Wiener Apokalypse

Eigentlich ist es müßig. Trotzdem habe ich mir jetzt den neuen Strache-„Rap“ ein paar Mal angehört und versucht, den Text und seine Konsequenzen zu verstehen. Der Versuch, die Reime in Realpolitik zu übersetzen, stürzt einen in ein intellektuell nicht lösbares Dilemma. In krassem Gegensatz zum staatstragenden Gestus aus dem Pseudo-Bundespräsidenten-Video (das konkrete Inhalte tunlichst vermieden hat), wird hier ein ziemlich apokalyptisches Szenario heraufbeschworen, in dem neue Schulden, staatlich kontrollierte Wirtschaft und ein von den österreichischen Gesetzen losgesagter Wiener Stadtstaat propagiert werden. Das kommt für mich zumindest dabei heraus.
Nehmen wir den Text mal beim Wort und gehen wir ein paar Reime durch.
Da ist die Rede von höheren Löhnen, „Wiener” sollen, schlecht gereimt, “mehr verdiena”. Das ist ein interessanter Ansatz, sich über die Politik in die Lohngestaltung von Unternehmen einzumischen. Um Mindestlöhne kann es in diesem Fall kaum gehen – denn die werden grundsätzlich ohnehin generell überschritten; dort, wo sie unterschritten werden, sind in erster Linie weniger die von Strache gemeinten „Wiener“ betroffen. Geht es also um staatlich verordnete Gehaltserhöhungen? Und wie, interessanter Nebenaspekt, werden die von einer Stadtregierung durchgesetzt? Oder werden Zuschläge nach Kärntner Modell (Haiders Baby-Hunderter oder Jugend-Tausender)? Wir haben also die Wahl zwischen blau begründetem Gießkannenfinanzchaos (jeder kriegt was, was dann passiert, ist uns egal) oder an die Kette gelegten Unternehmern, denen staatlich diktiert wird was sie zahlen müssen. Was dann ziemlich sicher weniger Jobs und steigende Ungleichheit zur Folge hätte: Wenige verdienen mehr, einige halt gar nichts mehr.
Dann gibt es die Phrase von „Wir haben nichts gegen die, die Steuern zahlen und sich an Gesetze halten“. Natürlich hat die FPÖ ja nichts mit ihren Vorgängern zu tun (die in der gleichen Partei nach den gleichen Modellen gearbeitet haben) und packlweise Steuerhinterziehungs- und andere Verfahren am Hals haben. Blöd nur, dass all das nicht aufhört: Schon wieder wird in den eigenen Reihen ermittelt – wo soll man da bloß die Grenze ziehen?
Senioren dürfen auch nicht zu kurz kommen. Sie haben „alles aufgebaut“, deshalb gehört auf die Pensionen „was draufgehaut“. Hier stecken zugleich Geschichtsverwechslung und eine gefährliche Drohung drin. Die „Aufbaugeneration“ weckt Assoziationen an die Nachkriegsgeneration und den WIederaufbau. Diese Aufbaugeneration ist heute allerdings nicht in Pension, sondern auf dem Friedhof. Die heute 55- bis 80jährigen haben ihr Berufsleben in einer großteils wirtschaftlich blühenden Zeit verbracht und profitieren von in dieser Zeit ausgehandelten Pensionsregelungen, die heute schon steuerfinanzierte Zuschüsse in der Höhe von über acht Milliarden Euro jährlich brauchen. Dieser Zuschuss wird sich den Prognosen der Pensionskommission zufolge in den nächsten 15 Jahren auf über 12 Milliarden Euro jährlich erhöhen und dann weiter bis auf 30 Milliarden (2049) explodieren. Zum Vergleich: Ein dubioses „Geheimpapier“ beziffert die Kosten des Flüchtlingszuzugs inklusive Familienzusammenführung mit 12 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre; dabei dürfte nicht berücksichtigt sein, was anerkannte Asylwerber ins System einzahlen werden.
Für Pensionserhöhungen gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Sie können steuerfinanziert werden und gehen damit zu Lasten der Berufstätigen (denen ein paar Reime vorher mehr Geld versprochen wurde). Oder es gibt mehr einzahlende Berufstätige – wofür es (auch das geht aus den Prognosen der Pensionskommission hervor) vor allem mehr Zuwanderung und die Öffnung des Arbeitsmarkts für Zuwanderer braucht.
„Dem HC kannst vertrauen.“ Hier beschränken wir uns auf einen Link zu „Die gesammelten Lügen des HC Strache“.
Und hinter allem bleibt dann nur ein großes Fragezeichen… Und eine lustige Anekdote: Hier wird, weils ja um Patriotismus geht, Johann Strauss’ Donauwalzer gesampelt. Strauss hat vor lauter Patriotismus die Wiener Ehrenbürgerschaft und die österreichische Staatsbürgerschaft zurückgelegt, um ein drittes Mal heiraten zu können.

Dreckspack

Wenn Populisten Recht haben, ist das der klarste Beweis dafür, dass sich etwas ändern muss. Nur ist der Gedanke ein bisschen kompliziert…
Die Lage ist so festgefahren, dass man nicht mal mehr Verschwörungstheorien braucht. Auch das Raunzen über Populisten und Hetzer ist unangebracht. Die traurige Sache ist: Putin hat Recht. Orban hat Recht. Strache hat Recht. Hardliner-Politiker sind heute diejenigen, die auf dem Boden der Gesetze stehen, die keine Ausnahmen bemühen müssen und die sich entspannt auf Fakten zurücklehnen können. Natürlich bleibt offen, was man aus diesem Fakten macht – aber auch der Interpretationsrahmen spricht für sie.
Ein paar Beispiele: „Der Westen gibt Milliarden aus, um sogenannte NGOs zu fördern, die unsere Demokratie kontrollieren sollen“, sagt Putin. Unbestreitbar. Und er hat den Rahmen, der das als feindliche Agitation erscheinen lässt.
„Wir müssen unsere Grenzen schützen, dazu sind wir der EU vertraglich verpflichtet“, sagt Orban – und hält sich damit punktgenau an EU-Vorschriften und das Dublin-Abkommen.
Und Strache war in einer Klubobleute-Diskussion vor einigen Wochen der einzige, der nicht Ausnahmen, Sonderregelungen und Menschlichkeit bemühen musste, sondern sich eiskalt auf den Boden des Rechts stellen konnte: Und das sieht nun mal unter anderem vor, dass sich niemand sein Asylland aussuchen kann. Die anderen Klubobleute mussten mehr oder weniger vage Vorstellungen von Menschlichkeit bemühen, sehr grobe Lösungsansätze ankündigen (eigentlich nur die Suche danach) und wirkten dementsprechend schwach, unentschlossen und planlos.
Natürlich heisst das nicht, dass Putin, Orban und Strache das richtige tun. Aber es wird umso schwerer, dagegen zu argumentieren. Wenn die falschen Ideen recht haben, heisst das, das etwas in der Ordnung der Dinge nicht stimmt und dass echt grundlegende Veränderung notwendig ist. 
Hier kann man jetzt getrost zu lesen aufhören, denn genauso viel lässt sich konkret sagen; der Rest ist Spekulation oder Wahlkampf.
Ich höre trotzdem nicht auf, zu schreiben, weil mich diese Beobachtung an ideengeschichtliche Grundzüge erinnert, die Slavoj Zizek in seinem Wälzer „Weniger als Nichts“ herausarbeitet, und darüber wollte ich immer schon schreiben.
Dazu muss man ein bisschen ausholen. Zizek beschäftigt sich gut 1500 Seiten lang mit der Frage, was Hegels Geschichts- und Politikphilosophie eigentlich bedeutet, zieht auch Marx und Lenin zu Rate und stellt das Ganze mit der Hilfe von Lacan dann auf den Kopf. Der Hintergedanke, soviel kann man vorausschicken, ist die Frage, ob der dialektische Materialismus nicht vielleicht die angemessene Politphilosophie zur Diagnose Gegenwart wäre.
Die gängige Gymnasiasten-Hegelinterpretation geht ja jetzt ungefähr so: Da gibts die These, dann die Antithese und daraus entsteht die Synthese, das nennen wir dann Dialektik und damit bewegen wir uns immer weiter fortschreitend hin zu einem friedlichen Schlaraffenland, in dem es keine Widersprüche mehr gibt. – Das erinnert mich immer an die Flirttipps sogenannter Aufriss-Coaches: Zwei stehen einander gegenüber, einer davon hätte etwas drittes als Ziel (das die zweite vielleicht nicht so sieht), und dann gibt es eine Reihe mehr oder weniger krasser Tipps (wie etwa: „Drück ihr Gesicht in deinen Schritt, sie wird es lieben.“), die angeblich Wunder bewirken. Die sich in diesem Fall aufdrängende Frage „Wie kommst du bloß auf diese Idee?“ stellt sich genau so angesichts der Phantasiekombination der diversen Thesen und der gewagten Annahme, dass das neu entstehende eine Verbesserung der Vorgängersituationen sei.
Zizek arbeitet heraus, dass Bedeutung immer erst im nachhinein entsteht. Wir zimmern uns eine Erklärlogik zurecht, die je nach Anspruch mehr oder weniger ausladende Kausalitätsketten bedient, geben damit der Vergangenheit Sinn und Bedeutung (nicht mit Relevanz zu verwechseln) und haben eine Möglichkeit, die Welt von heute zu erklären.
Und das bedeutet auch: Alles, was ist, ist grundsätzlich einmal falsch, oder zumindest nur eine Annäherung an irgendeinen Zustand, und es wird nicht für die Ewigkeit sein.
Damit höre ich auch schon wieder auf mit diesem Exkurs; das gehört ein anderes Mal ein bisschen weitergesponnen.
Zurück zur Politik: Hier ist ja der Umgang mit Ewigkeit und Veränderung überaus situationselastisch. Einerseits geht es immer um Veränderung, Fortschritt und darum, es besser zu machen als die anderen, andererseits werden Ewigkeiten strapaziert als gäbe es kein Gestern und kein Morgen sondern nur einen einschnittslosen Zeitbrei, in dem die immer gleichen Voraussetzungen gelten. Im Polit-Speak heisst das: „Wir haben es immer schon gesagt.“ Und arbeitslose Ex-Chefredakteure, die heute opportunistische Obskuranten sind, stimmen heulend in das Geschrei ein.
Dass sich Rahmenbedingungen ändern können, detailverliebte Rechthaberei sinnlos ist und dass Diskussionen über die Vergangenheit beim Gespräch über die Zukunft wenig bringen, gerät dabei schnell in Vergangenheit.
Jetzt lauern hier natürlich zwei große Fallen: Die erste ist, das was ist, mit dem was sein soll zu verwechseln. Bedeutet: Dass wir nicht wissen was als nächstes kommt, bedeutet nicht, dass wir es nicht wissen sollen oder dass wir die Hände in den Schoß legen und zuschauen sollen. Es bedeutet aber auch nicht, dass wir so tun sollten, als wüssten wir, was kommt. Die zweite Falle: Wer verändern will, gerät in einen Argumentationsnotstand – warum, auf was hinauf und wer sind Sie überhaupt? Die Grünen hat dieses Dilemma in der öffentlichen Wahrnehmung zur Verbotspartei werden lassen, den Neos wird aus den gleichen Gründen seit jeher Inhaltslosigkeit unterstellt. Beide beschreiben gesellschaftliche und wirtschaftliche Modelle, die mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten schaffen als die Wahl zwischen sozialdemokratischem Versorgungsempfänger und christlichdynamischem Unternehmerkind. Das stresst natürlich.
Über diese Grundlagen von Veränderung könnte man nachdenken. Man könnte sie auch als Grundlage für die Abkehr von radikalpopulärem Geplapper nehmen. Oder man macht es wie Ursula Stenzel, die in einem ihrer ersten Interviews nach dem Überlauf zur FPÖ sinngemäß meinte: Das Volk will nun mal Blut sehen. Und wenn ich mich damit an der Macht halten kann, dann müssen wir eben Blut fließen lassen. (Meine Interpretation. Sie hat natürlich nicht von Blut geredet.)

Hier kommen echte Helden

Es wird kein Fanzine. Auch kein arty Ironie-Schmäh und, wenn alles klappt, keine Eintagsfliege. ÖSI steht jetzt für Österreichische Superhelden-Initiative, internationalisiert heisst das ASH – Austrian Superheroes, und das soll nichts geringeres als eine ausgewachsene Superhelden-Comicserie werden.
Ok, manche könnten jetzt einwenden, dass sich ausgewachsen (so im Sinn von erwachsen) nicht gut mit Superhelden verträgt, aber das sind, sage ich mal, Menschen, die noch immer nicht begriffen haben, worums im Leben geht.
Österreichische Superhelden werden Namen wie Captain Austria, Lady Heumarkt oder Donauweibchen tragen, und ihr Geburtstermin ist bereits fix: Das Team crowdfundet derzeit auf wemakeit, das Projekt ist ausfinanziert.
Aber noch bis Anfang Oktober kann man limitierte und signierte Variant-Cover-Ausgaben funden, sich Statisten- oder Nebenrollen auf den Leib zeichnen lassen oder einfach originale und signierte Skizzen kaufen. Die bereits erreichte Crowdfunding-Summe liegt bei 6.000 € – das deckt allerdings gerade die Produktionskosten. Beim Taschengeld für Zeichner und Autoren ist noch einiges an Luft nach oben …
Zur Viennacomix am 3. und 4. Oktober wird die Nullnummer vorgestellt, die mit der jetzigen Aktion finanzierten vier Ausgaben mit je 36 Seiten werden ab Frühjahr 2016 erscheinen.
Austrian Superheroes ist ein Projekt von Harald Havas, Thomas Aigelsreiter, Andi Paar, Leo Koller und Lenny Grosskopf. Und zum Crowdfunding geht es noch mal hier: funden.
ASH_0_Druck

Neue Magazine – shoppen auf der Indiecon

Ende August war Indiecon – das Treffen der unabhängigen Magazinmacher in Hamburg. Eineinhalb Tage Konferenz und ein anschliessender Messetag bringen viele neue Publikationen ans Tageslicht. 

Die Probleme und Erfahrungen sind erwartungsgemäß überall sehr ähnlich; etwas erstaunt hat mich, dass die Magazinmacher_innen bis auf wenige Ausnahmen ziemlich online-naiv statt -nativ sind: kaum Strategien für die digitale Vermarktung, noch weniger für die digitale Publikation. Auf der anderen Seite zeigt das auch wieder: Online ist nicht so einfach und blllig, wie man oft glauben möchte, und Print ist nicht so tot, wie manche meinen möchten. 

Noch erstaunlicher: Michael Hopp (Ex-„Wiener”) macht jetzt in Hamburg Corporate Publishing und hat es geschafft, den „Wiener“ irgendwie als historische Mutter von Indie-Publikationen in den Köpfen zu verankern. Wäre nie auf diese Idee gekommen. Und, Notiz am Rande: Es wird höchste Zeit für ein neues Narrativ der 80er-Jahre. Da waren nicht nur Falco, U4, Minisex und Koks, da waren auch Slayer, Anthrax und Public Enemy und eine Menge von Kindern, die zwischen der hermetisch abgeschlossenen Geschlecktheit, die die damals über 25jährigen propagierten, und der Beisl- und Heurigenszene ziemlich wenig Unterschied gesehen haben. Mir san mir war in beiden Fällen die auf die Essenz eingedampfte Aussenwirkung. 

Eine etwas andere Indie-Geschichte erzählte Philipp Köster, Chef von 11 Freunde, der mit seinem 2000 gegründetet Magazin schon 2010 einen Exit mit Gruner und Jahr hingelegt hat. Der Verlag übernahm 51%, und Köster erzählte über Ängste und Sorgen, den Indie-Status zu verlieren. Seine Erfahrung deckt sich wohl ziemlich mit der, die jeder macht, der mit großen Verlagen oder zahlenden Kunden zu tun hat: Die größte Gefahr liegt in der Selbstzensur, in der Sorge, auf irgendetwas Rücksicht nehmen zu müssen. Direkter Druck auf Redaktionen ist nach wie vor selten, aber die Versuchungen wachsen ständig. Und der ökonomisch besorgte Blattmacher macht sich eben Gedanken, möchte niemanden vergraulen und möchte auch keine Chancen auslassen, die wirtschaftliche Basis seines Blatts zu sichern. Wie weit man dabei geht, das ist dann eine Frage des aufrechten Gangs. 

Aber zurück zu den Magazinen. Ich habe da ja sehr strenge Ausschlusskriterien: Wenn ich bei drei bis fünf Mal blättern nichts anderes als Mode und Design finde, dann hat sich das Heft für mich schon erledigt. – In solchen Fällen wären irgendwie Postkarten das passendere Medium. Zweites Ausschlusskriterium: Ich verstehe nicht, wofür ein Heft steht. Wenn es keinen Claim, kein richtungsweisendes Editorial und auch sonst nichts gibt, das mich erkennen lässt, worum es hier eigentlich geht, werde ich es auch nicht lesen. Dritter Punkt: Ich verstehe die Geschichten nicht. Meist sind es Interviews mit Menschen, die schlecht vorgestellt werden, die es nicht schaffen, die Story im Vorspann oder wenigstens in den Bildern rüberzubringen, und die nicht über Gemeinplätze wie „kreativer Tausendsassa…“, „Fixpunkt der Kreativszene von XY“ hinauskommen, die mir das Lesen verleiden. 

Trotzdem habe ich ein paar Magazine gekauft.

Kater Demos – Politik 

Von Katzencontent ist hier nur schmähhalber die Rede. I mHeft gibt es Interviews, Analysen und ein paar fallweise recht theoretische Abhandlungen. Für eine erste Ausgabe, mit der man sich erst mal positionieren muss, ist das aber durchaus ok. Derzeit läuft gerade eine Crowdfunding-Kampagne für die Finanzierung der nächsten Ausgaben. 

Inhalt: echte Gespräche und Interviews, gut erzählte Analysen; politisches und journalistisches Knowhow ist da

Gestaltung: sehr zurückhaltend für ein junges Indie; der Schmäh passt so weit. 

würde ich abonnieren: ja

http://katerdemos.de/

Offscreen – Digitale Arbeit

Offscreen ist ein Interview-Magazin, das sich mit Menschen im digitale Business beschäftigt. Kai Brach spricht mit App-Entwicklern, Hard- und Softwaredesignern und Gestaltern aus aller Welt. Das Magazin ist großteils eine One-Manshow, wird direkt vertrieben und trägt sich kommerziell. 

Inhalt: ausführliche Interviews und Porträts, zwischendurch ein paar kürzere Storys. 

Gestaltung: kleines Format, fast schon Buchcharakter

würde ich abonnieren: jein – super gemacht, interessant zu lesen, für mich persönlich aber vielleicht nicht auf die Dauer

http://www.offscreenmag.com/

Shift – Gesellschaft

Shift ist ein Gesellschaftsmagazin, das schon recht viel Aufmerksamkeit bekommen hat, unter anderem vom Veranstalter gesponserten Stand auf der Frankfurter Buchmesse. Shift ist ein mononthematisches Magazin (diesmal: „Break“); persönlich mag ich das nicht so, weil diese Themenfixierung oft zu Geschwurbel verleitet: Es geht nicht mehr darum, eine gute Story zu machen, sondern irgendwas zum Thema. Im Heft finden sich dann auch neben Interviews und faktenbasierten Storys immer wieder ein paar Befindlichkeitsstrecken, die dann eben doch sehr beliebig sind. 

Inhalt: guter Anspruch; mit der xten Story zum gleichen Thema ist aber manchmal die Belanglosigkeitsfalle nicht weit. Ich habs trotzdem in einem Zug durchgelesen. 

Gestaltung: kleinformatig, hübsch

würde ich abonnieren: ja – der Anspruch und die Zielsetzung passt; die Befindlichkeiten b´verschwinden hoffentlich, sobald des die Finanzen ermöglichen

http://shiftmag.de/

The Outpost – Gesellschaft

The Outpost erscheint in Beirut. Das bringt natürlich schon mal einen Bonus. Ibrahim Nehme ist einer jener Menschen, die einen denken lassen: Warum können nicht alle so sein? Wenn er auf der Bühne spricht, erscheint alles ganz klar, machbar und in Reichweite. Dass irgendwas Probleme machen könnte – auch im Nahen Osten – wird geradezu unwahrscheinlich. The Outpost beschäftigt sich mit Möglichkeiten („Weil es immer heisst, dass im Nahen Osten nichts möglich ist“), hat für jede Ausgabe ein Schwerpunkt-Thema und drei fixe Rubriken: „What did happen“, „What did not happen“, „What could happen“). 

Inhalt: Trotz der Themenfixierung Reportagen; extrem durchdachter Aufbau

Gestaltung: Mittelformat mit vielen sehr gut aufgebauten Infografiken

würde ich abonnieren: ja

http://www.the-outpost.com/

WASD – Games

WASD ist das Games-Magazin für Leute, die Games-Magazine langweilig finden. Im Heft gibts weniger Tests und Punktesysteme, mehr Reportagen rund um Games und Storys, die Games als Kulturgut wie Bücher und Filme behandeln. Auch wenn Herausgeber … … die Games-und-Kultur-Diskussionen nicht so schätzt – „Das sagt jeder, ohne einen Plan zu haben, was er damit will – ausser Förderungen keilen.“ 

Inhalt: Longreads rund um Games

Gestaltung: mehr Buch als Magazin

würde ich abonnieren: nein – super gemacht, Games sind trotzdem nicht mein Ding

https://wasd-magazin.de/

Odd One Out – Gesellschaft

Erscheinungsort Kuala Lumpur macht neugierig. Man muss sich aber durch einige Befindlichkeitsstrecken blättern, bis man bei neugierig machenden Porträts und Interviews landet. Ich muss sagen – wenn das Magazin irgendwo in Europa publiziert worden wäre, hätte ich es wahrscheinlich nicht gekauft. Auch hier erschliesst sich nicht immer gleich, warum genau dieses Interview lesenswert sein wird. 

Inhalt: Interviews aus Malaysien und der Umgebung; Schwerpunkt auf alles Künstlerische

Gestaltung: kleinformatig und eher klassisch; sehr nüchterne Fotos

würde ich abonnieren: nein – aber gute Gelegenheitslektüre

http://www.oddoneoutmag.com/

The Smart View

Ein Magazin für Smartphone-Fotografie. Also, eigentlich kein Magazin. Eher eine Bildsammlung aus Facebook- und Instagram-Fotoalben. Mit fallweise ein paar Interviews mit den Fotografen, fallweise nur kurzen Statements. Aber ich war trotzdem neugierig.

Inhalt: Bilder. 

Gestaltung: Bilder. Und wenig schwer auffindbarer Text. 

würde ich abonnieren: nein – online gibts dann doch noch mehr Bilder

http://thesmartview.de/

M1CR

Ein Magazin für Rothaarige – nicht mit Styling,- Kosmetik- und Hautpflegetipps, sondern über das Leben mit rotem Haar. Irgendwo scheint das doch für viele Rothaarige ein Thema zu sein – sei es, weil sie als Kind gehänselt wurden,oder weil sie eben nicht gehänselt wurden. Oder weil sie eben doch immer wieder auf die Haarfarbe angesprochen werden. Herausgeber Tristan Rodgers erzählt, dass es auch für ihn neu war, dass es so viele immer wiederkehrende Themen gibt – und eigene Rothaarigen-Conventions mit mehreren Hundert Menschen. Perfekt definierte Zielgruppe, jedenfalls. 

Inhalt: Interviews und Stories über und mit Rothaarigen

Gestaltung: kleinformatig und rötlich

würde ich abonnieren: nein – rote Haare in meinem Bart reichen nicht 

http://mc1r-magazine.com/

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Restexemplare von Päng! gab es beim Messeshop übrigens auch noch. Päng! gibt es ja leider nicht mehr. Gründerin Josephine Götz erzählt hier im Interview eine schöne Geschichte, warum das so ist.

Das Märchen vom Tax Freedom Day

Es gibt ja dieses Märchen vom Tax Freedom-Day. Irgendwann im Herbst, so will es die Geschichte, hat man genug verdient, um seine Steuern zu bezahlen, und arbeitet dann fröhlich in die eigene Tasche.
Praktisch gesehen ist das halt leider andersrum: Zu Beginn des Jahres fließen ein paar Einnahmen, man legt guten Mutes den Steuer- und Versicherungsanteil zur Seite, bestaunt die gigantischen Beträge, die sich dabei ansammeln und nimmt das halt mit ein bisschen Wehmut zur Kenntnis.
Dann, in guten Jahren, ist irgendwann der Zeitpunkt erreicht, an dem zumindest die Sozialversicherung befriedigt ist. Auf dem Sparkonto liegt der Fehlbetrag auf die rund 18.000 Euro Höchstversicherung und eigentlich ist jede Einnahme jetzt 25% mehr wert.
Das ist meistens im Herbst, eben so rund um den Tax Freedom-Day. Aber dann beginnt das Drama erst richtig. Jetzt ist zwar keine Sozialversicherung mehr fällig, dafür schlägt der Steuertarif mit seinen 50% jetzt unbarmherzig zu. Und der fröhliche Unternehmer, der jetzt eigentlich strahlend in die eigene Tasche arbeiten sollte, sieht zu, wie die diversen Steuerrechner immer absurdere immer höhere Beträge ausspucken. 50% wirken sich wirklich dramatisch aus.
Eigentlich sollte man zu diesem Zeitpunkt die Arbeit einstellen und einfach nichts mehr tun. Es ist schlicht hirnrissig, für die 10.000 €, die man bis Jahresende noch bräuchte, über 20.000 € verdienen zu müssen – und damit dann noch höhere Steuer- und Versicherungsvorauszahlungen für die nächsten Jahre in Kauf zu nehmen.
Während Experten streiten, ob Österreich jetzt eine Gesamtsteuerquote von 45 oder 43% hat, prohezeit mir die hübsche Rechner-App von SVA und Finanzministerium jedenfalls für heuer eine Abgabenquote von 47% – allein mit Einkommensteuer und Sozialversicherung.
Was ist das Problem dabei? – Schließlich habe ich die Kohle ja verdient und kann das also auch bezahlen.
Das Problem ist, dass ich eigentlich nur gern von meiner selbstbestimmten Arbeit leben möchte, und kein Superchecker-Unternehmer sein möchte, der kunstvolle Abschreibungs- und Investitionsgelegenheiten sucht. Ich fände es auch nicht schlecht, mich um Dinge wie Altersvorsorge kümmern zu können – und das mit weniger hochriskanten Spekulationen als Einzahlungen ins staatliche Pensionssystem. Und ich finde es schräg, dass sich die Umsatzplanung für das nächste Jahr weniger an meinen eigenen Bedürfnissen orientiert, als daran, wann welche Vorauszahlungen zu leisten sind, die sich an längst vergangenen Einnahmen orientieren. Und das nimmt dann auch die Luft für Innovation und Neuorientierung. Erst ist keine Zeit für was anderes, weil du in bezahlten Projekten steckst. Und wenn die vorbei sind, ist keine Zeit, weil du dich dringend um die nächsten kümmern musst, weil du keine Zeit für Akquise hattest.
Und was wären sinnvollere Alternativen? Ein paar fallen mir schon ein. Flexiblere Vorauszahlungen sind ein Ding. Die könnten auch per Selbstbemessung funktionieren – bei Kammerumlagen und ähnlichem traut man uns das ja auch zu.  Investitionen sind ein anderes Ding: Was soll ich mit 33 Jahren Abschreibung auf Immobilien (dann bin ich 75…), wenn ich keinen generationenübergreifenden Familienbetrieb aufbaue? Und warum gelten Investitionsfreibeträge nur für Neugüter und nicht für Gebrauchtes? (Was, um beim Beispiel zu bleiben, bei Büros und Lokalen in Wien, die ja auch eine Anlage sein könnten, besonders sinnvoll ist…) Und wenn wir ganz spekulativ werden: Wie siehts mit Gewinn-Vortragsmöglichkeiten aus? Schön, dass es Kalenderjahre gibt, aber meine Lebensplanung richtet sich nicht unbedingt danach – und vom Erfolg im laufenden Jahr hätte ich auch gern im nächsten Jahr noch etwas (wenn sich eien Durststrecke abzeichnet oder wenn ich die Zeit für etwas neues nutzen möchte) – außer höheren Vorauszahlungen.
Und deshalb wärs ja schön, wenn es so etwas wie einen Tax Freedom Day, ab dem man selbstbestimmt wirtschaften kann, gäbe. Aber die Praxis ist halt, wie gesagt, leider andersrum.

Open Innovation mit Regierung – wie man User vergrault… 

OK, Open Innovation also. Gähn. Nachdem ich auf „Mitgestalten“ geklickt habe , war ich dann allerdings putzmunter. – Ich war nämlich plötzlich eingeloggt, mit Profilbild und Userrank, ohne mich jemals erinnern zu können, schon mal auf dieser (erst am Freitag vorgestellten Plattform) gewesen zu sein.
  • Krallt sich die Bundesregierung meine Facebook-Daten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen?
  • Wird da irgendein Login anhand meiner Browserdaten durchgeführt, dem ich nicht zugestimmt habe?
  • Gibts gar österreichweites Zwangs-Single-Sign-On für alle aufrechten Staatsbürger_innen mit Internetanschluss?
Um es kurz zu machen – nein, eh alles sauber und in Ordnung. Nur saudeppert. Ich sags noch mal: fetzendeppert. So schafft man kein Vertrauen. Und so lässt man alle Potenziale ungenutzt, auf denen man vielleicht aufbauen könnte.
Ich nutze dieses Internet jetzt doch schon etwas länger, Spam und Phishing erkenne ich üblicherweise recht schnell und ich kontrolliere meine Privacy. Hier hab ich jetzt aber doch ein paar Minuten gebraucht, um rauszufinden, was los ist.
Das Profilfoto, das mir da plötzlich entgegensah, war mein FB-Profilfoto von vor mehreren Jahren. Laut Open-Innovation-Profil war ich schon vier Jahre Mitglied auf dieser erst vier Tage alten Plattform. Im Impressum steht das Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium als Seitenbetreiber. Ganz unten im Impressum steht: “Konzeption, Design & technische Umsetzung: Neurovation GmbH“.
Die Url der Open Innovation-Seite ist offiziell www.openinnovation.at, dann wird man aber auf https://oi-bundesregierung.neurovation.net weitergeleitet.
Dann fiel mir ein: Vor vielen Jahren (könnten vier sein) habe ich mich mal bei Neurovation angemeldet, als dort Ideen für Creative Industries-Projekte gesucht wurden.
Im Kleingedruckten der Neurovation-AGB steht:

2.7
Mit einer Registrierung auf Neurovation.net bzw. einer Subplattform erhält der Nutzer Zugang zu Neurovation.net sowie allen Subplattformen. Die Subplattformen kennzeichnen sich durch den URL-Aufbau [projektname].neurovation.net (Subdomain) aus. Somit kann der Nutzer nach einmaliger Registrierung auf Neurovation.net oder einer Subplattform sich barrierefrei zwischen den Plattformen bewegen. Diese Gegebenheiten wirken wechselseitig für alle registrierten Benutzer und den damit verbundenen Plattformfunktionalitäten.
Aha.
Dort steht auch:
9. Geheimhaltung
Die Parteien verpflichten sich, alle ihnen im Rahmen dieses Vertragsverhältnisses bekannt werdenden und als vertraulich erkennbaren Informationen, Unterlagen und Daten geheim zu halten und insbesondere weder Dritten zugänglich zu machen noch anderweitig weiter zu verwenden. Dies gilt besonders für die vereinbarten Preise.
und:

13.1
Das Konzept der Plattform basiert auf der Bereitstellung von Services und Innovationsdienstleistungen sowie der Speicherung generierter Daten durch den Benutzer/die Benutzerin, die ggf. für andere Nutzer/-innen einsehbar sind. Allerdings entscheidet der Nutzer/die Nutzerin, ob und welche Daten und Inhalte er/sie anderen Nutzern zugänglich machen möchte
Mich hat niemand gefragt, ob ich meine Daten auf einer Plattform des Wissenschaftsministeriums haben möchte.
Gut, wird schon alles rechtens sein.
Allerdings steht bei anderen von Neurovation ausgerichteten Wettbewerben auch immer Neurovation im Impressum. Und es hätte der Kommunikation des Ministeriums wohl nicht geschadet, Neurovation als Partner zu erwähnen, oder zumindest irgendwo auf der Webseite kurz anklingen zu lassen, dass diese Plattform genutzt wird.
Dann hätte es keinen mittelmässig erfreulichen Aha-Effekt gegeben. Dafür aber vielleicht für einige eine erste positive Verbindung – „Dort war ich schon mal.”
Aber wahrscheinlich hatte irgendein obercooler Ministeriums-Innovations-Fuzzi dann die Sorge, man würde glauben, er hätte das Rad nicht neu erfunden. Oder vielleicht, solche Berührungsängste gibt es ja auch, hatte ein Dienstleister keine Lust, politische Insititutionen als Kunden anzuführen.
Keine Sorge: Auf den Gedanken mit der Neuerfindung des Rades wäre wohl eh niemand gekommen. Schade ist allerdings umso mehr: Mit der Openness wird das so nichts.
Und ich (wahrscheinlich gilt das für einige andere User auch) hätte mich um einiges wohler gefühlt, wenn ich kurz gefragt worden wäre, ob ich meinen bestehenden Account und meine Daten übernehmen möchte.

Wertschöpfung vom Mittelpunkt des Universums

Ich finde diese Studie der Wien Holding sehr inspirierend. Wertschöpfungsrechnung anstelle von Bilanzen oder Steuerleistung – da mache ich mir auch gleich Gedanken über die Wertschöpfung meiner Unternehmen. Schliesslich ist ja wohl nicht zuletzt Apple deshalb so ein hippes Unternehmen, weil ich durch die Nutzung meines Macbooks und iPhones immens zur Wertsteigerung in Cupertino beitrage. Und in China.
Die Wien Holding rechnet vor, was sie ausgibt und investiert, was ihre Lieferanten ausgeben und was das wieder an Folgeausgaben nach sich zieht. Interessanter Ansatz, zu dem man wahrscheinlich auch Galileo befragen müsste; der hat sich ja auch einige Gedanken über den Mittelpunkt des Universums gemacht.
Ich gebe knapp die Hälfte meines Umsatzes für Partner und Lieferanten aus, die Hälfte vom verbleibenden Gewinn dann noch mal für Steuern und Abgaben. Aber das allein als Beitrag zur Wirtschaftsleistung zu rechnen, wäre natürlich viel zu kurz gegriffen:
  • Ich sichere Arbeitsplätze bei meinen Kunden – was würden die Projektverantwortlichen dort denn sonst machen, als sich mit mir zu beschäftigen?
  • Durch die Nutzung des Internet leiste ich einen wesentlichen Beitrag zu digitaler Forschung, Innovation und Produktentwicklung – ohne mich würden die das alles nicht machen.
  • Es wäre auch viel zu kurz gegriffen, nur direkt bezahlte Lieferanten einzurechnen – wenn wir auf Papier produzieren, vergesst die Papierindustrie und Forstwirtschaft nicht, und natürlich die Post als Zusteller und die MA48 als Entsorger. – Wien Holding, heisst das, ich erhalte euch?
  • Ganz wesentlich sind dann noch die Kaffee- und manchmal leider auch Zigarettenressourcen, die während einer intensiven Produktionsphase verbraucht werden. Damit dehnt sich mein wirtschaftliches Netzwerk bis nach Kolumbien, Brasilien, Sumatra und Texas aus. Ich muss mal nach Kickbacks fragen.
  • Die gesamte Publishing- und Content Management-Software-Industrie wäre ohne meine Investitionen natürlich auch nicht lebensfähig.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Das einzige was mich bei diesem Sprint zur Weltherrschaft ein bisschen stutzig macht: Könnte das nicht jeder von sich behaupten? Aber das gilt für die Ergebnisse der „Studie“ der Wien Holding auch.

Tokio – Stadt ohne Mistkübel

Mein Bild von Tokio stammte ja ehrlich gesagt eher aus Filmen wie Tetsuo oder Ichi the Killer. Nach einer Woche etwas über eine Stadt zu sagen, ist genauso anmaßend. Tu ich auch nicht. Ich erzähl nur von ein paar Dingen, die mit auf 120 Kilometern zu Fuß kreuz und quer durch die Straßen Tokios aufgefallen sind (und mit der U-Bahn sind sicher noch fünf Mal so viele Kilometer dazugekommen).

Müll

„Please take your garbage home with you“, heißt es auf Schildern in vielen Parks. Anfangs habe ich das für eine nicht ganz gelungene Übersetzung der Aufforderung, Müll in Mistkübel zu werfen, gehalten. Es dürfte aber wörtlich gemeint sein – denn Mistkübel gibt es in Tokio praktisch nicht. Manche Seven Elevens oder Family Marts machen da mit kleinen Mistkübelbatterien (getrennt nach Plastik, Metall, Papier und Rest) eine Ausnahme, aber sonst ist weit und breit nichts in Sicht. Auch die Idee mit U-Bahn-Klos musste ich wieder aufgeben: U-Bahn-Klos gibt es zwar fast überall, aber immer ohne Papierhandtücher (nur mit Warmluftgebläsen), und damit auch ohne Mistkübel.
Sauber ist die Stadt trotzdem. Und in den Ausgehvierteln stehen manchmal kleine Müllsacksammlungen verschämt am Straßenrand vor den Lokalen, verschwinden aber schnell wieder.

Stadt der Helme und Laserschwerter

Japanische Bauarbeiter tragen Helme. Immer, überall und ausnahmslos. Auch wenn sie im Freien Farbe von der Wand kratzen (dabei fällt nichts Schweres hinunter) oder im Freien auf dem Boden arbeiten (wenn gar nichts über ihnen ist).
Und vor jeder Baustelle, die einen Gehsteig berührt, auch wenn sie gar nicht im Weg ist, steht ein Aufseher mit weißen Handschuhen und rotem Laserschwert, der Passanten den Weg an der Baustelle vorbei weist. Und auch trägt Helm. Auch nach Feierabend, wenn die Baustelle gar nicht mehr in Betrieb ist.

Stadt der Verbote

Manchmal sind es freundliche Bitten („Please don’t rush“ auf den U-Bahn-Gleisen), sachdienliche Hinweise („The doors will close soon after the music stops“ in der U-Bahn), manchmal strikte Ansagen. Vor allem in Parks und an öffentlichen Plätzen sind die Verbotslisten oft lang – allerdings sind es dann gar nicht so dramatische Verbote. Man schätzt offenbar Klarheit. So sind etwa Hunde-Kackverbote oft dreifach ausgeführt: Kein großes Geschäft (gar nicht), kein kleines Geschäft (in Wiesen und Blumenbeeten) und wenn’s passiert, dann wegräumen.
Rauchverbote sind ein eigenes Kapitel.
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Öffentlicher Raum

Anders als es viele Klischees vermitteln, gibt es erstaunlich viel Platz und Grün. Parks sind öffentlich, die vielen Verbotsschilder regeln klar, wo und in welchen man auf die Wiese darf und was man dort tun und lassen kann. Die Ufer der vielen Flüsse und Kanäle, die die Stadt durchziehen, sind großteils ausgebaut und grün.
Und Tokio ist eine Stadt für Fußgänger – wo eine Straße ist, kann man auch gehen (anders als in vielen amerikanischen Städten). Praktisch alle Brücken haben eigene Geh- und Radwege, und auch entlang sechsspuriger dreistöckiger Straßen, über die noch zwei Bahntrassen führen, gibt es Gehwege und Fußgängerampeln.

Rush Hour – Stadt ohne Staus?

Dicht gedrängte Straßen und überfüllte U-Bahnen sind großteils Legende. Die U6 kann, was das Gedränge betrifft, durchaus mithalten, und die Shibuya-Kreuzung, die als berühmteste Diagonal-Kreuzung der Welt pro Ampelphase von angeblich bis zu 15.000 Menschen überquert wird, wirkt auch kaum voller als die Mariahilferstraße am Samstag nachmittag.
Was noch auffällt: Das Tempo ist erstaunlich langsam – sowohl in der U-Bahn als auch auf den Straßen. Wenn man es eilig hat, steht einem immer irgendwer im Weg …
Und Stau habe ich in einer ganzen Woche zu keiner Tages- oder Nachtzeit gesehen, keinen einzigen.

Stadt ohne Gastgärten

Outdoor ist nicht. Auch in den belebtesten Ausgehvierteln hat vielleicht jedes zehnte Lokal ein oder zwei Barhocker vor der Tür stehen, noch einmal jedes zehnte hat zumindest die Tür offen. Der Rest findet klimatisiert hinter verschlossenen automatischen Türen statt.
Die häufigsten Ausnahmen, die ein paar Tische draußen stehen oder Balkone haben, sind Starbucks und Mc Donald’s.
In Parks oder an den Flussufern gibt es praktisch gar keine Lokale.

Rauchen

Angeblich herrscht in Tokio sehr strenges Rauchverbot an öffentlichen Plätzen. Das ist, wie eben so vieles, sehr vielschichtig geregelt:
Da gibt es die absoluten Rauchverbotsszonen; Rauchverbote sind da auch als Markierung auf dem Gehsteig eingezeichnet. Dafür gibt es in diesen Bereichen eigene Rauch-Zonen, meist vor Zigarettenläden, die große öffentliche Aschenbecher haben. Genaue Abgrenzungen oder weitere Bodenmarkierungen gibt es nicht.
Dann gibt es die Zonen, in denen Rauchen im Gehen verboten ist. Auch das ist mit eigenen Gehsteigmarkierungen gekennzeichnet (dürfte aber die allgemeine Regelung für die ganze Stadt sein). Man darf hier zwar überall rauchen – aber eben nur im Stehen. Japanische Raucher haben für solche Fälle transportable Aschenbecher dabei, Reisende vergrößern dann eben die Müllsammlung, die sie ohnehin mit sich tragen.
In Parks gilt meistens Rauchverbot, dafür gibt es wieder eigene Raucherzonen (mit Kennzeichnung und Aschenbechern).
Am Flughafen gibt es das meines Wissens einzige Outdoor-Raucheraquarium: Im Flughafen ist Rauchen verboten, außerhalb auch; im Freien steht aber eine von diesen verglasten Raucherboxen mit Schiebetür und Luftabzug …
Dafür wird in Lokalen getschickt, was das Zeug hält. Ich habe gefühlte drei Prozent Lokale mit getrennten Raucher- und Nichtraucherbereichen gesehen (vielleicht die Hälfte davon mit baulicher Trennung); das einzige Nichtraucher-Lokal war ein Starbucks.
Rauchverbot

Drogen

Keine Dealer, keine Junkies – Drogen sind im öffentlichen Stadtbild von Tokio nicht vorhanden.

Electric City

Hier schlagen Japan-Klischees einmal voll zu. Noch mehr – Electric City übertrifft alles, was man sich vorstellen kann. Hier fühlt man sich als Europäer wie ein Native aus einer der abgelegesten Gegenden der Welt ( so abgelegen, dass mir gar keine einfällt), der noch nie elektrisches Licht oder Menschen in Kleidung gesehen hat und zum ersten Mal auf der 5th Avenue steht. Also völlig ratlos. Der Grund ist nicht der überbordende Elektronikschrott, sondern die hohe Dichte an Maid-Cafés. Mädchen in einem Outfit zwischen Schuluniform, Dienstmädchenkleidung und Stripclub-Outfit stehen in Dutzenden an jeder Straßenecke, verteilen Flyer und lassen sich bewundern. In den Cafés gibt es dann Karaoke, Rollenspiele (Herr und Dienerin) oder Handmassagen – alles völlig sexfrei. Die Maids sind fallweise selbst Stars, Stars aus der Maid-Szene nachempfunden, oder Stars, die der Maid-Szene nachempfunden sind, nachempfunden.
Dazu kommen dann noch die zwei Sega-Gebäude mit Spielewahnsinn, Fanshops (für Maids, Mangas oder eben Sega-Spiele) und Riesen-Screens (fallweise drei pro Häuserfront) die den neuesten Maid-Pop oder wieder Spiele ankündigen.

MaidCafe

Mangas

Noch so ein Japan-Klischee, dass sich wiederfinden lässt. In der U-Bahn spielt man entweder (am Smartphone), schläft oder liest Mangas (reden und telefonieren sind – siehe oben unter Verbote – nicht gern gesehen; regelmässige Durchsagen mahnen sogar dazu, Handys lautlos zu stellen). Jeder Seven Eleven oder Family Mart hat neben den Zeitschriften noch ein eigenes Manga-Regal (oder drei), vor dem auch zu jeder Tageszeit drei Menschen (erwachsene Männer im Bürooutfit) stehen und blättern.

Spielhallen

Wenn die automatischen Schiebetüren aufgehen, entlassen sie ihre Gäste mit einem bösartigen Zischen: In den allgegenwärtigen Spielhallen herrscht ein Höllenlärm, wenn Menschen ab dem frühen Nachmittag dicht gedrängt Automaten bearbeiten. Beinahe so häufig wie Seven Elevens, meist sind im Erdgeschoß Pachinkos (eine Art Flipper), im Obergeschoß (oder Hinterzimmer) Slot-Machines. Das Publikum ist bunt gemischt, aber eher älter (Mitte 30+).
Spielhalle

Toiletten

Das traditionelle Klo ist ein Loch im Boden. Das ist mir allerdings nur vereinzelt in manchen U-Bahn-Stationen begegnet. In Lokalen und Hotels setzt man auf Hi-Tech-Geräte mit Sitzheizung, Vorspülung, Dusch-Programmen (getrennt zwischen Mann und Frau anwählbar) und automatischen Zwischenspülungen. Manche haben zusätzlich einen mechanischen Spülhebel. Ausschliesslich auf japanisch beschriftete Technikwunderwerke ohne diesen Notfallsknopf lassen einen dagegen ganz schön ratlos zurück …
Klo

Clubs, Ausgehen

Verbote sind der erste Vorbote. Nicht essen, nicht im gehen rauchen, keine Fotos, keine Teenies, keine Tätowierungen (ich hatte eine Jacke an und konnte also nicht herausfinden, wie ernst gemeint das ist) – jeder Club-Eingang wird ebenfalls von locker zwanzig Verbotsschildern geziert.
Die größeren Clubs sind in Shibuya (die geschleckteren in Roppongi), drin geht es dann relativ entspannt zu – schnelle und günstige Drinks in Plastikbechern und sagen wir mal eigenwillige Musikmixes: Die Kombination von Bon Jovi, Daft Punk und Alexandra Stan (alles mit Karaoke-Texten hinterlegt) hätte mich wohl einen Schneidezahn gekostet, wenn es nicht ein Plastikbecher gewesen wäre, den mir der Rempler einer spätestens bei Alexandra Stan restlos begeisterten Mädelsgruppe gegen die Zähne gerammt hat.

Koi1