Kriegsrhetorik ist soziale Genmanipulation

Bernard-Henri Lévy will Krieg. Barack Obama will das nicht. Die Kronen Zeitung veröffentlicht weiter IS-Propaganda. Auch österreichische Politiker üben sich in Kriegsrhetorik und formulieren abstruse Theorien zu Überwachung, rachsüchtigem Christentum und Jesus’ Schwertern. Und jetzt?
Eigentlich habe ich nichts dazu zu sagen; wer von uns hat schon etwas Sinnvolles zu sagen, angesichts von über hundert Toten, die einfach beliebige Europäer waren?

Krieg vereint nicht wirklich.

1993 und 1994, als die NATO erst Flugverbotszonen in Bosnien einrichtete und dann vereinzelte Angriffe flog, war ich in New York. Es war ein befremdendes Gefühl, weit weg in einem Land zu sein, das wenige hundert Kilometer von zuhause Krieg führte. Auch wenn die Ratlosigkeit angesichts des Blutvergießens groß war.
Der klar definierte Feind, der  Lévy fordert, war nicht wirklich so klar. Ein Europäer in den USA war jemand, der auf die Hilfe der USA angewiesen war, die dazu ansetzten, Ordnung in der Welt zu schaffen. Im Februar 1993 hatte es den ersten Anschlag auf das World Trade Center gegeben, der auch dazu beitrug, die Wir-sorgen-für-Recht-und Ordnung-Haltung zu schüren.
1999 bombardierte die NATO Serbien. Arabelle Bernecker und Susanne Glass beschreiben in Interviews mit Otpor-Aktivistinnen in ihrem Buch „Schwestern der Revolution“, wie die Angriffe die Position des Widerstands in Serbien schwächte. Die Menschen hatten begonnen, sich vom Milosevic-Regime zu distanzieren – ein gemeinsamer Feind trug dazu bei, diese Distanz wieder zu überbrücken.
Nicolas Hénin, französischer Journalist und ehemalige Geisel des IS, beschreibt in seinem Guardian-Kommentar ähnliches.
Als 2001 George Bush von „Krieg“ sprach, war der Enthusiasmus nicht groß. Amerikanischer Imperialismus; der Versuch, die Welt in ein amerikanisches Problem zu ziehen; Rechtfertigung und Spielwiese für die internationale Rüstungsindustrie. Das mag auch an Bushs Persönlichkeit und der Aura seiner Entourage gelegen haben. Er hatte eben keinen eloquenten Lévy an seiner Seite.

Krieg oder Verbrechen?

Im Krieg stehen einander Armeen und Soldaten gegenüber. Die Opfer in Paris waren keine Soldaten. Wo Zivilisten im Spiel sind, redet man von Kriegsverbrechen. Im Krieg spielen Gut und Böse eine Rolle; der gerechte Krieg steht auf der Seite des Guten. Verbrechensbekämpfung hat es leichter: Gut und Böse müssen nicht strapaziert werden, es gibt Gesetze, die uns die Entscheidungsarbeit abnehmen.
Gesetze rund um den Krieg sind keine ganz so eindeutige Angelegenheit. Krieg überschreitet Grenzen und bringt Ausnahmesituationen mit sich. Frankreich ruft den Ausnahmezustand aus, Konservative in Europa sinnieren über mehr Überwachung. Londons Bürgermeister Boris Johnson und andere meinen sogar, in Edward Snowden einen Ziehvater des Terrorismus identifiziert zu haben: Seine Enthüllungen hätten praktische Hinweise geliefert, wie man sich am besten vor Überwachung schütze.
Es gibt wohl nicht zu wenig Daten, nicht zu wenig Quellen und Symptome, anhand derer man spekulieren könnte. Was fehlt, sind die praktischen Anwendungen: Spätestens seit 9/11 überwachen Behörden großflächig und digital. Erfolgsgeschichten bleiben aus. Vielleicht, um neue Verschwörungstheorien ins Spiel zu bringen und in der Anti-Snowden-Logik zu spekulieren, werden die Erfolgsgeschichten ja verheimlicht, eben um nicht zu enthüllen, wie erfolgreich Überwachung funktionieren kann. Abgesehen davon, dass ich das nicht glaube (schwaches Argument), wäre das ein großer Schritt in Richtung ausser Kontrolle geratener staatlich unterstützter Terrororganisationen.
Frankreich ist einer der aktivsten Datensammler in Europa. Die Vorratsdatenspeicherung wurde nie, auch nicht nach dem EuGH-Urteil im April 2014, ausser Kraft gesetzt. Nach dem Charlie Hebdo-Attentat wurden Überwachungsmaßnahmen  ausgeweitet. Die vollständige Metadatenaufzeichnung wurde im Juli auch vom französischen Verfassungsgericht bestätigt.
Im Gegensatz dazu hat gerade erst vergangene Woche der United States Court of Appeals festgestellt, dass das Sammeln des so beliebten Browserverlaufs nicht als Metadaten anzusehen ist und damit nicht vom sehr umfassenden Wiretap-Act gedeckt ist.
Die Frage nach der Rechtfertigung von Überwachung wirft auch die Frage auf, wo die Grenzen zwischen „wir“ und „ihr“ verlaufen, wer handeln darf und wer zum Dulden gezwungen ist. Nicht über Überwachung reden zu dürfen (also Snowden zu verurteilen), ist die Forderung nach Obrigkeitshörigkeit. Das ist nicht nur eine Befindlichkeitsfrage, es ist ein Sicherheitsproblem: Die Arbeit von Behörden nicht offen analysieren zu können, Schwächen nicht anzusprechen, Fehler, die nicht behoben werden, nicht veröffentlichen zu können (Details dazu in Citizen Four), schwächt Behörden mehr, als ihre Schwächen zu veröffentlichen. Das ist die Forderung nach dem unmündigen Bürger, der sich in die fürsorgende Hand des Staates begibt.

Nicht mit uns. Mit mir auch nicht.

Wer Krieg fordert, fordert auch klare Fronten. So auch Lévy. Demokraten und Europäer halten zusammen, Muslime distanzieren sich von Islamisten; der Feind wird klar benannt.
Jetzt haben wir den Salat.
Auch angesichts von Szenarien, in denen man nicht „nein“ sagen kann, muss es möglich bleiben, „nein“ zu sagen. Terrorismus nicht zu unterstützen kann nicht gleichbedeutend damit sein, ein christliches gebärfreudiges Abendland zu unterstützen.
Einheit schliess aus – nicht nur den definierten Gegner. Das Kuriositätenkabinett der österreichischen Innenpolitik auf Twitter beschwört düstere mittelalterliche Szenarien herauf. Nationalratsabgeordnete reden von christlicher Leitkultur und Schwertern.

Das ist Krieg: Unterwerfung, Disziplin, Unterordnung unter eine konstruierte Gemeinsamkeit. Viele Nicht-Muslime wollen nicht Teil einer christlichen Leitkultur sein. Sind sie unsere Feinde, potenzielle Verräter, die wir im Auge behalten müssen? Deren missliebige Äußerungen wir beobachten müssen, um – ja um was? Um ihnen nachher die Schuld geben zu können? Um sie zu denunzieren? Um eine Handhabe zu schaffen, zwischen wertvollen und weniger wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft unterscheiden zu können? Oder um eine Linie konstruieren zu können, nach der wir entscheiden, welche „bürgerlichen Freiheiten“ wir aufzugeben gewillt sind?

Waffenverboten
Das ist schräg. Ich habe nichts dagegen, vor einem Konzertbesuch auf Flaschen, Messer oder Regenschirme kontrolliert zu werden. Das ist ein sehr konkretes Bedrohungsszenario; Konflikte können schnell und anonym gelöst werden; die Vorgeschichte (Besitzt du ein Taschenmesser? Hattest du schon einmal eine Bierflasche in der Hand?) spielt ebenso keine Rolle wie allfällige oder konstruierte Intentionen.
Daten dagegen sind geduldig und bieten Spielraum für Interpretationen. Je mehr sie vor einem bestimmten Hintergrund (christliche Leitkultur!) gelesen werden, desto größer und abwegiger wird dieser Interpretationsspielraum.
Der Ruf nach Krieg, Überwachung und Einheit ist so etwas wie Embryonen-Genmanipulation mit sozialen und politischen Mitteln: Wir schaffen uns den Einheitsbürger, den wir auf das ideologische oder schlimmstenfalls wirklich kriegerische Schlachtfeld stellen. Alle anderen sind Drückeberger oder Saboteure.
Niemand kann sich aus dem Spiel nehmen, wenn Bedrohungen der Freiheit etwas entgegengesetzt werden muss. Unterwerfung zu verlangen, fördert Freiheit nicht.

Kämpfen? Oder doch nur Kriegsrhetorik?

Von Krieg zu reden, fühlt sich nicht gut an. Von erfolgreichen Militärschlägen gegen den IS zu hören, fühlt sich dagegen schon gut an. Das ist eine Dissonanz.
Welche Optionen gibt es überhaupt? Kämpfe finden statt; ein Ende des IS ist begrüßenswert – auch ohne Terror in Europa.
Das Krieg zu nennen, kann zu einem schnelleren Ende führen (weil gezielter und in größerem Stil gehandelt wird), es kann zu mehr Terror führen (weil der politischen Symbolik eine kriegerische und wesentlich praktischere Symbolik entgegengesetzt wird).
Beides ist möglich und wohl nicht einmal die Mächtigsten der Welt können sich den Ausgang aussuchen.
Vielleicht ist es für Regierungschefs wichtig, zwischen Krieg und anderen kämpferischen – kriegerischen – Auseinandersetzungen zu unterscheiden. Für die Betroffenen ist es wahrscheinlich ebenso unwichtig wie für die nicht Betroffenen.
Und die Frage ist wohl weniger, ob wir es Krieg nennen oder nicht, sondern wie weit Krieg und die dafür geforderte Einheit zu Unterdrückung, Schweigen und Blindheit führen.
Kriegsrhetorik lässt vermuten, man könnte große Entscheidungen treffen, die große Probleme lösen und auch große Opfer fordern und rechtfertigen. – Es mag absurd und nebensächlich klingen: Wenn wir von Krieg reden, dann muss sich das auch mit der Vorstellung einer offenen und vielschichtigen Gesellschaft vertragen. Und so abwegig ist das gar nicht. Denn eine nicht unwichtige Frage ist auch noch nicht abschließend beantwortet: Krieg gegen wen eigentlich? Gegen den IS oder gegen das Assad-Regime in Syrien?

Link-Radikal

Dank der EU-Kommission diskutieren wir also wieder mal, ob und was man verlinken darf. Der Kern: Verleger wollen zwar schon in (Google-)Suchergebnissen präsent sein, aber sie sind Google den Erfolg neidisch und würden gerne mitschneiden.
Ritchie Pettauer hat das Wesentliche dazu beschrieben, aber mir fallen da noch ein paar Ideen für neue Geschäftsmodelle auf dieser Basis ein:

  • Buchungsplattformen sollen Hotels und Restaurant bezahlen, um sie auf ihre Plattformen zu nehmen.
  • Ebay soll Anbieter bezahlen – ohne Produkte gäbs schliesslich keinen Traffic auf der Seite.
  • iTunes müsste ebenso zur Kasse gebeten werden wie Google selbst, denn ohne User hätten auch bezahlte Suchtreffer wenig Marktpotenzial.
  • Und Zeitungen müssten dann auch in ihre Taschen greifen: Einerseits, um Leser zu bezahlen, ohne die es keine Anzeigen gäbe, andererseits, um die Protagonisten ihrer Stories zu entschädigen, ohne die es eben keine Stories gäbe.

So weit hergeholt ist das gar nicht. Von Medien finanzierte Politiker würden vielleicht geringfügig mehr Spektakel machen – fraglich allerdings, ob man den Unterschied merken würde.
Und die Geschäftsmodelle erinnern mich an die Urzeiten der Contentsyndication. Als wir damals, als die Telekom Austria noch Jet2Web hiess und Telekomunternehmen die besseren Medienunternehmen sein wollten, redaktionelle Portale aufgebaut haben, wurden für Unmengen an Geld Inhalte gekauft. Nicht etwa, um Redaktionen damit zu finanzieren und spannende eigene Inhalte zu erstellen, sondern um längst veröffentlichte Agentur- und Zeitungsmeldungen zu kaufen. Das waren goldene Zeiten für Zeitungen: Sie haben einfach ihren Job gemacht und doppelt dafür kassiert. Und sobald User die Adresszeile ihres Browsers bedienen konnten, waren sie dann auch weg von den Telekom-Portalen.
Damals wurde im übrigen auch nicht verlinkt – denn es ging ja darum, User möglichst lang auf den eigenen Seiten zu halten.
Und heute?
Heute funktioniert das Modell eigentlich. Jeder macht sein eigenes Ding mit seinem eigenen Geschäftsmodell. User entscheiden, was sie nutzen möchten. Gewohnheit, Faulheit und Konzentrationstendenzen verzerren den Markt ein wenig.
Allerdings gibt es auch noch andere als die EU-Kommission, die diesen Zustand ankreiden. Jaron Lanier beschäftigt sich in seinen Büchern “You are not a Gadget” und “Who owns the future?” schon länger mit Ideen für Gegenentwürfe zu Gratis-Geschäftsmodellen. Sie spielen den Ball an die User zurück. Denn entscheidend ist letztlich, wer wofür zu zahlen bereit ist. Ein Punkt, den auch Joachim Hirsch in seinem Beitrag zum Elevate-Sammelband (“Ein Handbuch für morgen”) macht: Gesellschaft und Wirtschaft werden “dadurch verändert, dass Menschen anders leben, anders arbeiten, andere Vorstellungen davon entwickeln, was ein gutes und würdiges Leben ist.” – Und dabei hilft uns eine Linksteuer vielleicht sogar: Wer nicht verlinkt werden will, kann sich selbst aus dem Spiel nehmen. Dann bleibt mehr für Blogger und andere Publisher, die sich über Traffic freuen und ihn zu nützen wissen.

Der Schein trügt – Wieviel Korruption ist notwendig?

Eindimensionalität verdirbt die Phantasie – und die Ehrlichkeit. Colin Crouch stellte am Dienstag in der Diskussion mit Robert Misik sein aktuelles Buch “Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht” vor.
Die Kernthese lässt sich am besten anhand eines von Crouch schon vor einem Jahr beschriebenen Beispiels zusammenfassen: Was machen wir, wenn wir ein vernünftiges, also schadstoffarmes Auto kaufen wollen? Wir können keine eigenen Tests durchführen, also sind wir auf Prüfberichte und Herstellerangaben angewiesen. Uns steht das Wissen nicht originär zu Verfügung, wir müssen auf das Wissen anderer vertrauen.

Eindimensionale Ziele fördern Ignoranz

Wenn sich dann ein grosser Schwindel bei Abgaswerten (wie bei VW) herausstellt, wird gleich auf mehreren Ebenen deutlich, wie eindimensionale finanzielle Ziele Wissen bedrohen: Falsche Abgaswerte enthalten den Kunden Wissen vor und verzerren dadurch den Markt. Aus der internen Perspektive betrachtet muss jemand im Unternehmen gewusst haben, dass die Werte falsch sind und dass das Auffliegen des Schwindels dramatische finanzielle Kinsequenzen nach sich ziehen werde – auch hier wurde besseres Wissen und der kurzfristigen finanziellen Ziele willen ignoriert.
Eindimensionale Ziele sind leicht zu beobachten und zu messen, es ist leicht, Handlungen nach ihnen auszurichten. Am eindimensionalsten und auf den ersten Blick auch am eindeutigsten sind finanzielle Ziele. Crouch führt dazu Beispiele aus dem öffentlichen Dienst an: Seit hier messbare Ziele und Prämien Einzug gehalten haben, geht der Nonprofit-Gedanke verloren und anstelle der Problemlösung tritt Effizienz als oberstes Prinzip. Was manchmal schon schräge Blüten treibt: In England, auch eines von Crouchs Beispielen, vermuteten Gesundheitsbehörden eine zu niedrige Anzahl von Demenz-Diagnosen. Betroffene bekommen so keine rechtzeitige Therapie. Die Lösung war ein Kopfgeld für Ärzte: Jede Demenz-Diagnose wurde mit einer Geldprämie belohnt. Für das Vertrauen in den Arzt nicht gerade förderlich …

Crouch zeigt Entwicklungen und Probleme auf; Lösungen und Ratschläge verkneift er sich.

Geht es überhaupt ohne Korruption?

Jetzt ist gegen Effizienz grundsätzlich nichts einzuwenden. Ich denke auch, dass die Gut/Böse-Gegenüberstellung von profitgetriebener Privatwirtschaft und dem unabhängigen, der allgemeinen Entwicklung verschriebenen öffentlichen Bereich nicht in Crouchs Sinn ist.
Politiker brauchen nicht den Kontakt zu Unternehmen, um korrumpierbar zu sein – das schafft der Drang zum Machterhalt oft schon alleine. Und Regulierungsbehörden müssen nicht korrupt sein, um dumme, besserem Wissen widersprechende Regulierungen zu erlassen – sie sind schließlich selbst keine praktizierenden Experten, sondern nur Beobachter.
Crouch verwendet den Begriff “Korruption” sehr häufig und meint damit den nicht mehr offenen, vorbehaltlosen Umgang mit Wissen. Das erinnert an Objektivitäts- und Faktentreue-Diskussion im Journalismus und wirft damit auch die Frage auf: Gibt es überhaupt so etwas wie Nicht-Korruption?

Finanzziele können sehr leicht korrumpieren. Das muss noch gar nichts mit Bestechlichkeit zu tun haben. Wer sich auf ein – finanzielles – Ziel ausrichtet, hat einen starken Anreiz andere, durchaus auch vernünftige Ziele außer Acht zu lassen. Das gilt für aufgrund ihrer Zielvereinbarungen gegeneinander arbeitende Abteilungen ein und desselben Unternehmens ebenso wie für Effizienzvorgaben in der Gesundheitsversorgung oder für Controller, die zu Leitern von Innovationsabteilungen bestellt werden.
Politische Ziele sind mehrdimensionaler, orientieren sich aber auch nicht gerade an Wissen. Sie orientieren sich an Werten und ziehen damit einen ganzen Rattenschwanz nach sich, der letztlich dann doch auch vereinfacht werden muss. Denken wir nur an Pensionsdebatten: Was heissen Generationenfairness und Rechtssicherheit heute (verdiente, sichere und steigende Pensionen), was in 20 Jahren (ein nicht finanzierbares Loch von 30 statt 8 Miliarden jährlich)?
Zudem scheint Korruption unvermeidbar. Jede Entscheidung schliesst etwas aus, das dann nicht mehr wichtig ist. (Kurzer Exkurs: Der erste mit dieser Idee war Spinoza, der damit schon auf die Beschränktheit von Schlauheit aufmerksam machte. Und zuletzt kam Lacan mit seiner Meinung einfache Feststellungen wie “Du bist John” seien kein Zeugnis von Identität sondern von Gespaltenheit. Wenn das Ergebnis dieser Feststellung auf der Hand läge, bräuchte es sie nicht, aber wir machen uns die Welt eben, wie sie uns gefällt. – Ja, Pippi Langstrumpf war da klarer auf dem Punkt, wie Chefredakteure, die Kommentare ihrer Juniorredakteure twittern, heute sagen würden.)

Das versteckte Gespenst in dieser Diskussion ist der Finanzzahlen über alles stellende Neoliberalismus, den es es in der Praxis ebensowenig in seiner reinen Form gibt wie den perfekten Markt.

Wieviel Korruption ist notwendig?

Der (Geld)Schein trügt also. Aus einer anderen liberalen und faktenorientierten Sicht drängt sich die Frage auf: Wieviel Korruption ist genug? Oder wieviel ist ok? Gibt es gute und schlechte Korruption?
Gute Korruption klingt auf den ersten Blick etwas komisch. Auf den zweiten Blick ist das der Stoff, aus dem Helden gemacht sind. – “Narcos” ist eine Netflix-Serie, die den Aufstieg und Fall des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar beschreibt. In einer Szene wünscht sich Horacio Carillo, sein behördlicher Gegenspieler, “unkorrumpierbare Männer” für seine Einsatztruppe. Und man denkt sich: Echt jetzt? Escobar soll Attentate auf Präsidentschaftskandidaten organisiert haben, Kopfgelder auf Polizisten ausgesetzt haben und hatte mit einem Vermögen von ein paar Milliarden Dollar das ganze Land im Griff – dieser Situation soll sich jemand aus edlen unkorrumpierten Beweggründen entgegenstellen, und das nicht hinter Bodyguards am Schreibtisch, sondern auf der Strasse mit der Waffe in der Hand? Anscheinend. In einer kleinen Nebenszene zeigt sich dann aber: Die Unkorrumpierbaren sind zutiefst korrumpierte, gewaltbereite und von Hass bewegte Leute, die persönliche (und sehr eindimensionale) Ziele verfolgen und in erster Linie ermordete Familienangehörige rächen wollen.
Vielleicht nicht gerade “gut” und moralisch astrein, aber auch nicht gerade verwerflich …

Ungleichheit ist schlecht für den Markt

Wenn Korruption schon praktisch unvermeidbar scheint, dann wäre es nett, ihr Ausmaß zu kennen. Dem stehen, um wieder zur Crouch-Diskussion zurückzukehren, im wesentlichen zwei Dinge im Weg: Das eine ist Komplexität in Form von angeblich komplexen Produkten. Finanzprodukte sind ja angeblich komplex. Meiner Meinung nach sind sie sehr einfach: Sie sind unvorhersehbar, und das Risiko, lieber Kunde, trägst du. Komplexität dient dazu, Unvorhersehbarkeiten oder Schwindel (wie bei den Abgaswerten) zu verschleiern. Und das verzerrt den Markt, weil die relevanten Informationen nicht auf dem Tisch liegen – Wissen wird ignoriert.
Das zweite Hindernis sieht Crouch in wachsender ökonomischer Ungleichheit. Diese kann aus in wenig Wettbewerb (sein Beispiel: Ratingagenturen), marktbeherrschenden Positionen oder ungleichen Ausgangspositionen bei der Durchsetzung von Interessen entstehen. Ungleichheit führt dann dazu, dass keine rationalen Entscheidungen getroffen werden können, weil es keine Alternativen gibt, weil nicht alle Informationen auf dem Tisch liegen und weil eben Wissen von der Finanzlogik bedroht wird.

Insofern bietet Crouch dann eben doch eine Lösungsperspektive für das Problem. Mit allgemeiner klareren und besser verteilten Machtverhältnissen kann dann auch Wissen wieder Macht werden.

An beiden Enden der Nahrungskette

  • Von der gängigen Ausschreibungspraxis profitieren Unternehmen, die ihr Geschäft mit Overhead machen. Auftraggeber und eigentliche Auftragnehmer – die Enden der Nahrungskette – zahlen drauf.

Ich habe mal wieder einen Blick in diverse öffentliche Ausschreibungsunterlagen geworfen. Schwerer Fehler. Dreissigseitige Formalkriterien, Strafregisterbescheinigungen, Sozialversicherungskontoauszüge und so weiter ok, aber was soll das eigentlich werden, wenn die ausschreibende Stelle der Agentur auch die Personalstruktur vorschreibt?
Im konkreten Fall geht es um ein Jahresbudget von 250.000 Euro, für das vier Personen Schlüsselpersonal gefordert werden, die natürlich während der Laufzeit nicht ohne Zustimmung des Auftraggebers ausgetauscht werden dürfen und deren Verfügbarkeit auch an Wochenende und Feiertagen gefordert wird. Funktionsüberschneidungen sind ausgeschlossen, nur der Geschäftsführer darf zusätzlich auch produktiv arbeiten. Die Funktionen sind allerdings alle auf administrativer Ebene, es braucht also zusätzlich noch Personal, um den Job auch zu erledigen.
Abgesehen vom Mengengerüst frage ich mich auch, mit welcher Expertise ein Auftraggeber die Personalstruktur des Auftragnehmers vorschreiben möchte – aber vor allem: Warum möchte ein Auftraggeber von einem Lieferanten mit zwangsverordnetem Overhead beglückt werden?

Wir predigen jetzt schon lang andere und agile Arbeits- und Organisationsformen, fordern günstige Produktionen und betreiben Expertenkulte. Was Kreativität betrifft, wird gern kopiert (und dann um Orginialität gestritten), man unterstellt lang langfristigen Partnern, sich abgenutzt zu haben, und fordert frische Ideen.

Und dann zementieren branchenfremde Anforderungen das business as usual auf scheinbar ewig ein. Das ist in seinen Auswirkungen noch krasser als Gewerbeordnungen und andere Formalbestimmungen. Und es ist ein Aspekt mehr, der es Unternehmern nicht wirklich möglich macht, selbstbestimmt und souverän statt prekär zu handeln.
Wer hier in solchen Fällen mitarbeiten will, ohne sich drei Overhead-Stufen einzuhandeln, muss sich dann also bei der dank ihres Overheads gewinnenden Agentur hinten anstellen.
Damit habe ich zwei Probleme:

  • Es bleibt verdammt viel Geld auf der Strecke liegen.
  • Es ist ein teuer bezahltes Stille-Post-System, das Missverständnisse fordert.
  • Es stützt das falsche System, indem es den Anschein erweckt, als wäre Overhead kreationsförderlich oder notwendig, um kreative Leistung zu kaufen.

Wer draufzahlt, sind dabei beide Enden der Nahrungskette: Der Auftraggeber und der eigentliche Auftragnehmer.

Blau ist so was wie die Null beim Roulette

Blaue Koalitionen – “Lasst sie machen”, sagen viele. Blau hat aber von jedem Koalitionskrach noch profitiert. Dem Partner hat’s selten gut getan.

Düstere Mienen bei der Angelobung, Eiertänze bei Gesprächen über die Verhandlungen („Die sind nicht alle so“) und gegenseitige Distanzierungen: Es wieder Blaue-Koalitions-Zeit in Österreich.
Nachdem es die SPÖ geschafft hat, im Burgenland sogar den Support von Lukas Resetarits zu verlieren, möchte die ÖVP da um nichts nachstehen und machts jetzt in Oberösterreich auch mit der FPÖ.
Die gleich darauf in seltener Dummheit aus dem Boden gestampfte gegenschwarzblau.at-Webseite ist eines von vielen Zeichen dafür, dass Koalitionen mit Blau so etwas ähnliches sind wie das Setzen auf Null beim Roulette: Es ist eine hochriskante Verzweiflungsaktion, bei der es, wenn sie aufgeht, wenige Gewinner und sehr viele Verlierer gibt. Ok, Wolfgang Schüssel brachte zusätzlich die Auswischermentalität mit ins Spiel: Seine Koalitionsvariante war eher so, als würde ein_e beleidigt_e Partner_in mit dem besten Freund oder halt doch gleich mit dem oder der Nächstbesten in die Kiste springen.
„Lasst sie arbeiten“, orakeln seither Journalisten. „Sobald die FPÖ arbeiten muss, werden sie eh wieder scheitern.“
Abgesehen davon, dass mir der Preis (zumindest der, der sich aus der letzten Blau-Schwarz-Kärnten-Periode ablesen lest) zu teuer ist, um jemanden seine Inkompetenz demonstrieren zu lassen, glaube ich nicht daran.

Blau profitiert vom Koalitionsende

Deshalb habe ich die Wahlergebnisse rund um alle blauen Koalitionen ausgegraben. Meine These war eigentlich, dass der Koalitionspartner mehr beschädigt wird als die FPÖ. Das lässt sich auch nicht ganz bestätigen. Tatsahce ist eher, dass die FPÖ immer vom Ende von Koalitionen profitiert.

  • Kreisky warf Haider 1986 aus der Koalition – seither wächst die FPÖ
  • Sausgruber warf Egger vor den Wahlen 2009 in Vorarlberg aus dem Landhaus – die FPÖ verdoppelte ihren Anteil.
  • Kärnten ist politisch zu bunt, um eindeutige Beziehungen festzustellen. Aber auch nicht lustig.
  • Das Schwarz-Blaue Fiasko auf Bundesebene kostete die FPÖ während der Koalition nahezu ihre Existenz, kaum war man die Reguerungsrolle los, verdoppelten sich die Anteile wieder nahezu. Und dieser Fall ist der einzige, bei dem es auch vorher den deutlichen Absturz gab.

Nachdem Niessl und Pühringer immer wieder betonen, dass ihre jeweiligen blauen Freunde eh ok wären (nur die der anderen nicht), gibts in der Infografik noch ein paar Best-of-Sager der ehemals ebenfalls salonfähigen Koalitionspartner. Nur so zur Erinnerung.
Wers vergessen hat: Manfred Haimbuchner haben wir unter anderem die idiotische Diskussion, warum Flüchtlinge Smartphones haben, zu verdanken. Als neuer Staatsmann könnte er jetzt seinem Parteifreund erklären, dass das unter anderem ein erstes Indiz dafür ist, dass Flüchtlinge eben keine Höhlenmenschen sind.

(Links zum Vergrößern gibts ganz unten.)

Grafik in Orginalgröße
Download als Bild

Crashkurs Medienpolitik und politische Bildung

Die Regierung denkt also darüber nach, die Veröffentlichung von Meinungsumfragen kurz vor Wahlen zu verbieten. Wir hätten noch ein paar Vorschläge dazu.

Wie geht man so etwas gründlich an?
1) inhaltsleere, auf Umfragen schielende Politik machen
2) schwachsinnige Medien fördern und mit Inseraten überschütten
3) nach der Pfeife dieser Medien tanzen
4) sich dabei blaue Flecken holen
5) beleidigt sein und sich mit Verboten revanchieren

Wobei die Beschränkung auf Umfrageberichterstattung natürlich viel zu kurz gegriffen ist. EIgentlich kann man sich die ganze Innenpolitik sparen – wo es doch die Parlamentskorrespondenz gibt. Die müsste allerdings auch noch etwas auffrisiert werden, schliesslich wird dort der Opposition viel zu viel Platz eingeräumt.

Konsequenterweise bräuchten wir dann noch ein Werbeverbot im näheren Umkreis von Geschäften. Schliesslich ist die Bevölkerung hier auch unzulässiger Manipulation ausgesetzt.
Werbung sollte eher durch eine Belehrung im Steuerrecht ergänzt werden (Merkmale einer Rechnung! Belegaufbewahrungspflicht! Registrierkassenidentifikationsbingo!), damit BürgerInnen jederzeit ihrer BürgerInnenpflicht nachkommen können.

Das ist sehr fürsorglich. Die Sorge um die unmanipulierte Meinungsfreiheit hat sich schliesslich auch schon in den Diskussionen der Demokratieenquete gezeigt: Direkte Demokratie sei nicht so das Ding, hieß es da von Regierungsvertretern, weil die Bevölkerung bei großen Fragen zu sehr dem Einfluss von Lobbyisten ausgesetzt sei. Man wolle das lieber auf lokale Entscheidungen reduzieren – sprich auf Fälle, in denen Bürgermeister das Volk gut im Griff haben.

Das wäre doch auch eine Option, um diese lästigen Wahlen ein bisschen besser in den Griff zu kriegen: Das Volk soll einfach vor jeder Wahl den Bürgermeister fragen. Spart einen Haufen Ärger, Inseratengeld und Wahlkampfkilometer. Und wirkt sicher ganz krass direktdemokratisch.

PS: Der Umgang mit Umfragen in vielen Medien ist fraglos grenzdebil. Wer lernen möchte, wie man als JournalistIn richtig mit Umfragen umgeht, kann das am 13. November beim Neuwal-Umfrageworkshop tun.

Im Post-Wahl-Delirium

Am Ende des Superwahljahrs: Die ÖVP reduziert sich verlässlich auf Machttaktik, die SPÖ verwandelt sich in ein politisches Überraschungsei – süße Schale, keine Ahnung, was drin ist.

Wir haben also einige Wahlen hinter uns. Und eine Partei gehört ganz definitiv nicht zu den Siegern: Die ÖVP hat auf allen Ebenen verloren, ist satte Mehrheiten losgeworden und hat sich fallweise pulverisiert. Die kumulierten Verluste bei den Landtagswahlen in Vorarlberg, Oberösterreich, Wien, im Burgenland und in der Steiermark liegen bei 38,34% (im Durchschnitt 7,7% Verlust pro Wahlgang). Daneben nimmt sich die SPÖ (27,3% kumuliert, 5,5% im Durchschnitt) wie ein strahlender Sieger aus.
Und dann passiert das, was salonfähig geworden ist, seit Wolfgang Schüssel 2000 in den schwarzen Porsche gestiegen ist: Der Verlierer (die ÖVP war damals, nur zur Erinnerung, nach den Nationalratswahlen nur auf Platz drei) randaliert und wirft Vernunft, Anstand und Prinzipien zu Gunsten machttaktischer Überlegungen über Bord.
Heute sieht das so aus: Es werden erstmal „neue“ Gesichter präsentiert. – Mitterlehner, der gleich vom Wirtschaftsbund als “einer von uns“ vereinnahmt wurde, Gernot Blümel, der sich als Matthias Strolz-Klon vom Generalsekretär zum Wien-Chef downgraden lassen musste, Peter Mc Donald, seit Jahren bei Wirtschaftsbund und Sozialversicherung, oder Hans Jörg Schelling, der Finanzminister “mit Wirtschaftskompetenz”.
Alle reden von neuen Ideen, frischem Wind und dem vagen Vorhaben, Dinge jetzt auch wirklich und diesmal ganz bestimmt und fix angehen und umsetzen zu wollen. Was das über ihre bisherige Tätigkeit oder – im Fall des Finanzministers – über dessen parteifreundliche VorgängerInnen – aussagt, lassen wir mal offen.
 
Dem folgen Neuwahl-Drohungen und blaue Koalitionsflirts. Bei allem, was wir heute über Schwarz-Blau und die Folgen wissen, dürfen wir eines nicht vergessen: Für die ÖVP war das ein machttaktischer und kurzfristiger Mega-Erfolg: 2002, zwei Jahre nach der Koalitions-Katastrophe, war die ÖVP mit 42,3% (+15,4%) stimmenstärkste Partei bei den Nationalratswahlen, der lästige Juniorpartner FPÖ musste sich mit 10% (-16,9%) zufriedengeben. Der weitere Verlauf der Geschichte: 2006 (damals noch mit dem Bundeskanzler in den eigenen Reihen) verlor die ÖVP knapp 8 Prozent, 2008 (nachdem man wiedereinmal Neuwahlen provoziert hatte) über 8 Prozent, 2013 (als Juniorpartner in einer Koalition und nach einer brav abgesessenen Legislaturperiode) immerhin nur zwei Prozent.
Daraus könnte man ableiten: Haltet die Klappe, das ist (langfristig gesehen) gut für euch.
 
Stattdessen gewinnt der schwarz-blaue Selbstzerstörungstrieb wieder an Fahrt.
 
Schliesslich hat es die SPÖ ja im Burgenland vorgemacht. Und ist mittlerweile auf einem ganz eigenen Selbstzerstörungstrip: Kaum gibt es einen Bürgermeister, der Aufmerksamkeit und Sympathien versammelt, wird ihm vom Kommunikationschef ausgerichtet, er sei eine Randfigur, die nichts zu melden hat. Jede Landtags-Stimme für die SPÖ wird zu einer Stimme gegen den Kanzler hochstilisiert (im Burgenland in die eine Richtung, in Wien in die andere Richtung). Und kaum gibt es eine Basis-Initiative zur Erneuerung der Partei , lässt der Bundesgeschäftsführer ausrichten, es gebe ohnehin genug Beteiligungsmöglichkeiten für die “angeblichen Parteimitglieder” in den traditionellen Parteigremien.
Die UnterzeichnerInnen des offenen Briefs (“Lieber Genosse Faymann, dafür bist Du aus vielen Gründen nicht mehr der Richtige. Es ist Zeit für Dich zu gehen.“) auf wirwollenmehr.at sehen das anders.
 

Was lernt man als WählerIn daraus?

Jede Stimme für die ÖVP ist ein Dominostein in einem machttaktischen Spiel. Ich erkenne keine inhaltliche Linie, keine Selbstreflexion und absolut nichts, was mich glauben machen würde, mehr Macht für die ÖVP könnte irgendetwas ändern. Parteisoldaten und langgediente Funktionäre werden nach oben gespült, als neu präsentiert – und verpuffen wirkungslos (im September 2014, nach Antritt Mitterlehners, gab es noch Umfragen, die die ÖVP bei 24-26% (Nationalratswahlen) sahen; heute sind das ziemlich konstant 20%). Wer keine blaue Regierung will, sollte also vor allem eines nicht tun: Schwarz wählen.
Die SPÖ kämpft um ein neues soziales Profil, bekommt von unten viel Aufmerksamkeit, könnte sogar neue Helden hervorbringen – und die Parteispitze schweigt dazu beleidigt. Die SPÖ zu wählen muss ein ähnliches Gefühl sein, wie ein Überraschungsei zu kaufen: Es gibt ein bisschen was Süßes rundherum, aber man hat keine Ahnung, was einen wirklich erwartet. Als optimistischer Mensch könnte man dabei – im Gegensatz zur ÖVP – wenigstens noch auf das Gute hoffen …
Hilft das irgendwem? Leider nein.

Blaue Speckränder

Die Wien-Wahl zeigt: FPÖ Wähler sind keine verängstigten Modernisierungsverlierer, sondern gierige Wohlstandsparanoiker. Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist. (Achtung, dieser Post enthält Vorurteile und Verallgemeinerungen. Aber ich steh dazu.)

 

Was ich von der Wien-Wahl gelernt habe:
Duelle sind ein Schmäh und Umfragen sind gefährlich. Monatelang hat man uns erklärt, die Wien-Wahl werde ein Duell zwischen rot und blau; Umfragen haben immer wieder auch einen Platz 1 der FPÖ propehzeit. Mit der Zeit wurde der Umgang mit Umfragen immer fahrlässiger (wichtige Kennzahlen wie Grundgröße, Schwankungsbreite oder sogar das Datum fehlen), die Ergebnisdarstellung wurde immer dümmer (als Vergleichswerte wurden andere oder vergangene Umfragen herangezogen – nicht etwa der aktuelle Stimmenanteil – und auch das wurde nicht ausgewiesen. Das suggeriert, dass die FPÖ ohnehin schon an der Macht wäre. In einem Land, in dem große Teile der Bevölkerung weder wissen, was eine Regierung ist noch wer in der Regierung sitzt, ist das gefährlich.).

 

Wien ist recht resistent gegen Erdrutsche. Wer sich nicht nur mit Umfragen, sondern auch mit Wahlergebnissen und deren Entwicklungen beschäftigt hat, wusste: In Wien gab es selten die extremen Veränderungen im Ausmaß von 10 Prozent und mehr. Gerade die FPÖ hat in Wien vergleichsweise immer nur kleinweise dazugewonnen. Ein Blick auf die letzten Landtagswahlen: Inder Steiermark hat hat die FPÖ 16 Prozent dazugewonnen und hält jetzt bei knapp 27, in Oberösterreich 15 (Summe: 30). Die sechs Prozent in Wien nehmen sich daneben geradezu bescheiden aus; im Burgenland waren es ebenfalls sechs Prozent Zugewinn, in Salzburg 2013 4 und in Vorarlberg knappe zwei.

 

Angst, Ausgrenzung und Eiertänze. Man soll keine Menschen ausgrenzen, die Angst haben, haben wir zuletzt oft gehört. Irgendwer muss die Verlierer aufsammeln. – So viele Verlierer, dass allein mit ihnen Wahlen entschieden werden könnten, gibt es glücklicherweise noch nicht. Und kaum jemand muss Angst vor etwas haben, vor dem ihn oder sie die FPÖ bewahren könnte. Ob es angesichts dieser Angstzustände und des Angstfetisch schlau ist, auf den Angstzug aufzuspringen, ist fraglich. Denn wer Veränderung gegen Angst setzen will, löst vermutlich erst so richtig Angst aus. Veränderung ist für manche bedrohlich – und viel anderes gibt es nicht zu fürchten. Das führt auch zum nächsten und wichtigsten Punkt.

 

Blaue Speckränder. Auf wien.gv.at sind die einzelnen Sprengelergebnisse im Detail abrufbar. Ein auffälliger Punkt dabei ist der große Unterschied zwischen den Gemeinderats- und den Bezirksergebnissen. Während in den Bezirken die ÖVP noch existent ist, ist sie auf der Gemeinderatsebene praktisch verschwunden. Die Bezirksergebnisse spiegeln das traditionelle Wien wieder, wie man es seit langem kennt: Hietzing, Döbling, Währing und Teile des ersten und achten Bezirks sind schwarz, der Rest ist rot mit ein paar grünen Einsprengseln. Von den Rändern her macht sich blau breit.
Auf Gemeindeebene verschwindet schwarz dann fast völlig. Und ein genauer Blick auf die Karten zeigt: Die blauen Hochburgen sind keinesfalls die klassischen Problemzonen, in denen man sich durchaus manchmal unwohl fühlen kann, nicht die Drogen-, Prostitutions oder Migrationsgebiete. Der ganze 15. Bezirk, der Reumannplatz und die Gürtelgegend sind rot, der zweite und der zwanzigste Bezirk ebenfalls. Blau ist an den Speckrändern der Stadt groß: Die Simmeringer Randgegenden, die Floridsdorfer Einfamiliensiedlungen, die Donaustädter Neubausiedlungen, Neuwaldegg und Grinzing sorgen für blaue Mehrheiten. Twitterer echauffierten sich über den Wahlausgang im Vorzeigeprojekt Seestadt: Auch dort wird blau gewählt. In den modernsten Neubauten mit der neuesten U-Bahnanbindung weiß man also die Leistungen der Stadt nicht zu schätzen. Das finde ich ok – Dankbarkeit ist kein politischer Wert. (Anmerkung am Rand: Mich hats immer gewundert, dass auch einige klassische Innenstädter die Seestadt cool gefunden haben. Aus meiner Sicht ist sie schön gemacht, kombiniert aber, wie alle Randlagen, die Nachteile von Stadt und Land. Lokalen und Geschäften gebe ich dort keine Chance. Das zu ändern wäre mal ein ehrenwertes Gentrifizierungsvorhaben.)
Aber beides zeigt: Das Geschwätz von der Angst (auf beiden Seiten) ist Ratlosigkeit. Einen Großteil der FPÖ-Wähler darf man durchaus ausgrenzen. Es trifft keine armen Hascherln, die sich nicht wehren können, sondern Menschen mit Familie, Haus, Job und Auto, die nicht bereit sind ihren Mitmenschen und dem Rest der Welt offen gegenüberzustehen. Die neuen blauen Hochburgen sind Gegenden, die soziale Probleme eher vom Hörensagen kennen.
Und sie zeigen, mit welch unterdurchschnittlichem Maß an Weltoffenheit, allgemeiner Intelligenz, sozialer Einfühlsamkeit und Anständigkeit man zu mittelmäßigem Wohlstand kommen kann. Oder, andersrum: Die Wahlergebnisse zeigen, dass der Viktor Adler Markt und der Stephansplatz eine nette Kulisse für Volksnähe abgeben, dass es aber nicht die dort auftauchenden versoffenen Randfiguren sind, die die FPÖ starkmachen, sondern jene, die sich tatsächlich für anständig und erfolgreich halten. Was dabei unter Anstand zu verstehen ist, ist eben jenes unterdurchschnittliche Maß an Offenheit, Einfühlsamkeit und Intelligenz.
Das finde ich dann doch eher bedenklich. Und es erfordert meines Erachtens einen völlig anderen Umgang mit den kritischen Themen: Ginge es um Angst, dann könnte man beschwichtigen, beruhigen und etwas gegen Ängste tun. Hier geht es aber um Menschen, die alles haben, sich einen Dreck darum scheren, warum das so ist, die Sündenböcke und gemeinsame Feinde brauchen und die sehr wohl auf Abgrenzung aus sind.
Da möchte man dann erst so richtig zum Gutmensch werden.