Wenn du selbst die Party sein musst

Ich habe zum ersten Mal ein Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre gelesen. 

 

Ich kann ja nicht so mit Udo Lindenberg. Ich habs gelegentlich probiert, aber – nein. Wahrscheinlich ist er ein cooler Typ, wohl auch menschlich toll und irgendwann mal künstlerisch wichtig, vielleicht jetzt sogar noch, aber ich kann Udo Lindenberg keine zehn Sekunden lang youtuben, ohne an tausend andere Dinge zu denken, die ich jetzt lieber machen würde.
Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für Benjamin von Stuckrad-Barres neues Buch „Panikherz“, in dem Udo Lichtenberg das wichtigste auf der Welt ist. Neben Koks. Aber Koks ist mittlerweile aus Stuckrad-Barres Leben verschwunden, Udo Lindenberg ist geblieben. Ich habe einen neuen Versuch mit Udo gemacht, weil ich ja auch einen neuen Versuch mit Stuckrad-Barre gemacht habe – „Panikherz“ ist das erste seiner Bücher, das ich gelesen habe. Vielleicht habe ich es früher aus Neid auf den Erfolg nicht gemacht, kann schon sein, aber auch, weil ich den hyper-referenziellen Pop-Kram nicht aushalte.
Meine eigene Karriere als Musikjournalist war kurz. Nicht zuletzt, weil der Rock’n’roll-Journalismus all die Fehler und Langweiligkeiten kopiert, die Kunst- und Literaturjournalismus schon Jahrzehnte vorher zu einer großteils öden Veranstaltung gemacht haben. Dinge im Zusammenhang zu sehen ist wichtig, Kontext, Zitate und Anspielungen als Inhaltsersatz zu vergöttern ist aber das, was dann auch Kunst selbst langweilig macht.
Aber es sollte ja um das Buch gehen. Stuckrad-Barre schreibt seine Autobiografie und konzentriert sich dabei vor allem auf seine Magersucht und seine Kokssucht. Rolling Stone, die Harald Schmidt-Show und diverse Musikmarketingjobs sind dabei Nebenerscheinungen, die irgendwo am Rand vorbeiziehen. Stuckrad-Barre sagt viele Dinge, so wie man es selbst vielleicht für unausgereift und unschlüssig halten würde, und lässt sie so stehen. So entsteht Literatur.
Stuckrad-Barre braucht 600 Seiten, um seine Geschichte zu erzählen. Koks kommt eben immer wieder zurück. Wenn man es einsetzt, weil man Stille und Ruhe nicht ertragen kann, dann umso mehr – Koks an sich hat ja keinen Unterhaltungswert, aber es versetzt den Konsumenten in die Lage, selbst die Unterhaltung zu sein, die er gerne hätte. Damit wird Stuckrad-Barres Buch zur schönen Geschichte über die Unausweichlichkeit der Enttäuschung, die sich bei der Suche nach fast allem erleben lässt. Im konkreten Fall: Die Suche nach der Coolness des Rock’n’Roll-Journalisten springt mitten in das Klischee zwischen Groupie und Gott (der durch seine Kritiken entscheidet), zerstört es durch den Wechsel ins Musikmarketing, das wieder die Illusion jedweder Coolness im Musikbusiness zerstört und mündet die Enttäuschung, die nicht akzeptiert werden kann: Wenn es die Party, die ich immer gesucht habe, nicht gibt, dann muss ich sie eben selber machen.
Irgendwann dämmert einem dann ja, dass man sich ziemlich verrannt hat, wenn man immer öfter ohne Freunde, Plan oder Perspektiven aufwacht, aber dann ist es halt nicht mehr so leicht, aus dem Hamsterrad rauszukommen. Denn nüchtern betrachtet, ist die ewige Party ein ähnliches Hamsterrad wie das Einfamilienhaus mit dem 9-5 Job. (Eine der größten und schönsten und ignoriertesten Erzählungen dazu ist übrigens, wenn auch frauenpolitisch fallweise nicht mehr ganz zeitgemäß, Charles Bukowskis „Women“.)
Stuckrad-Barre jedenfalls wird irgendwann wieder nüchtern und verwandelt sich in den Prototypen deutscher Entertainmentkultur, also in den Helden von Gala- und Bunte-Klischees schlechthin: Selbstfindung im Chateau Marmont am Sunset Boulevard, Quinoa-Grütze-Dinner mit Thomas Gottschalk in Hollywood, Kino mit Bret Easton Ellis – und das alles vor dem Hintergrund einer kritischen Drogenvergangenheit. Wie schön. Ein neues Abziehbild für eine neue Generation auf der Suche nach der Party.
Andererseits: So ist das Leben. Antworten gibt es nicht; zu vielen Möglichkeiten stehen zu wenig begründbare Entscheidungen gegenüber, also ist es halbwegs egal was du machst – Hauptsache du stirbst dabei nicht und machst auch deine Umgebung nicht kaputt. Auch irgendwie unbefriedigend. Aber das kann man wiederum Stuckrad-Barre nicht vorwerfen, das ist nun mal so. Es macht jedenfalls Spaß, das Buch zu lesen und sich selbst und andere auf der Suche nach Relevanz für den eigenen faulenden Knochensack zu beobachten.

Bibelquiz – Wer hat’s gesagt?

Die Partei mit den biblisch-christlichen Werten kürzt bei den Schwächsten: Mindestsicherung reduzieren, Grenzen schließen, Spendengelder verstaatlichen. Dazu stellen sie noch einen Bundespräsidentschaftskandidaten auf, der die Republik in einen Gottesstaat verwandeln möchte.

Aber klar, die Zeiten sind verwirrend. Manchmal ist es gar nicht so leicht, sich zwischen rechts und links, richtig und falsch oder überhaupt für irgendwas zu entscheiden. Da greift man dann in der Eile vielleicht auch mal zur falschen Bibel.

Deshalb haben wir – auch passend zur Jahreszeit – unser exklusives Bibelquiz erstellt: Wer hat’s gesagt? Zur Auswahl stehen christliche und satanische Bibel. Wobei … – aber probiert es einfach selbst.

 

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Was denken Sie eigentlich? – Teil 1: Neandertaler, Logik und Zeitreisende

Wir arbeiten an Prototypen einer neuen Serie: Was sagen manche Menschen eigentlich, wenn sie reden? Heute legt, logisch analysiert, Robert Lugars jüngste Rede nahe, dass manche Parlamentarier geheime Informationen von Zeitreisenden empfangen. 

“Was denken Sie eigentlich?“ wird gemeinhin mit einem eher vorwurfsvollen Unterton gefragt. Umgangssprachlich ist auch „Was glauben Sie eigentlich?” geläufiger. Ich bleibe trotzdem beim Denken, weil ich damit an Lesarten von Texten anknüpfen möchte, die versuchen, einen Schlüssel zum Weltbild des Schreibenden oder Sprechenden zu finden. Das kann ein Weltbild sein, das der Sprechende beschreiben möchte, eines, das durch seine Aussagen konkreter wird, oder eines, in dem seine Aussagen besondere Wirkung entfalten. 
Ich hatte bis jetzt ein paar Notizen zu dieser Idee. Die Notizen drohten, wie so vieles, mitsamt der Idee auf einer langen Bank in weite Ferne zu verschwinden, aber dann kam diese Rede von Team Stronach-Klubobmann Robert Lugar. An der kann man einfach nicht vorbeigehen und muss sie zumindest in Ansätzen zu verstehen versuchen.

Lugar (TS): „Weltbild wie die Neandertaler“„Jetzt holen sie genau solche Neandertaler herein, die wir bei uns Gott sei Dank ausgerottet haben, die die Frauenrechte mit Füßen treten.“ – Robert Lugar vom Team Stronach sorgt bei der heutigen Nationalratsdebatte zur Flüchtlingspolitik für Aufregung.

Posted by Zeit im Bild on Wednesday, March 16, 2016

Wenden wir einfach mal ein paar Grundregeln der Argumentation und der Logik an. Logik hat nämlich ihre Tücken: Wenn man unterstellt, dass sich Argumente im Grundrahmen der Logik bewegen, dann schließen sie nämlich auch einiges mit ein.
Das Gute vorweg: Man könnte Lugars Argumentation als genialen Schachzug sehen, um eventuelle Rassismus-Vorwürfe ins Leere laufen zu lassen. Rassen gibt es innerhalb eine Spezies; nachdem Lugar aber (manchen) Flüchtlingen nicht den Status der Spezies Mensch zuerkennt, sondern sie zu den Neandertalern zählt, kann er also kein Rassist sein. Oder?
Die Grundlage, auf der er diese Unterscheidung einführt, erschließt sich allerdings nicht ganz so leicht. Wie er am Tag danach selber sagte, weiß er ja gar nicht, wie das Weltbild von Neandertalern ausgesehen hat. Das wäre wahrscheinlich auch insofern schwierig, als man sich bis heute nicht sicher ist, ob Neandertaler Sprache hatten.

“Neandertaler (…), die wir Gott sei Dank ausgerottet haben”

Wird auch schwierig, das festzustellen, denn wie Robert Lugar richtig vermuten lässt: Neandertaler leben nicht mehr. Der gängigen Lehre zufolge sind sie ausgestorben, Lugar formuliert es etwas anders: „Wir haben sie Gott sei Dank ausgerottet.“*
Da stecken zwei Implikationen drin:
Erstens: Wer sich bei seinem Gott bedankt, findet das, wofür er sich bedankt, in der Regel gut. „Jemanden ausrotten“ ist eine aktiv besetzte Wendung; sie bedeutet nicht unbedingt, jemanden mit eigenen Händen zu erwürgen. Im weitesten Sinn kann ausrotten auch das Vernichten der Lebensgrundlagen der ausgerotteten Art bedeuten. Jedenfalls sind Tod und Töten notwendige Voraussetzungen des Ausrottens.
Logisch aufgegliedert bedeutet „Gott sei Dank haben wir x ausgerottet” also:
1) Ich finde es gut, dass wir x ausgerottet haben.
2) eingeschlossene Prämisse: Ausrotten bedeutet Töten.
3) Konsequenz: Ich finde Töten gut.
Ob und unter welchen Umständen man das Töten befürworten darf oder sollte, ist eine häufige Fragestellung moralphilosophischer Dilemmata. Meist werden dabei aber vergleichbar schwerwiegende Konsequenzen einander gegenübergestellt: Darf man den dicken Mann von der Brücke werfen, um den Zug zu stoppen, der fünf Menschen zu überrollen droht? Oder darf man die Weiche umstellen , sodass auf dem anderen Gleis nur ein Mensch (statt fünf auf dem anderen Gleis) überrollt würde?
Diese Konsequenz fehlt mir in dem Neandertaler-Ausrottungs-Dilemma. Welche schwerwiegende Folge wäre gegenüber der Entscheidung, die Neandertaler auszurotten, so viel gravierender? Ist es nur das gesunkene subjektive Sicherheitsgefühl?
Zweitens: Die zweite Implikation des Ausrottungssagers macht verständlich, warum diese letzte Frage so schwer zu beantworten ist. „Wir haben ausgerottet“ ist wie bereits festgestellt eine aktive Formulierung. Sie setzt den Sprechenden in Bezug zur Handlung. Das Aussterben der Neandertaler liegt nun allerdings bereits rund 40.000 Jahre zurück. Wie kann jemand, der gestern noch am Rednerpult des Parlaments stand, ein Ereignis von vor 40.000 Jahren auf sich verbuchen?
Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten:
1) Lugar fasst das „wir“ in seiner Formulierung sehr weit und schließt dabei sich, seine WählerInnen, seine NichtwählerInnen und die gesamte Menschheit der letzten 40.000 bis 45.000 Jahre ein. Schließlich haben Menschen und Neandertaler eine Zeit lang den Planeten gemeinsam bewohnt. Damit gäbe es ein globales und die Jahrtausende überdauerndes  „Wir“, das das Subjekt in dieser Aussage spielen kann. Damit wäre diese Aussage logisch möglich, sie wäre allerdings höchstwahrscheinlich immer noch historisch falsch. Das Aussterben der Neandertaler wird je nach Theorie auf Umwelteinflüsse, zu kleine Gehirne, mangelnde Sozialkompetenz oder darauf, dass sie vielleicht keinen Spaß an Sex hatten, zurückgeführt.
2) Die zweite Möglichkeit: Wer der Meinung ist, die Neandertaler ausgerottet zu haben, glaubt auch an Zeitreisen. Eine andere mögliche Voraussetzung, um die Aussage „Wir haben die Neandertaler ausgerottet“ richtig sein zu lassen, wäre die Annahme, dass sich ein geheimes Kommando 40.000 Jahre weit in die Vergangenheit beamen ließ, dort den Neandertalern den Garaus machte, und dann vermutlich wieder zurückkehrte, um Grenzzäune aufzuziehen. Wobei der letzte Teil der Geschichte nur Spekulation ist – vielleicht sind sie ja auch bei den Neandertalern geblieben und damit beschäftigt, ihre Spuren zu verwischen, weshalb es Forschern auch so schwer fällt, Details über das Ende der Neandertaler festzustellen. Oder sie sind seither in einer vernichtenden Raum-Zeit-Spirale gefangen, aus der sie nur alle paar Jahre rechtzeitig vor Ostern mit ausgewählten Parlamentariern kommunizieren können. Wir sollten hier nichts voreilig ausschließen
Man könnte jetzt sagen: Passt gut zu einer Zeit, in der Bundespräsidentschaftskandidaten aus einer Republik einen Gottesstaat machen möchten oder Lokalpolitiker auf die voodoo-ähnlich beschwörende Magie von Werteformeln oder deutscher Poesie setzen.
Oder man könnte sich die Frage stellen, was es bedeutet, Menschen die Menschlichkeit abzuerkennen.
Das ist dann aber keine reine Logikfrage mehr. Historiker oder Kolonialismusforscher (“Wir sind alle Neger”) wissen darüber mehr und Konkreteres.
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* wörtlich heisst es: „Jetzt holen Sie genau solche Neandertaler herein, die wir bei uns Gott sei Dank ausgerottet haben.“

Wir alle sind N**** – Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft

Ein paar hundert Jahre nach der Aufklärung: Staatsmacht hat, wer töten kann. Lernen wir auch gerade jetzt wieder im Umgang mit Sozial-, Arbeits- und Migrationspolitik. 
Die „Kritik der schwarzen Vernunft“ ist nicht das, was der Titel vielleicht erwarten lässt. Achille Mbembe, Politikwissenschaftler und Kolonialismusforscher überspringt die Frage, was schwarze Vernunft ist und wendet sich gleich ihrem Bild in der weißen Diskussion zu. „Kritik der schwarzen Vernunft“ ist eine Aufarbeitung der Diskurs- und Erkenntnisverweigerung gegenüber Afrika und zieht sich von den frühen Kolonialisten bis heute. Afrika ist dabei nur ein Platzhalter für das Fremde und das, was ihm zugeschrieben wird. Das wird später noch wichtig.

Fabulieren statt Verstehen

Afrika, so Mbembe, ist grundsätzlich ein Konstrukt der Phantasie der frühen Kolonialisten. So wie Naturforscher (vermeintlich) neue Tierarten beschrieben und klassifiziert haben, haben Reisende Afrika beschrieben – und sich dabei auf ihr eigenes Urteil und ihren nicht zu kleinen Anteil an Phantasie gestützt. Fabulieren und Klassifizieren sind die vorrangigen Diskursstrategien gegenüber Afrika; Verstehen spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
Dazu braucht es noch gar keine Sklavenhändler-Einstellung. Auch der vermeintlich offene Forscher kommt über das Fabulieren selten hinaus.
Mbembe konzentriert sich weniger auf die Analyse der Rechtfertigungen (oder vielmehr des Selbstverständnisses) der Sklaverei als auf die Suche nach einer Position zu schwarzen Identitäten nach dem Ende der Sklavenhaltung. Denn auch die Zeit danach blieb vor allem von Ratlosigkeit beherrscht: Was machen wir mit den Fremden, die wir nicht (persönlich) gerufen haben, die wir nicht mehr ganz nach Belieben töten und unterdrücken können, die wir aber auch nicht ganz so einfach pauschal aussiedeln können?

Macht hat, wer über Leben entscheidet

Mbembes Fragestellungen kreisen rund um seine Theorie, dass die Grundlage von Macht und Souveränität nach wie vor in der Fähigkeit, über Leben und Tod zu entscheiden, begründet ist (frei online nachzulesen auch in seinem Essay „Necropolitics“; Necropolitics hier im Blog).
Die Bilder von Sklaven oder „Afrika“ sind dabei nur eine besonders plakative Projektionsfläche. Mbembe schreibt in seiner Argumentation kompromisslos von „N******“ (ohne Anführungszeichen). N**** sind fremd, sie sind Kapital, sie verschaffen den mit Sklavenhändlern kooperierenden Regionen Wettbewerbs- und Standortvorteile und sie sind Ware.
Später blieben sie in erster Linie fremd und anders; manchmal etwas zurückgeblieben und nicht ganz zurechnungsfähig, manchmal hilfs- und schutzbedürftiges Objekt fürsorglicher Bemühungen, manchmal etwas Bedrohliches und Wildes. Auf jeden Fall aber: anders.
Während das Betonen der Andersartigkeit des N***** (ja, mich reißt es auch jedes Mal beim Schreiben) Rassismus ist, funktioniert der Konstruktionsplan dieser Andersartigkeit auch ohne Rasse – oder: Rassismus in Form biopolitischer Machtausübung ist nicht kleinlich. Ein anderer muss nicht schwarz sein, um anders als „wir” zu sein und damit ausgegrenzt werden zu können. Der N**** war nur die erste Erscheinungsform, an der dieses Prinzip ausprobiert werden konnte.
N****, schreibt Mbembe, verweist „nicht mehr nur auf die Lage, in die man die Menschen afrikanischer Herkunft in der Epoche des Frühkapitalismus brachte (Eineignungen unterschiedlicher Art, Beraubung jeglicher Möglichkeit der Selbstbestimmung und vor allem der Zukunft und der Zeit, dieser beiden Matrizen des Möglichen).“ N**** ist, wer vom anderen dazu gemacht werden kann, und wer sogar auf dem Weg zur scheinbaren Selbstbestimmung einem Sklavenpfad folgen muss. Historisch gesehen waren das ehemalige Kolonien, die sich ihre beschränkte Freiheit durch Zivilisationsbekenntnisse oder Reparationsleistungen zurückkaufen mussten, heute sind es Aussortierte, Überflüssige und Verschuldete, Mittelschichten, die sich mit Reichen solidarisieren, um sich der vermeintlichen Hoffnung auf eigenen Reichtum zu unterwerfen. Der Konsument, der Sozialhilfeempfänger, der freudige Venturekapitalnehmer – das sind die N**** des 21. Jahrhunderts.
Die Behauptung der Differenz (damit kommen wir an den Anfang zurück, zu der Frage Sicht des N***** als Platzhalter für Andersartigkeit), die sich in der Erfindung des N***** zum ersten Mal bewährt hat, ist ein gängiges Mittel, um Ausgrenzung und Abgrenzung produzieren, Abhängigkeiten zu erzeugen und Machtverhältnisse zu begründen. „Ihr wisst das halt nicht – aber wir sagen euch, wo es langgeht“, ist die zusammengefasste Position, mit der Eliten N***** aller Art begegnen können. Dabei können sich Eliten auf Traditionen, Kulturen und Fortschritt berufen – und auf eine verlockende Perpektive der Teilhabe, die sie N***** bieten können. Der N**** erfüllt dabei in etwas die Rolle einer neu angeschafften Maschine: Diese soll funktionieren und Produktivität steigern, sich aber nicht in geschäftliche oder strategische Angelegenheiten im Unternehmen einmischen. Der N**** soll wollen (besser werden wollen, wie die Weißen werden wollen, sich entwickeln wollen) und konsumieren (Waren, Lebenstile oder Lerninhalte). Produktive Aspekte des N****daseins sind dabei nicht vorgesehen.

Einwanderer als neue Platzhalter des Andersartigen

Diese Argumentation mag so weit nachvollziehbar sein; die Produktion von Überflüssigen, die bestenfalls durch ihren Konsum ein Produktionsfaktor sind, aber nicht weiter individuell beachtet werden müssen, wird auch von anderen Autoren beschrieben. Aber welcher Staat, welche Elite tötet heute noch ihre Überflüssigen? – Schließlich geht Mbembe ja von der Macht als Macht über Leben und Tod aus.
Hier kommt wieder der Rassismus ins Spiel. Kaum ein Staat, kaum eine Elite tötet seine eigenen Überflüssigen.  Er erfasst sie, kategorisiert sie, legt sie mit erweiterten Überwachungsmaßnahmen immer enger auf einzelne Merkmale fest, identifiziert sie mit biometrischen Verfahren, hält sie dadurch verfügbar – und grenzt sie von anderen Überflüssigen ab. Jeder Staat hat seine N****, um die er sich kümmern muss, die N**** der anderen sind davon nicht eingeschlossen.
Identifikation und Kategorisierung dienen der „Schaffung einer neuartigen Population von Menschen, die potenziell zu entfernen und zu inhaftieren sind. So werden im Rahmen der neuen Einwanderungsfeindlichkeit in Europa ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert und diversen rassischen Zuschreibungen unterworfen. Sie machen den Einwanderer zur Figur eines wesenhaften Unterschieds.“
Aus dieser Perspektive wird klar, wie weit die Herrschaftsformen, die Mbembe beschreibt, auch heute noch angewendet werden.
Die Probleme dahinter können auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden:
Die willkürliche Grenzziehung anhand von Geburtsorten, Dokumenten und geografischer Lebensgeschichte ist eine Ebene.
Die andere Ebene ist die Verdinglichung des Menschen. Diese Ebene zieht schon lange eine historische Spur durch die Geistesgeschichte (Entfremdung, Warencharakter oder Überflüssige sind beispielhafte Schlagworte, die sich im Lauf der Zeit entwickelt haben). Der Mensch als willige Manövriermasse wird heute allerdings weniger ausgebeutet als er sich selbst ausbeutet (nein, nicht durch Unternehmertum und den landläufigen Begriff von Selbstausbeutung), sondern durch Konsum und Hoffnung. Politik sorgt für den Menschen und bringt ihn damit in eine Abhängigkeit, deren schlimmste Bedrohung Wachstum ist. Wachstum, das herausfordern könnte (erhöhte Produktivität, mehr Möglichkeiten) ist selten geworden, davor braucht sich niemand mehr zu fürchten. Wachstum in Form von Zuwanderung ist stattdessen zur schlimmsten Bedrohung geworden. Die N****, die sich nicht selbst zu helfen wissen, zweifeln zu Recht an ihrem Herrn, der kein Interesse daran hat, sich für sie ins Zeug zu legen, und sich stattdessen mit ihnen gemeinsam gegen mögliche Bedrohungen wehrt.
Es braucht keine Phantasie, um darin ein etwas überdeutliches, aber nicht weniger aussagekräftiges Bild aktueller Migrations-, Sozial- und Arbeitspolitik zu sehen.

Ich mag ja Optimismus …

Breaking News: Das Finanzamt prophezeit Unternehmern ein Boom-Wachstum wie in den 50er-Jahren. Zumindest, wenn man die Einkommensteuervorauszahlungsbescheide beim Wort nimmt. Und – wie das Finanzamt – die Steuerreform ignoriert.
Ach Finanzamt, ich mag ja deinen Optimismus. Während andere sich bemühen, irgendeine Form von Feelgood- oder Aufschwungsstimmung zu erzeugen, sich in schlecht sitzenden T-Shirts an die Start Up-Szene anbiedern, von Risikofreudigkeit und Unternehmergeist reden, setzt du ganz einfach Maßstäbe und lässt mit deiner Zuversicht nicht den Funken von Zweifel aufkommen.
Jedes Jahr werden die Steuervorauszahlungen für Selbstständige erhöht, jedes Jahr stärkst du den Wirtschaftsstandort Österreich durch deine unerschütterliche Zuversicht: Es wird auch kommendes Jahr wieder besser werden. Ungeachtet aller Wachstumsprognosen und -statistiken gehst du ganz einfach davon aus, dass es Wachstum geben wird. Und das gleich in der Höhe von vier Prozent. Ein Wirtschaftswachstum in der Dimension hatten wie zuletzt 1990, davor 1975.
Fein. Das ist ein Ansporn. Deutlicher kann man nicht sagen: „Wir glauben an euch, liebe Unternehmer.”

Steuerreform 2015? – Erst 2017

Zuletzt allerdings gab es ja diese vielbejubelte Steuerreform, die uns allen mehr Geld in der Tasche lassen wird, die den Konsum ankurbeln wird und die der flauen Wirtschaft auf die Sprünge helfen wird. Dass Selbstständige diese Reform erst mit der Steuererklärung 2016 spüren werden, war klar.
Dass die Berechnung der Vorauszahlungen für 2016 allerdings die Steuerreform vollkommen ignorieren, daran verschlucke ich mich dann doch etwas vor Überraschung.
Die Vorauszahlungsbeträge werden einfach so wie sie sind mit vier Prozent erhöht, ungeachtet neuer Steuertarife. Für denjenigen, der das Geld erst mal verdienen muss, bedeutet das: 2016 sind nicht vier Prozent, sondern je nach Steuerklasse bis zu rund neun Prozent mehr Gewinn notwendig, um diese Vorauszahlungen ohne Verluste erfüllen zu können. Ein Wirtschaftswachtum in dem Ausmaß gab es zuletzt 1955. Anders gerechnet: Bei gleichbleibendem Gewinn ist die Einkommensteuervorauszahlung 2016 um zehn Prozent zu hoch angesetzt.
Und bis Selbstständige dann die Segnungen der Steuerreform 2015 spüren werden, wird es also Frühling 2017 sein – wenn die Steuererklärung 2016 erledigt ist, die Vorauszahlungen geleistet sind und der Steuerbescheid dann auch den dann schon seit zwei Jahren geltenden Regeln entspricht.

Zehn Prozent zu viel kassiert

Man könnte sich jetzt natürlich auch den Papierkrieg antun und um niedrigere Vorauszahlungen ansuchen, die Vor- und Nachteile (Zinsgewinn gegen Arbeitsaufwand) durchrechnen, oder rein aus Prinzip sagen „Ich zahl das nicht.“
Mir macht eigentlich etwas anderes Sorgen: Ich für meinen Teil habe nur ungern Geld in der Buchhaltung, von dem ich weiß, dass es nicht mir gehört. Ich dränge Partner und Lieferanten darauf, schnell Rechnungen zu stellen, bezahle sie möglichst schnell, hab meine Einnahmen-Ausgaben-Rechnung in Ordnung und mache sogar die Umsatzsteuervorauszahlungen möglichst schnell. Ist für mich einfach am saubersten so.
Deswegen finde ich es eben recht befremdlich, wenn das Finanzamt gerade in Zeiten, in denen Staatsschulden ein Problem sind, ganz gezielt mit neuen Schulden plant. – Fließen die Einkommensteuervorauszahlungen jetzt ernsthaft in ein Budget, werden verplant und ausgegeben? In dem Wissen, dass aller Voraussicht nach zehn Prozent davon wieder zurückgezahlt werden müssen? Oder ist die Hoffnung einfach die, dass die Betroffenen das Geld eh liegen lassen werden, weil sie froh sind, dann mal ein Jahr lang keine Nachzahlungen leisten zu müssen? Oder sind das Gedanken, die sich in der Finanzverwaltung ohnehin niemand macht?

Stiefkind Einkommensteuer

Es ist schon klar, dass die Einkommensteuer einen vergleichsweise kleinen Anteil an den Gesamtsteuereinnahmen ausmacht. 2013 waren es 3,1 Milliarden Euro (von 76,3 Milliarden Gesamtsteuereinnahmen). Die Lohnsteuer machte 2013 24,5 Milliarden aus. Da kann man schon Fehlkalkulationen in Kauf nehmen.
Das Wachstum der Einkommensteuer lag 2013 übrigens bei fast 20%, das der Lohnsteuer bei knapp über fünf Prozent. Vielleicht könnte es ja noch höher sein – wenn nicht dieses Vorauszahlungsspiel eines der schlagkräftigsten Argumente gegen das Unternehmerdasein wäre.

So läuft die Welt

Slavoj Žižek rettet Hegel, schaut Batman und schreibt sehr viel („Weniger als Nichts“, „Ärger im Paradies“, „Was ist ein Ereignis?“). Beim Lesen lernen wir: Die, die ihr Unbehagen mit der Welt nur diffus formulieren können, sind wahrscheinlich zur Zeit die präzisesten Analytiker dieser Gegenwart. 
Mit politischen Hegelexegeten ist es ähnlich wie mit diversen Flirtcoaches und ihren mehr oder weniger krassen Tipps. Zwei stehen einander gegenüber, einer davon hat etwas drittes als Ziel, das die zweite vielleicht nicht so sieht (er will sie ins Bett kriegen), und mehr oder weniger krude Methoden sollen den Weg dorthin ebnen (wie etwa: „Drück ihr Gesicht in deinen Schritt. Sie wird es lieben.“).
Es birgt also eine gewisse Gefahr, in einem 1500-Seiten-Wälzer, der sich irgendwie doch mit der politischen Situation des frühen 21. Jahrhunderts beschäftigt, große Teile Hegel zu widmen. Genau das tut Slavoj Žižek in „Weniger als nichts.“
Warum drängt sich dabei dann der Gedanke an die Flirtcoaches auf? Žižek kann wie immer nicht ohne Lacan, und wo Psychoanalyse ist, ist auch Sex.

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Alles könnte auch anders sein. So weit, so scheinbar banal.

Žižek holt weit aus, kombiniert Vorsokratiker, deutsche Idealisten, Akte X und seine liebsten Hitchcock-Filme in einem ziemlich anstrengenden Gedankenstrom, und nach etwa 500 Seiten dämmert es dem Leser: Es geht hier um die gedanklichen Instrumente, die wir uns zur Erfassung der Welt zurechtlegen. Und damit sind wir mitten in einer hochpolitischen Diskussion. Denn das Ziel, oder der Punkt, der nach diesem Buch zu verstehen wäre, ist: Nichts muss so sein, wie es ist. Das gilt auch für eine demokratische und kapitalistische Ordnung. Das bedeutet aber nicht, dass wir wissen müssten, wie es anders ist.
Nichts muss so sein – in der Philosophie nennt man das Kontingenz. Und diese Behauptung lässt sich auf unterschiedlichen Wegen argumentieren:
  • Wir können Kausalitäten in Frage stellen – war a wirklich der Grund für b und wenn schon – war a dann notwendig?
  • Wir können das Müssen in Frage stellen: Wenn Müssen auf Macht beruht, die jemand hat, oder auf Gewohnheiten und Traditionen – dann ist das noch immer weit entfernt von jeder vorgegebenen Ordnung.
  • Wir können auch schlicht sagen: Wir wissen eigentlich gar nicht, was gerade los ist. Wir können es nicht einteilen und beurteilen – und deshalb können wir auch keine vernünftigen Angaben zur Notwendigkeit machen. Wir können es mögen oder nicht – aber das ist gerade angesichts komplexer Zustände eher ein Gefühl oder eine Ideologie als eine begründbare Argumentation. Und allen, die jetzt mit vielen Gründen argumentieren möchten, sei gesagt: Auch dabei haben wir es dann schnell mit Werten und Ideologien zu tun …
So weit, so scheinbar banal.
Turbo

Was war, wissen wir erst, wenn es vorbei ist. Also eigentlich nie.

An diesem letzten Punkt setzt Žižeks lange Diskussion der Frage, was denn nun ein Ereignis sei, an
(der Text ist Teil von „Weniger als Nichts“ und phasenweise wortgleich als eigenes Buch („Was ist ein Ereignis?“) erschienen). Die Frage ist: Wann ist „wirklich etwas passiert“? Wann ist etwas geschehen, eine Veränderung eingetreten, ein anderer Zustand erreicht, etwas, das sich von einem Dauerzustand laufender Veränderung unterscheidet? Wann ist die eine Entwicklung zu einem Ende gekommen und wann hat die nächste begonnen?
Das, so die Konsequenz, wissen wir immer erst im nachhinein. Es ist der Job der Geschichtsschreibung, Entwicklungen Bedeutung zuzuschreiben und sie so zu Ereignissen zu machen. Das ist nicht mit Relevanz zu verwechseln. Es ist eher ein Vorgang der Abstraktion: Viele kleine Punkte werden zu einem Ereignis aggregiert.  – Demonstrationen und der Mauerfall waren das Ende des Kommunismus (was sagt eigentlich Nordkorea dazu?) und Österreich war ein Opfer Hitlers (Österreich sagt danke).
Nicht wissen zu können, was los ist, bedeutet dann auch, dass was wir zu wissen glauben ziemlich notwendigerweise falsch ist.
Hier setzen dann eben die gängigen Hegel-Gymnasiasteninterpretationen an. Dialektik heisst in dieser Vorstellung: Hier gibts die These, dort die Antithese und daraus entsteht in wundersamer Weise die Synthese. Dahinter oder über den Wolken lauert auf noch wundersamere Weise der Weltgeist, der magisch dafür sorgt, dass sich alles weiterentwickelt.
Wir können eine süßliche Entwicklungsromanze vermuten oder eine notwendige zerstörerische Kraft. Die „Kraft“ ist dann auch allerdings eher ein Produkt der Phantasie. Das sind die Momente, in denen Žižek neben Hegel Lacan braucht. Lacan macht Psychoanalyse und hat Freuds Repertoire weiterentwickelt. Neben dem Es gibt es bei ihn den Großen Anderen. In der klassisch sexfixierten Psychoanalyse könnte das der Vater ödipaler Kinder sein, bei Lacan ist es das Gespenst das jeder mit sich herumträgt – der Große Andere ist das Surrogat von Notwendigkeit. Er ist das, was wir nicht mehr hinterfragen, weil es für uns selbstverständlich ist, unser Handeln und unser Verständnis anleitet. Und das große Ding, das wir zugleich bekämpfen (wenn es ödipal wird) oder nicht wahrhaben wollen (wenn wir uns lieber als rationale selbstbestimmte Individuen sehen würden), das uns aber insgeheim immer klar macht, wo es lang geht. Und das meist für alle anderen deutlicher ist als für uns.
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Trieberfüllung: immer weiter machen, bloß nie ankommen.

Der Große Andere löst Unzufriedenheit aus. Einerseits stiftet er den Zusammenhang, vor dem das ständige “nicht ganz” klar wird: Er ist immer eine Schritt woanders, nie ganz da und nie ganz greifbar. Er lässt immer verstehen, dass wir noch nicht da sind, dass sich etwas ändern muss. Auch das ist eine zerstörerische Kraft.
Andererseits ist der große Andere nah am Trieb. Lacans Triebkobzept behauptet, dass Triebe ihr Ziel nie erreichen möchten. Der Antrieb entsteht dadurch, dem Triebobjekt nachzujagen. Es zu erreichen, wäre eine Enttäuschung und keine Erfüllung. Befriedigung entsteht für Lacan in der Wiederholung des Scheiterns. Das gibt uns den Grund, immer das gleiche machen zu können, gibt Sicherheit und verleiht gleichzeitig den Anschein, etwas zu tun und aktiv zu sein. Dabei gibt es kein großes Ziel, außer dem, Passivität und einen unbewegten Dauerzustand zu vermeiden.
Aber zurück zu Politik und Dialektik. Worauf Žižek hinaus möchte: Entwicklung und Dialektik sind keine Dreierbewegung hin zu einem Ziel, sondern eine Zweierbewegung. Die Notwendigkeit der Zweierbewegung ergibt sich nicht nur aus der hin und wieder schlicht vorhandenen Notwendigkeit, dass sich etwas ändern muss. Sie ist schon (hier unterhalten sich wieder Hegel und Lacan) in der Beschreibung und Festsetzung eines Zustands enthalten. Die einfache Feststellung „Du bist John“, die auf den ersten Blick eindeutig und affirmativ klingt, wird aus dieser Perspektive zur Beschreibung einer großen Spaltung. „Du“ und „John“ sind unterschiedliche Einheiten, zwischen denen eine Beziehung hergestellt wird. Wenn sie eins wären, wozu dann eine Beziehung herstellen?
Ähnlich ist es bei der Entstehung von Bedeutung: Dingen wird ein Sinn zugeschrieben, ein gewisses Verständnis, sie werden in kausale Zusammenhänge gebracht. Daraus entsteht ein Ereignis, daraus entstehen – unter anderem – Rahmenbedingungen für politisches Handeln. Und weil die Behauptung schon die grundlegende Spaltung darstellt, öffnet sie zugleich auch den Raum für Veränderung – ebenso, wie sie ihn auch unterdrückt.
Entwicklung, „werden, was immer schon war“, notwendige Zerstörung und andere mythologisch anmutende Dialektizismen können so auf die naive Annahme einer festgesetzten Zukunft, einer Entwicklung zum Besseren hin verzichten. Bewegung entsteht allein dadurch, dass sie zu verhindern versucht wird; jeder Fixierung bedeutet zugleich: „Und es könnte auch ganz anders sein.“
Kommunismus

Klartext: Es geht um ein Kommunismus-Comeback

In „Weniger als Nichts“ bleibt Žižek abstrakt und auf wissenschaftliche Philosophie und Psychoanalyse (und seine persönlichen Spielarten) bezogen. In seinem etwa zur gleichen Zeit erschienenen Buch „Ärger im Paradies“ wird er konkreter. Hier geht es nicht um idealistische und psychoanalytische Funktionsweisen, hier wird ganz konkret die Frage gestellt: „Ist der Kapitalismus am Ende?“.
Das wirkt nur auf den ersten Blick überraschend.
Nicht nur, weil Žižek laut Eigendefinition überzeugter Kommunist ist. Die herrschende (politische) Erzählung ist die von Freiheit, Demokratie und freier Wirtschaft. In dieser Erzählung treten Widersprüche auf, dazu muss man sie gar nicht mit Marx lesen. Von der Freiheit profitieren nicht alle. Verteilungsmechanismen schaffen fragwürdige Ergebnisse (zu viel oder zu wenig, je nach Perspektive). Finanzmärkte schaffen zusätzliche Abstraktionsgrade, Probleme und obskure herrschende Klassen.
Dem kann man entgegensteuern, indem man sich auf einen realen Kapitalismus bezieht, der sich von Spekulanten, Managern und Korruption abgrenzt. Man kann auch soziale Verantwortung in den Vordergrund stellen, die soziale Seite von Adam Smith heraufbeschwören (wer im Eigeninteresse handelt, handelt auch im Interesse seiner Umgebung) und Nachhaltigkeit und Langfristigkeit in Unternehmensziele einbeziehen. Oder man kann Kleinunternehmertum als Rezept gegen die Ausbeutung von Arbeitern sehen .
Ändert sich dadurch grundsätzlich etwas? Verschieben sich Grundsätze der Welt, wenn ehemalige Venturekapitalisten, nachdem sie Partner abgezockt, Start Ups an Konzerne verkauft und dadurch die alte Ordnung einzementiert haben, Biomärkte eröffnen? In denen – preisbedingt – ohnehin nur die einkaufen können, die selbst das kapitalistische Spiel mitspielen. Ändert sich etwas, wenn der Kleinunternehmer, statt 40 Stunden die Woche „ausgebeutet“ zu werden, 60 Stunden die Woche in die eigene Tasche arbeitet?
Das sind keine radikalen Kurswechsel, das sind vereinzelte Zuspitzungen und persönliche Lösungen. Sie erscheinen vielleicht radikal oder zukunftsträchtig, weil die große Alternative noch nicht im Blick ist. Sie werden, auch wenn sie ein wenig an der bestehenden Ordnung kratzen, politisch gefördert und gern gesehen, weil es marginale Veränderungen sind, die neue Rahmenbedingungen weder brauchen noch schaffen.
Das kann gut sein. Das kann aber auch Erstarrung bedeuten, Zuspitzung des Problems, Verleugnung von Problemen, Ausblenden von Alternativen – oder ganz einfach: Es kann ein Fall von Betriebsblindheit sein. Politisch gesprochen würden jetzt Metaphern von „aufwachen“, „Augen öffnen“, „bevor es zu spät ist“ Raum greifen. Philosophisch betrachtet gehts eher um die Frage, wie falsch diese Einstellung ist, wie weit diese Einschränkung auf einige wenige Alternativen unsere Perspektive beschränkt und damit das Fundament der eigenen Argumentation schwächt. Also schlicht: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns irren, das nicht wissen, und deshalb gar nicht argumentieren können.
Batman

Batman darf kein Kommunist sein

In „Ärger im Paradies“ zieht Žižek ausnahmsweise nicht Hitchcock, sondern Batman heran, um das Problem zu erklären:
Joker in „The Dark Knight“ hat Chaos angerichtet, Menschen an den Rand ihrer Überzeugung gebracht, Helden an sich zweifeln lassen, und sogar den guten Bürgermeisterkandidaten Dent, der die Hoffnung auf den unkorrumpierbaren weißen Ritter in Gotham City verkörperte, zum Kippen gebracht. Das war ok, weil es letztlich nur um Liebe und persönliche Grausamkeiten ging.
Bane dagegen, der Schurke aus der Fortsetzung „The Dark Knight Rises“, spielt seine Bösartigkeit über die Finanzmärkte aus: Er greift Bruce Waynes/Batmans Vermögen an, lockt die Polizei in eine Falle und löst durch die Befreiung von Häftlingen anarchische Zustände aus. Während Joker eine zwiespältige Figur war, die auch in ihren Gegnern Zwiespalt auslöste, vereint Bane eine geschlossene Front gegen sich – weil seine Angriffe nicht innerhalb einer bestehenden Ordnung funktionieren, sondern das System selbst in Frage stellen. Das kann nicht sein, daher gibt es diesmal keine korrumpierten Helden, die Polizei steht geschlossen auf der Seite des Guten – und außerdem ist klar, wo Gut und Böse sind.
Was bedeutet das für die Frage nach der Auffassung von Geschichte und ihrer Zuspitzung nach dem Ende des Kapitalismus? Solange die Alternativen Joker sind (so wie venturekapitalgepowerte Nahversorgerbiomärkte), steht das System selbst nicht wirklich zur Debatte. Es gibt Variationen des Bestehenden, kleine Attacken und Reformideen, aber keine grundlegend neue Perspektive. Reale Gegenentwürfe müssen die Gestalt von Bane annehmen. In der Rolle des ganz anderen, des großen Gegensatzes zum Kapitalismus, werden sie dann in der Gestalt des Kommunismus greifbar.
Ende

Macht der Trieb noch Spass, wenn wir ihn verstehen?

In „Weniger als Nichts“ steht die Alternative des Kommunismus nicht so eindeutig im Vordergrund. Die Argumentation bleibt etwas abstrakter. Die Linie ist aber ähnlich: Veränderung entsteht hier nicht durch Beschleunigung oder das Verfolgen konkret definierter Ziele, nicht durch mehr vom Gleichen und noch genauere und noch erreichbarere Ziele. Veränderung entsteht durch Bremsen, durch Unerwartetes, durch das Stocken dessen, was wir als Fortschritt gewohnt sind. Politisch gesprochen also eigentlich durch das, was wir als konservativ bezeichnen. Diese Aufweichung ehemaliger politischer Fronten ist ja real durchaus zu beobachten.
Das Problem dabei: Es wäre natürlich viel zu einfach, einfach auf die Bremse zu steigen, auszusteigen. Oder noch schlimmer: Was passiert dann? Wieder aus psychoanalytischer Sicht: Dann wäre am Ende der furchtbare Zustand eingetreten, in dem das Triebziel erreicht ist – und was machen wir dann bloß ohne Trieb? Glücklich sein?
Aber vielleicht, und das ist die naiv-therapeutische Lesart, hilft ja das Wissen um den notwendigen Irrtum, um die Spaltung, die wir mit jeder Behauptung erzeugen, und um die Grundlagen des Triebs, trotzdem Gründe zum Handeln zu finden. Wer weiss, was er oder sie tut – das schliesst auch ein, dass es falsch sein könnte – tut sich leichter dabei, irgendetwas zu tun. Und auch dabei, in Kauf zu nehmen, dass sich im Lauf der Zeit einiges ändert.

Eier aus Stahl und Ziele wie eine Laborratte

Sie werden mehr. Menschen mit eisernem Willen, glasharten Zielvorstellungen und dem Wissen um die Grundlagen des Universums. Zumindest des eigenen. Sie verfolgen einen Plan, können einem ungefragt erklären, was man falsch macht und was oder wer ihnen im Weg steht.
Das nennt sich dann Achtsamkeit: Man achtet auf die eigenen Bedürfnisse und eben diese Ziele und darauf, wie man möglichst gut und sicher, vielleicht auch schnell, dorthin kommt.
Kein Wunder, könnte man meinen, ist halt auch eine Art Altersfrage, so rund um vierzig. Und wenn ich auf durchaus turbulente letzte zwei drei Jahre zurücksehe, könnte ich mich da nicht ganz ausnehmen. Wenns nicht eindeutig keine Altersfrage wäre. Und auch keine neoesoterische Ausprägung. Es ist eine neue Form des Egoismus, bei der sich erstaunlich unterschiedliche Menschen erstaunlich einig sind.
Da gibts auf der einen Seite die Start Up-Kinder: „Um ein Start Up hochzuziehen, brauchst du Eier aus Stahl“, erklären sie und vergessen dabei, dass manche Menschen keine Eier haben und dass das weder ihr Fehler noch überhaupt ein Fehler ist. Sie reden von Zielen und Voraussetzungen, die man sich schaffen muss, um sie zu erreichen, und treffen sich dabei mit meditierenden nachdenklichen Unschlüssigen, die ihre Tage mit Listen und Zeitplänen vom ritualisierten Aufstehen bis zum ritualisierten Schlafengehen durchstrukturieren – um ihre Ziele zu erreichen.
Ich hätte gern solche Ziele. Einerseits solche, die sich durch das geordnete Vorbereiten der Kleidung für den nächsten Tag erreichen lassen, andererseits solche, denen ich erlauben kann, einen derart umfassenden Einfluss auf mein Leben zu haben. Denen ich alles unterordnen kann, weil – ja weil was? Weil mit dem Erreichen dieser Ziele tatsächlich alles anders wird?
Gewissheit ist etwas Feines. Wenn nicht der Zweifel das ausgeprägte Talent hätte, die eigene Gewissheit immer wieder in Frage zu stellen. Das bedeutet nicht, dass man unentschlossen und planlos umhertorkeln muss. Zweifel bedeutet eher die Gewissheit, mit Planänderungen umgehen zu müssen. Und die Gewissheit, dass man sich selbst nicht loswerden kann.
Wozu also Pläne und Zielsetzungen? Um etwas zu erreichen, sich zu entwickeln, etwas zu schaffen, Sicherheit herzustellen – was auch immer man möchte. Das kann Zeit in Anspruch nehmen und langfristige Horizonte erfordern. Der Wille zu Abkürzungen wird als Symptom der Zeit gesehen, Ungeduld ist eine Krankheit der Moderne und nicht zuletzt ist auch dieses Internet daran schuld, dass wir alles zugleich und sofort haben wollen.
Naja, nicht ganz. Dieser Fischer, der dem pläneschmiedenden Jungunternehmer, der ihm vorrechnet, er könnte, wer er nur mehr investierte, Genug Geld verdienen um friedlich am Strand zu sitzen, erklärte: „Das kann ich auch so“, hatte aller Wahrscheinlichkeit nach kein Internet.
So gehts mir immer mit Plänen und Zielen. Der eine Plan, der so klares und strukturiertes Handeln ermöglichen würde, erscheint mir immer so eindimensional wie der Plan einer Laborratte im Konditionierungstraining. Und dann stehe ich trotzdem jeden Tag auf, arbeite manchmal auch zu lang und ärgere mich, wenn ich andere Pläne aufschieben muss oder sie gar vorübergehend aus den Augen verliere. Und bin dann am zufriedensten, wenn ich mal nicht an Pläne und Ziele denke.
Aber vielleicht habe ich auch nur noch nie wirklich gelernt, wie man Pläne schmiedet und Ziele definiert. Vielleicht aber haben jene, die egal ob geschäftlich oder esoterisch, so klare Ziele haben, ja insgeheim einfach auch mal mit einer Wahrsagerin geredet, um Gewissheit über ihre richtigen Ziele zu erlangen. Wobei – dann steht ja schon wieder die Frage im Raum: Wenns wirklich deines ist, wozu brauchst du dann Eier aus Stahl und den strukturierten Tagesplan zum Ausfüllen und Abhaken?