funktionieren.
Und die Idee, dann gleichsam alle über Bildung in Eliten zu transformieren, ist ja ein geradezu sozialistisches Ideal. Oder das Ideal eines aufgeklärten Kapitalismus. Aber das wird dann schon eine andere Geschichte.

Journalismus und der fließende Übergang zur Schizophrenie

Eine Partei engagiert eine Coverband und ist mit deren Repertoire nicht zufrieden. Ok, das hätte man vermeiden können.
Ein Musiker beschwert sich daraufhin und redet dummes Zeug, das niemand außer seinen Fans mitbekommen hätte.
Eine Journalistin greift diese dumme Zeug auf und hebt es in die Zeitung, wo viel mehr Menschen davon erfahren.
Die gleiche Journalistin schreibt dann in der gleichen Zeitung darüber, dass der Musiker dummes Zeug redet, das es nicht der Rede wert wäre, darüber zu reden, geschweige denn, sich zu echauffieren.

Man könnte sich Dinge fragen.

Aber in der Zwischenzeit hat sich schon der Bundeskanzler eingeschaltet und festgestellt, dass es sich hier wirklich um eine Staatsaffäre handelt.

Bret Easton Ellis, White – über das Unbehagen in der weißen Kultur

Bret Easton Ellis bringt mit „White“ sein erstes Buch seit über zehn Jahren heraus. Die Werbung verkauft „White“ als Auseinandersetzung eines Starautors mit Social Media und lässt eine Auseinandersetzung mit Entwicklungen in Diskurs und Medien und deren Auswirkungen auf – naja, wichtige Dinge eben, erwarten.
Das leistet das Buch nicht ganz.
„White“ ist eher das Zeugnis des Unbehagens eines alternden Starautors mit neuen Werten und Prioritäten. Ellis ist Mitte fünfzig und war es gewohnt, lange entlang des Zeitgeists zu schreiben. Seine Porträts der 80er Jahre ließen sich mühelos auch in die 90er Jahre hinüberretten – zumindest für die Szenen, über die Ellis schrieb. Später, als das Jahr 2000 auch schon länger vorbei war, erhöhte man einfach die Dosis der Psychopharmaka.
Ich halte Ellis keinesfalls für ein One Hit Wonder – im Gegenteil, ich fang Lunar Park (2009 erscheinen) auf allen Ebenen um Hausecken besser als American Psycho; eigentlich ist Lunar Park für mich bis heute Ellis’ einzig wirklich gutes Buch.
Insofern schreibt Ellis kein Klagelied eines auf dem Abstellgleis Gelandeten, hier spricht eher das ehrliche Staunen desjenigen, der feststellen muss, dass die aktuelle Zeit mich mehr die seine ist.

Die Ratlosigkeit der Entertainment-Elite

„White“ hat starke Momente. Etwa dann, wenn Ellis erklärt, dass er die Lust verloren hat, zusammenhängende Gedanken und Storys zu entwickeln, wenn nichts altmodischer und unattraktiver ist als ein Roman. Wenn Kleinteiligkeit der Königsweg zur Aufmerksamkeit ist und damit auch zu immer kleineren Formaten und letztlich kleineren Gedanken führt. Wenn auch der unhinterfragte Bestsellerautor, der mehrfach bewiesen hat, dass er kommerziell erfolgreich sein kann, auch ohne jede sich anbietende PR-Welle zu surfen, angesichts kultureller Entwicklungen rat- und lustlos wird.

Dann biegt er allerdings wieder ab und verliert sich auf den nächsten mehr als hundert Seiten in popkulturellen Rants und Referenzen, die ich schon in seinen Romanen immer wieder langweilig fand. Es ist auch ein recht passend, dass diese Rants – wenige Seiten nachdem Ellis zunehmende Beliebigkeit beklagt hat – ihrerseits vollkommen subjektiv und beliebig sind. Als Leser staunt man eher über den weitgehend distinktionslosen Pop-Geschmack des sonst so bissig kritischen Ellis, wobei ich zumindest auch sagen muss: 85 Prozent der Filme und Musikveröffentlichungen, die Ellis als epochal und stilbildend referenziert, kenne ich nicht, weitere zehn Prozent sind mir reichlich egal, auf den Rest können wir uns einigen. – Das, um kurz abzuschweifen, zeigt einerseits die angesprochene Beliebigkeit aber es zeigt auch, dass die manchmal so weltumspannend und weltbeherrschend scheinen US-Popkultur über weite Strecken auch nur ein lokales US-Phänomen ist.

White – wie reinweiß oder wie nicht schwarz?

Wenn Ellis dann wieder auf seine Spur findet, geht es mit ein paar Rants über Millenials und Snowflakes weiter, über Meinungen und Beleidigungen und darüber, was man den eigenen Überzeugungen widersprechenden Meinungen und Kunstwerken man aushalten können sollte.
Ellis schreibt dabei nicht über politische Korrektheit – so platt wird er nicht. Er beschreibt eher eine Wohlfühlkultur, die keinen Widerspruch erträgt, die keine Schattierungen anerkennen will und die bei jeder Gelegenheit nach den großen Keulen ruft. Trump zum Beispiel ist für Ellis nur ein Achselzucken wert. Als bekennender Nichtwähler ist der Präsident nur ein weiterer Präsident, der auch wieder Geschichte sein wird – während sich das Land über die richtige Einstellung zu Trump zerstreitet; am lautesten streiten für Ellis dabei die, die am wenigsten davon betroffen sind.
Darin ist wohl auch ein Hinweis auf die Wahl des Titels zu sehen: „White“ verweist einerseits darauf, dass Nuancen und Schattierungen nicht gerade die Stärken unserer Zeit sind. Zugleich steht der Titel aber wohl auch dafür, dass die meisten von Ellis beschriebenen Symptome die Probleme einer weißen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft sind. So interpretieren dass zumindest einige Rezensenten, die sich dafür aber auch der Frage aussetzen müssten, ob sie etwa glauben, dass diese kränkelnden Eigenschaften etwa in anderen Bevölkerungsgruppen, in denen man noch andere Sorgen hat, nicht auftreten würden.

Von Ellis ist hier keine Antwort zu erwarten. Er beschreibt, analysiert aber nicht. Er beleidigt wohl viele, urteilt aber nicht. Er will weder vorwärts noch zurück in eine bessere Zeit. Aufgeklärte Europäer sind da eher an Taten orientiert. Von klein auf an Psychopharmaka gewöhnte Westküstenbewohner sehen dem Drama entspannt von der Designercouch aus zu.
Man kann durchaus einen Schritt weitergehen, als Ellis es in seinem Buch vorzeigt. Aber ich finde es auch anerkennenswert, dass jemand, der noch immer mit der Axt und der Kettensäge eines American Psycho im Kopf nicht mit der merkwürdigen Besserwisser-Rage eines Carlo Strenger schreibt (die von manchen Rezensenten beschriebene Wut habe ich in „White“ nicht gefunden).
Und noch besser finde ich, dass Ellis auch in einem Nonfiction-Buch Entertainer und Bestsellerautor bleibt und sich nicht zum mäandernden Gesellschaftsphilosophen aufschwingt. Da bleibt noch genug Luft.

Frédéric Beigbeder, Michel Houellebecq – Die letzten Männerromane

Beigbeder Houellebecq

Der Protagonist fasst einen einschneidenden Entschluss,  löst sich von Fesseln, die ihn zurückhalten, verabschiedet sich von allen Gewohnheiten, vielleicht ist er auch ohnehin schon Kraft Drogenkonsums oder schlechter Charaktereigenschaften eher ein Außenseiter, und macht von da dan etwas neues, von da an dreht sich vieles nur noch um ihn.
Das ist das Muster vieler Romane, die wir allesamt nicht wirklich mit Freude gelesen haben. Sie sind manchmal in ihrer Fabulierkunst und ihren Erzähldetails spannend, manchmal auch langwierig, banal und fallweise selbstentblößend unangenehm (allerdings nicht als aufdringliche Mahnmale, sonder als peinlich berührende Platitüden). Meist sind es Männerromane. Sie handeln von Männern und sind von Männern geschrieben.
Frederic Beigebender und Michel Houellebecq, die beiden meistbesprochenen französischen Autoren der letzten Jahrzehnte, haben jetzt ihre Versionen des ultimativen Männerromans vorgelegt – lustigerweise innerhalb kurzer Zeit.

Frédéric Beigbeder: Aussteigen, wenn es am schönsten ist

Beigbeders „Une Vie sans Fin“ ist eine weitere Variante der Beigebender-Story und des erfolgreichen Werbe-/Medien-Fuzzis, der unvermittelt in einen Abgrund blickt und daraufhin einen radikalen Rundtrip startet. Diesmal ist Beigbeders Charakter älter, Vater, und sucht, eben wegen seiner Rolle als Vater, die Unsterblichkeit. Der Trip führt ihn, großteils in Begleitung seiner Tochter, zu allerhand medizinischen und esoterischen Gurus des ewigen Lebens.
Er ist dabei erstaunlich sanft und gelehrig, wird durch die Lieber von seiner starrsinnigen Suche nach der Unsterblichkeit abgebracht (wiederverliebter Alleinerzieher!) und bleibt sogar in dieser Beziehung – ohne sie infrage zu stellen und ohne sich dadurch eingeschränkt zu fühlen. Sogar dann noch, als sie seinem Unsterblichkeitsprojekt zunehmend distanzierter gegenübersteht.

Michel Houellebecq: Untertauchen, wenn es unerträglich ist

Houellebecq und sein Protagonist aus „Sérotonine“ sind dagegen nicht so entspannt. Er ist mit einer 20 Jahre jüngeren Frau zusammen, die Beziehung, die schon lange keine mehr ist, macht beide nicht glücklich, und nach ein paar gedanklichen Ehrenrunden (soll er sie umbringen? Soll er sich umbringen?) entschließt er sich, unterzutauchen und als U-Boot in den Hotels von Paris und Umgebung zu leben. Dabei hängt er Gedanken über vergangene Beziehungen nach, trifft auch einige Frauen wieder (außer der einen, die ihm wirklich wichtig war, die stalkt er nur), besucht Freunde (und gerät dabei in bewaffnete Proteste verarmter adliger normannischer Großgrundbesitzer und Viehzüchter) und trinkt ziemlich viel. Einzige längerfristige Bezugspersonen sind der Arzt, über den er Antidepressiva bekommt, und die Rezeptionistin des Hotels – er kann nicht so oft Hotel wechseln, wie er möchte, weil er als schwerer Raucher auf immer seltener werdende Raucherhotels angewiesen ist.

Ich habe beide Bücher gern gelesen – obwohl die hundert Mal erzählte egozentrische Ausreißerstory, an deren Ende oft eine Frau steht, eher flau ist. Von Courage reden doch alle, das Verlassen der Komfortzone ist doch, glaubte man den Scharen von Motivationstrainern rund um uns, eine Überschreitung, die jeden Tag für das Verlassen der Wohnung, ja sogar schon des Betts notwendig ist – und es sind sehr egozentrische, manisch persönliche Storys.
Bei Beigebeder retten immer wieder großartige Formulierungen und neue Gedanken darüber hinweg, bei Houellebecq musst ich zumindest öfters den Impuls unterdrücken, jetzt doch mal schnell weiterzublättern (ich hab dann langsamer weitergeblättert).

Beide Bücher sind fallweise begrüßt worden, fallweise als übler Machokram abgetan worden. Männer, die sich obsessiv mit sich selbst beschäftigen – ok, das ist nicht für alle interessant. Wenn man selbst auf die fünfzig zugeht, ist das möglicherweise ein Grund mehr, dem aufgeschlossen gegenüberstehen.
Beigbeders Charakter ist aber, wie gesagt, für seine Verhältnisse erstaunlich sanft. Natürlich gehört ein Maß an Selbstverliebtheit dazu, unsterblich sein zu wollen – aber er gibt für die Suche nach dem ewigen Leben immerhin eine erfolgreiche YouTube-Show auf, schränkt Alkohol und Drogen ein und spricht darüber mit seiner Tochter.
Houellebecq Hauptfigur ist da schon ein anderes Herzchen. Er ist einsam, wenig menschenfreundlich, säuft, raucht, braucht Antidepressiva, kriegt keinen mehr hoch, münzt das in eine gewisse Frauenfeindlichkeit um, bringt das Erbe seiner Eltern durch und spinnt in einsamen Nächten abstruse abstoßende Theorien, wie er vielleicht doch diese eine Jugendliebe wieder rumkriegen könnte (Single ist sie ja, weiß er aus Beobachtung, aber ein kleines Kind ist ein Störfaktor …)
Manche Kritiken haben hier Männlichkeit, ein Plädoyer für einen unkorrekten asozialen Machismo reingelesen. Das halte ich für hirnrissig lächerlich, wer allen Ernstes in Beigbeders krankem Psycho eine positive unkorrekt freie Identifikationsfigur sieht, hat dieses Buch nicht mal annähernd zu Ende gelesen. Oder kann sich nicht mit der Idee anfreunden, dass Autoren auch andere Charaktere und Szenarien entwickeln als die, die sie selbst sein wollen. Diesen Typen mag man nicht, er ist quälend schlecht und unangenehm und er leidet.
Die Figur ist ein dramatischer Loser. Das ist auch im Lichte der Ansicht, auch Houellebecq sei ein (Vor)Denker der neuen Rechten spannend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Neurechte eine rechte Freude mit den Figuren von Houellebecq hätten. Es sind verkommene renitente Krätzen, die nichts Glorreiches an sich haben. Und auch die Aussagen einer Romanfigur (nicht einmal des Erzählers) lese ich nicht als Wahrheit, die der Autor zu verkaufen versucht – sondern als Merkmale eines Sicht entwickelnden Charakters.
Ich habe da möglicherweise einen gewissen Startvorteil, weil die frühen Houellebecq-Bücher aus verschiedenen Gründen an mit vorübergegangen sind – ich kann ihn also lesen, ohne sexuell explizite Eskapaden zu erwarten, oder, so wie die Welt, die absterbenden Phantasien eines älteren Mannes mit erektiler Dysfunktion als sexuelle Offenbarungen zu lesen.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich nicht alles persönlich gut und angenehm finden muss, was ich lese – ein Problem im Umgang mit Kulturtechniken, das Bret Easton Ellis zu seinem neuen Thema gemacht hat.

Bei Beigebeder nimmt die Sache dann noch mal ein versöhnliches Ende, bei Houellebecq diesmal eher weniger. Beides sind Aussteigerszenarien von Midlifecrisis-Machos, denen man auch ein wenig mitleidig zusieht. Beigbeders Charakter ist wandlungs- und lernfähig, er hat es nicht mehr notwendig, sich mit unangenehmen Dingen auseinanderzusetzen und braucht nur die Liebe, die ihn befreit (ja, so kitschig kann das sein). Für Houellebecqs Figur geht es nur noch bergab, er ist auf der Flucht vor einem unangenehmen Leben und findet auch dabei keinen Ausweg. – Die klassische Heldenreise als männliche Erzählform hat glücklicherweise endlich ein wenig ausgedient; das Aussteigerszenario, in dem dann nichts passiert, außer eben ausgestiegen zu sein, ist in seiner Selbstreferentialität aus ein wenig fragwürdig.
Und ohne die beiden Bücher irgendwie für politisch problematisch oder als Beispiele eines mit lebensverlängernden Maßnahmen traktierten Machismos gelesen zu haben, habe ich mir beim Lesen öfter gedacht, ich müsste dringend wieder mehr Bücher von Frauen lesen.

“My first Coup d´Etat” – Afrikas verlorene Jahrzehnte

John Dramani Mahama My first Coup dEtat

Der Titel ist schon mal griffig – „Mein erster Staatsstreich“ muss man erst toppen. Mahama hat den Staatsstreich in Ghana 1969 als Nkrumah gestürzt wurde, als Siebenjähriger miterlebt. Sein Vater, damalsRegierungsmitglied, landete for ein Jahr im Gefängnis.
Mahama, selbst von 2012 bis 2017 Präsident Ghanas, schreibt in dem 2012 erschienen Buch lose autobiografische Skizzen über seine Kindheit während der verlorenen Jahrzehnte Afrikas. Ende der 60er Jahre – einige Jahre nach den ersten Unabhängigkeitserklärungen – bis Ende der 80er Jahre war für viele afrikanische Staaten eine von Umstürzen, Militärdiktaturen und korrupten Putschisten und Diktatoren geprägte Zeit.
Mahamas Skizzen sind großartig zu lesen, geben Einblick in seine persönliche Geschichte, in die schnell wechselnden Hohen und Tiefen einer ghanaischen Biografie (sein Vater war Minister, geächteter Ex-Politiker, erfolgreicher Unternehmer und dann wieder verarmter Flüchtling, erst in der Elfenbeinküste, dann in Nigeria und schließlich in London) und in die Abenteuer afrikanischer Kindheiten.

Ein paar Streiflichter aus dem bunten Panorama:

Mahamas Vater ging nur zur Schule, weil der Distriktsgouverneur darauf bestand, denn zumindest ein Enkel des letzten Chiefs musste der Vorbildwirkung halber die Schule besuchen, wenn schon die Söhne die Schulbildung verweigert hatten.
Die Rich Kids auf dem Land erschreckten Dorfbewohner damit, dass sie ihnen, wenn sie zu Besuch kamen, eiskaltes Wasser aus dem Kühlschrank servierten.
Sozialistische Utopien, die sich in vielen gebeutelten afrikanischen Ländern entwickelten und von der UdSSR gerne gefördert wurden, nahmen dank der in den 80er Jahren häufigen Moskau-Stipendien für afrikanische Studenten ein jähes Ende.
Von der Idylle am Land und ersten Black Power-Ansätzen bis zu Militärterror und Lynchjustiz für Taschendiebe sind es in Mahamas Erzählungen fließende Übergänge.

Hinter all dem steckt der ständige Wunsch, zu lernen, zu verändern, zu verbessern, ein besserer Mensch zu sein, für eine bessere Gesellschaft zu arbeiten. Ich habe noch nie so ein schönes Buch von einem aktiven Politiker gelesen. Und keines, dass mich auch persönlich so von der politischen Arbeit des Autors überzeugt hätte.

John Dramani Mahama wurde 1958 in Ghana geboren und ist Politiker, 2012 bis 2017 war er Präsident Ghanas.

Ayi Kwei Armah: The Beautyful Ones are not yet Born

The Beautyful Ones are not yet Born ist einer der Klassiker des zeitgenössischen afrikanischen Literaturkanons. 1968, kurz nach dem Sturz Nkrumah erschienen, beschreibt die Story das Endstadium eines einst hoffnungsvollen, dann sich selbst korrumpierenden Systems. Der Protagonist, der das ganze Buch über nur „der Mann“ heißt, gilt seiner Frau und seiner Schwiegermutter als nutzloser und hoffnungsloser Taugenichts, der es zu nichts gebracht hat und nie zu etwas bringen wird – in einer Zeit, in der das Geld nur so auf der Straße läge, wenn man denn die richtige Beziehungen hätte und sie richtig einsetzte.
Dieses Loserschicksal steht in krassem Gegensatz zum nicht sonderlich netten oder talentierten Schulfreund des Mannes, der es mit moralischer Flexibilität weit gebracht hat.
Dann bricht allerdings der Putsch los – und die Karten werden neu verteilt. Denn jetzt gibt es nur noch Verlierer.
Ayi Kwei Armah beschreibt eine Welt nach der ersten Unabhängigkeit – euphorisch und vor den großen Enttäuschungen, die noch kommen sollten. Das Buch erzählt sehr langsam und flicht auch philosophisch mäandernde Gespräche mit einer Lehrerfigur des Mannes ein. Die eigentliche Story nimmt erst ab der Hälfte des Buches Fahrt auf. Dann versteht man allerdings sehr gut, warum The Beautiful Ones are not yet Born zu einem der bekanntesten Klassiker Ghanas geworden ist … Und der namenlose Mann wird ein Held des minimalistischen trotzigen Widerstands, mit den aber auch nicht viel zu gewinnen ist. Außer der Möglichkeit, in den Spiegel sehen zu können.

Ayi Kwei Armah wurde 1939 in Ghana geboren und arbeitete als Journalist und Universitätslehrer in Ghana, Algerien, weiteren afrikanischen Ländern und den USA.

Alioum Fantouré: Le Cercle des Tropiques

Alioum Fantouré drückt in Le Cercle des Tropiques gleich ordentlich auf die Tube. Auf den ersten fünfzig Seiten wird ein afrikanisches Jungmännerleben kräftig durch den Fleischwolf gedreht. Nach den vielen Höhen und Tiefe beruhigt sich dann zwar die persönliche Seite der Story, dafür kommt das politische Drama neu dazu. Die Hauptfigur wird in einen Staatsstreich der fiktiven Republik „Marigot du Sud“ verwickelt, hätte die Gelegenheit, Sündenböcke zu beschuldigen, landet aber dann stattdessen selbst im Gefängnis.
Ein paar Wirren und Kontakte zu revolutionären Hafenarbeitern später braucht die Gegenrevolution los …

Fantouré mischt virtuos Erzählstile und Storyformate, wechselt ansatzlos vom persönlichen Drama ins politische Fach, streift ein wenig das Fantastische und erzählt so schnell und bunt wie ein Actionfilm.

Cercle des Tropiques beschreibt afrikanische Jahre rund um die Unabhängigkeit, wie sie viele Länder geprägt haben. Die konkrete Story und ihre Orte sind fiktiv, der Hergang ist auf viele Länder und Geschichten anwendbar. Und sprachlich und literarisch ist das Buch unglaublich mitreißend.

Alioum Fantoure wurde 1938 in Guinea geboren und arbeitete als Ökonom in Brüssel. Le Cercle des Tropiques erschien 1972.

Strenger, aber nicht vernünftig

Verachtung hat noch selten Probleme gelöst. Da ist schon eingerechnet, dass Verachtung mehr sein kann als bloßes Naserümpfen. Man kann Hindernissen oder Hürden mit Verachtung begegnen, um sich dann der eigentlichen Herausforderung stellen. Man kann (vor allem überlegenen) Gegnern mit Todesverachtung entgegentreten.
Verachtung kann überwunden werden, dann kann man sich produktiv mit etwas auseinandersetzen.

Da wundert es mich, wenn Carlo Strenger schon bei der Verachtung aufhören will. In seinem Essay „Zivilisierte Verachtung“ beschreibt Strenger ebendiese zivilisierte Verachtung als aufgeklärten Umgang mit nicht aufgeklärten Geisteshaltungen.
Eine Meinung „entspricht nicht dem aktuellen Wissensstand“, ist nicht durchargumentiert – Verachtung. Eine Tatsachenbehauptungen widerspricht anderen Tatsachen, die als – nach aktuellen Wissensstand – gesichert gelten – Verachtung. Jemand weiß nicht alles, was man zu einem Thema wissen könnte – Verachtung.

Jetzt bin ich selbst ein großer Freund umfassenden Wissens, ich bin auch sehr von der Idee angetan, Aussagen zu begründen und in argumentierbare, möglichst logische Zusammenhänge zu stellen, statt einfach nur Behauptungen aufzustellen.
Aber mir wäre Verachtung zu wenig.
Dazu muss man sagen: Man kann auch nicht aus jeder Position verachten. Verachten kann man, wenn man von einer Entscheidung, einer Behauptung nicht berührt ist, wenn man kopfschüttelnd weitergehen kann. Will man jedoch lernen, verstehen oder interagieren (was beispielsweise auch Bekämpfen) einschließt, dann kann man nicht verachten. Dann muss man sich mit der Sache auseinandersetzen, ihre Funktionsweise, ihre Logik analysieren, ihren sozialen oder historischen Kontext kennenlernen und lernen, wie man damit umgehen kann, um das Ergebnis doch noch in gewünschte Bahnen zu lenken.

Nichts anderes sagt ja schließlich auch der von Strenger kritisierte „postmoderne Relativismus“, den er als Vorgänger von politischer Korrektheit sieht. Dieser Relativismus betont die Möglichkeit, sich mit mehreren Perspektiven zu beschäftigen. Ich verstehe genau das als auch die Verpflichtung, solide Kriterien zu finden, Argumente zu analysieren und Informationen sorgfältig abzuwägen – alles Schritte, die Strenger als Elemente seiner zivilisierten Verachtung reklamieren möchte.

Auch diese disziplinierte sorgfältige Vorgangsweise ist aber nicht immer anwendbar. Nur ein kleiner Teil des Lebens gehorcht rationalen Gesetzmäßigkeiten. Und der Rest ist nicht nur Esoterik und Religion, sondern vielleicht auch Freude und Vergnügen. Es ist auch mit keiner sorgfältigen Abwägung zu erklären und entspricht nicht dem aktuellsten Wissensstand, sich als Binge-Watcher Streamingserien hinzugeben. Man kann das sogar verachten. Aber weder die Verachtung noch die Analyse dieses Verhaltens verändern oder verbessern hier etwas.

Strengers Lieblingsargument offenbart denn auch die Schwäche seiner Argumentation: Man müsse Meinungen bzw. Positionen zu Meinungen dem Ärztetest unterziehen. Von Ärzten erwarte man schließlich auch, dass sie fundierte rationale Entscheidungen auf dem neuesten Wissensstand treffen. – Das glaube ich nun nicht. Den meisten Menschen ist es egal, auf welchen Grundlagen Ärzte ihre Entscheidungen treffen, Hauptsache, sie heilen.

Politische Korrektheit, die eigentliche Gegenspielerin seiner Theorien, trifft Strenger so auch kaum. Was Verachtung gegenüber den Schwächen des Korrektheitskonzepts ausrichten könnte, lässt sich nicht sagen.
Und ich denke eher, dass wir in vielen Diskursen zu viel statt zu wenig Verachtung haben. Zweifellos oft aus zweifelhaften Motiven, die „richtige“, eben „zivilisierte“ Verachtung ist dann aber auch bloß eine weitere Form des Distinktionsgewinns – und steht vermeintlich allen Seiten offen. Da brauchen wir mehr.