Macht ist… wenn man das einfach mal so sagt

Sad Monkey - still from the upcoming movie
Über den Herrn Konrad kann man vieles sagen. Und das meiste davon wären momentane, subjektive, an den Haaren herbeigezogene Behauptungen. Zumindest liessen sich alle möglichen Beobachtungen als solche darstellen – weil man ja nicht zum Kreis der Ernstgenommenen gehört.
Christian Konrad und Michael Fleischhacker haben sich gestern im NZZ-Club einen unterhaltsamen Hahnenkampf geliefert. Und weil in dieser Arena strenge Regeln gelten (die man sich selbst setzt, als allgemein voraussetzt und dann ein bisschen damit kokettiert, dass es doch dumm ist, dass es diese Regeln gibt), sag ich gar nicht viel dazu, sondern beschränke mich auf einen ganz konkreten Punkt.
Christian Konrad wurde von einer Zuhörerin nach seiner Einstellung zu Frauenpolitik, Gleichbehandlung und den Möglichkeiten von Frauen in männerdominierten und männlich sozialisierten Kreisen befragt. Er begann seine Antwort mit „Ich habe eine Mutter, ich bin verheiratet und ich habe zwei Töchter…“
Auf die neuerliche Nachfrage, was denn dann das Problem sei, warum Frauen sich hier selten durchsetzten, war seine Antwort: „Frauen.“
Natürlich sind die zwei Statements ein wenig verkürzt, natürlich gab es zwischendurch ein paar weitere Antworten und Erklärungen, dass er, Konrad, sich persönlich bemühe, Frauen zu fördern, dass allen alle Chance offenstünden, und dass leider trotzdem wenig von Frauen nachkäme.
Da stellt sich dem verwunderten Zuhörer die Frage, wie es denn anders sein könnte. Solange Menschen mit dem Einfluss und dem Umfeld von Christian Konrad Antworten auf Fragen nach Geschlechterproblematiken im Job mit dem Hinweis darauf beginnen, dass Frauen Mütter, Ehefrauen und Töchter sind, ist es kein Wunder, dass eben diese Menschen wenig weiblichen Alpha-Nachwuchs zu Gesicht bekommen.
Das kann einerseits an der Wahrnehmung liegen. Andererseits auch an den dadurch bestätigten Rahmenbedingungen. Nein, natürlich ist es kein absolutes Hindernis, erstmal über die Gebärfähigkeitshürde (und vielleicht noch ein paar Blondinenwitze)  galoppieren zu müssen, bevor man sich an Machtspielen beteiligen darf. Aber wahrscheinlich wäre die Welt um vieles einfacher, wenn wir das einfach mal weglassen könnten. Und vielleicht klappts dann auch mit der Sicht auf Frauen besser.

Spiderman ist der Proto-Liberale

Als ich studiert habe, waren behaviouristische Ökonomie-Modelle in Mode. Das sind die, die bestimmte egoistische menschliche Verhaltensweisen postulieren und daraus Wirtschaftsorganisationsmodelle ableiten, die mit Rationalität argumentieren, als gäbe es keine Werbung, und die auf Grund dessen auf Freiheit pochen; schliesslich könne jeder selbst seine eigenen Interessen am besten verfolgen. WU-Studenten haben dann oft von Freiheit geredet und Hajek-Zitate eingestreut, und ich (als Philosophie-Student) immer so: „Hä?”
Ähnlich ist es mir gestern beim NZZ-Clubabend zu Liberalismus gegangen. Wirtschaft und Freiheit, das sind auf eine Ideenebene Dinge, die nicht zusammengehen. Man schliesst Verträge, diktiert Zahlungskonditionen, setzt Pönalen fest und arbeitet eine Fülle von Regelwerken aus – das verträgt sich schlecht mit Freiheit. Zugleich zeigt es auch eine sehr wesentliche Eigenschaft von Freiheit: Sie existiert in ihrer reinen Form immer nur für einen unfassbar kurzen Moment. Jeder soll frei von allem und frei für alles sein. Schön, um um diesen Moment nicht sofort umkippen zu lassen, brauchen wir dann Regelungen, die dafür sorgen, dass einige ihre Freiheit für alles nicht dafür einsetzen, die Freiheit anderer einzuschränken.
Jeder ist frei, die Verträge einzugehen, die er möchte – aber sobald er oder sie das getan hat, ist Schluss mit der Freiheit. Dazu braucht es noch keine autoritären oder radikalen Strömungen.
Das ist natürlich eine theoretische Überlegung – genauso theoretisch wie die Debatte um einen echten oder vollwertigen Liberalismus. Für mich ist in dieser Debatte Freiheit immer weniger das zentrale Thema. Wichtiger sind Verantwortung und die Wahl von Autoritäten. Natürlich setzen beide Freiheit voraus. Wo Freiheit herrscht, gibt es weniger Ausreden – damit entsteht Verantwortung. Die Verantwortung dort zu belassen, wo Entscheidungen getroffen werden, kann natürlich zu besseren Ergebnisse führen: Die Bank, die selbst für Anlageformen haftet und sich nicht hinter formalisierten Ratings von externen Agenturen verstecken kann, wird vorsichtiger beraten. Aber was machen wir, um ein Beispiel des Abends heranzuziehen, mit der Energiesparlampe? Vorausgesetzt, deren Verordnung ist wirklich ökologisch motiviert und sinnvoll, ist es auch hier sinnvoll, die Entscheidung dem einzelnen zu überlassen? Mir persönlich wäre es vollkommen egal, wenn meine monatliche Stromrechnung das Doppelte ausmachen würde (Disclaimer: Ich verbrauche wenig Strom. In den letzten acht Monaten waren es laut WienEnergie-Abrechnung 350 kWh – das entspricht einem Verbrauchspreis von 25,80 €), aber ich halte es auch aus nicht-ökomonischen Gründen für sinnvoll, wenig Energie zu verbrauchen. Wen ziehen wir zur Verantwortung, wenn sich herausstellt, dass es doch nicht gereicht hat, dass der steigende Stromverbrauch negative Folgen hat? Kein sehr freiheitsförderliches Szenario.
Das führt zu Frage der Autoritäten. Wessen Argumente und Entscheidungen anerkennen wir, welche Eingriffe in Freiheiten akzeptieren wir? Jetzt wäre die liberale Idealsituation natürlich, dass das ideologiefrei passiert. Das funktioniert aber praktisch nicht. Hier spielen immer Werte und damit Ideologien eine Rolle. Wir akzeptieren das, wovon wir glauben, dass es und näher an die Welt bringt, die wir uns wünschen.
Der Fundamental-Liberale, der Freiheit als absoluten Wert setzt, hätte seine Rolle dann nur in der ersten Reihe fußfrei als Zuseher – denn jede seiner eigenen Handlungen würde die Freiheit eines anderen einschränken. Jedes Ergebnis wäre ihm recht, Hauptsache es ist durch freie Entscheidungen entstanden. Der pragmatische Liberale sieht dagegen vielleicht Verantwortung als zentrale Komponente. Freiheit räumt viele Möglichkeiten ein – wo es viele Optionen gibt, gibt es auch viele verschiedene Konsequenzen. Deswegen eben Spiderman: “Whatever life holds in store for me, I will never forget these words: “With great power comes great responsibility.” This is my gift, my curse. Who am I? I’m Spiderman.”
Bringt uns das weiter? In mancher Hinsicht schon. Denn es macht klar, dass Einschränkungen der Freiheit nicht nur vom Staat kommen. Sie entstehen auch in anderen, scheinbar praktischen Zusammenhängen. Und die werfen dann die Frage auf, wer hier verbindliche Entscheidungen treffen können soll, die auch durchsetzbar sind. Der fatale Nebeneffekt dabei: Je weniger übergreifende, irgendwo ideologisch begründete Leitmotive es gibt, desto mehr Entscheidungen im Einzelfall werden notwendig.
Wie diese Entscheidungen zustande kommen, das ist eine andere Frage. Das setzt wieder freie Bürger voraus, die ihre Autoritäten selbst wählen. Und das möglichst öfter als alle fünf Jahre anhand von Wahlprogrammen, die niemand liest.
Und Verantwortung, um gleich ein beliebtes Gegenargument zu beantworten, ist nicht Paternalismus. Es ist eher eine Frage der Fähigkeit, in sich konsistente Gedanken entwickeln zu können. Aber darüber habe ich mich schon ausführlich ausgelassen.

Gibts ein Problem? – Freiheit, Gleichheit, Organisation

Es wird ungemütlicher. Darüber waren sich selten so viele unterschiedliche Ideologien einig. Wo aus konservativer Perspektive vielleicht ein allgemeiner, schleichender, grundsätzlich ohnehin immer schon stattfindender Werteverfall ausreicht, um das Weltbild aus den Fugen geraten zu lassen, wo ethnisch, religiös, sozial oder sonst wie fundamental orientierte Phobiker Werte und Bestände durch alles nicht ihren Überzeugungen entsprechende bedroht sehen, dort haben jetzt auch Liberale ein massives Problem, entspannt zu bleiben. Das gilt für albern theoretisierende Kommentatoren auf der Suche nach dem wahren, unbekümmerten und wirklich freien Liberalismus genauso wie für Fundamental-Liberale, die fern von aller Praxis absurde Wortkonstruktionen schaffen, die „Zentralorgan“ und „Liberalismus“ im einem Begriff verwenden und das wahrscheinlich lustig finden, und für Wirtschaftspublizisten, die sich fragen, wie lange alle möglichen Betroffenen sich absurde Zustände eigentlich noch gefallen lassen werden.
Eine mögliche Ursache für die Ungemütlichkeitsszenarien sind anhaltende Krisenszenarien, die nicht mehr so populär sind wie vor einigen Jahren, weil sie andere Kreise betreffen. Märkte erholen sich, Kapital wächst, Kapitalismuskritiker wachsen auch – und das Wahrwerden der Vorstellung, dass Reichtum irgendwie irgendwann nach unten durchsickert, lässt auf sich warten. Im Gegenteil. Thomas Pikettys “Capital in the 21 Century” und die aktuelle Vermögensstudie der Julius Bär Bank sind zwei sehr unterschiedliche Quellen, die den gleichen Trend bestätigen: Kapital konzentriert sich, jetzt mehr denn je.
Und das ist wohl einer der Gründe, die jenen die davon nicht profitieren, einen Grund geben, für Ungemütlichkeit zu sorgen. Nicht zuletzt, weil diese Konzentration auch durch öffentliche Sparmassnahmen und Geldpolitik abgesichert wird.
Was sind jetzt zeitgemäße Argumente, mit denen man dieser Situation begegnen kann, und was sind Kriterien, anhand derer man sie einschätzen kann?
Wir haben oft genug vorgeführt bekommen, dass weder Regulierungen noch Verbote, weder Liberalisierungen noch Marktorientierung zu wünschenswerten Ergebnissen führen. Solidarität hatte oft mit Bescheidenheit und mit Passivität zu tun, Freiheit mit Verantwortung und mit Gier. Nur sind die Grenzen halt leider nicht mehr so einfach. 
Adam Smiths Theorien von freien Märkten und unsichtbaren Händen sind über 200 Jahre alt – und es ist nicht eine Schwäche seiner Theorien, sondern eine schlichte Tatsache, dass Adam Smith noch keine Ahnung haben konnte, was der einzelne heute anrichten kann, als er seine Theorien formulierte und auf die Freiheit des einzelnen pochte. – Das bemerkt Lisa Herzog in ihrem Buch „Freiheit ist nicht nur für Reiche“. Adam Smith verliess sich darauf, dass der einzelne ohnehin nur in seiner Umgebung agieren könne und sehr wohl auch darauf achten werde, dass diese Umgebung lebenswert bleibt. Wenn wir heute von gemütlichen Büros in westeuropäischen Innenstädten aus Unternehmen in anderen Kontinenten steuern oder wenn Finanzmärkte Entscheidungen produzieren, von denen zwar viele einzelne im kleinen profitieren, deren Konsequenzen im Großen aber eigentlich niemand wollte, dann ist das nicht ganz so einfach.
Die Idee, dass derjenige, der das Risiko trägt, auch den Gewinn einstreifen können soll, muss sich also auch die Frage stellen: Wessen Risiko? Und was kann die Übernahme der Risiken von anderen bedeutet; wie weit kann Haftung gehen? Liegen, wenn irgendwie ohnehin alles alle betrifft, Haftungen und Konsequenzen nicht ohnehin auf der Hand? Offenbar nicht. Umweltpolitisch sind Freikaufsmechanismen etabliert, sozialpolitisch wird damit argumentiert, dass ein paar Tropfen des Reichtums der Vielen schon nach unten durchsickern werden, und wirtschaftlich hat der Begriff des Verdiensts im Deutschen eleganterweise auch den Beigeschmack des Gerechten und Gerechtfertigten: Wer sein Geld nicht gestohlen hat, der hat es verdient – als wäre es auf Leistung zurückzuführen.
Kann man heute also noch von Freiheit, Solidarität und Ungleichheit sprechen? Viele Ökonomen tun es.
Allen voran Thomas Piketty, der sich in seinem „Capital in the 21st Century“ mit der Geschichte von Kapital und Ungleichheit und mit möglichen zukünftigen Regulierungsformen beschäftigt. Lustigerweise wurde er daraufhin von amerikanischen Kommentatoren als Linker eingestuft und auch ausgerechnet von der Arbeiterkammer nach Wien eingeladen. Um Pikettys Studie lesen zu können, hilft es allerdings, die Links-Rechts-Kategorisierungen erstmal zu vergessen und auch die beliebte Verwechslung von Sein und Sollen sein zu lassen: Einen Zustand zu beschreiben, heisst nicht, ihn zu bewerten, und auch die Bewertung – also die Klassifizierung als „Problem“ – sollte sich weniger an Ideologien als an praktischen Konsequenzen orientieren (deren Bewertung in letzter Konsequenz natürlich dann auch wieder irgendwo an Ideologien gekoppelt ist).
Vielleicht ist die Ungleichheit, mit deren Entwicklung sich Piketty beschäftigt, kein Problem, sondern ein Risiko. Ungleichheit muss nicht mit Ungerechtigkeit verbunden sein, um ein Risiko zu sein. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es sich nicht mehr auszahlt, reich zu sein. – Kapitalwachstum ist darauf angewiesen, dass andere, die das Kapital nicht haben, es brauchen könnten. Sie leihen es aus und zahlen dafür Zinsen, sie konsumieren mit dem Kapital geschaffene Produkte oder sie zahlen Miete für Güter, die zu kaufen sie sich mangels Kapital nicht leisten können. Auf die Spitze getrieben bedeutet die entropische Tendenz des Kapitals, die dazu führt, dass mehr dorthin kommt, wo schon mehr ist, und dass es sich dann nur in noch größeren und noch rentableren Schritten bewegen möchte, dass also irgendwann der Punkt erreicht wird, an dem Kapital nicht mehr wachsen kann. Wenn wenige alles haben und andere nichts, kann deren Kapital nicht mehr wachsen.
Damit arbeitet das Kapital gegen sich selbst und seine Ideen. Es bringt das hervor, was es vermeiden wollte; statt freier und handlungsfähiger Individuen schafft es Abhängige und Überflüssige. Ist das ein Hinweis darauf, dass mit dem Grundprinzip etwas nicht stimmt? Oder ein Kriterium, anhand dessen sich einschätzen lässt, ob die Grundprinzipien “richtig” eingesetzt werden?
Richtig steht hier fürs erste unter Anführungszeichen, weil richtig in den Vorstellungen jener, die gern mit absolutistischen Liberalismusideen um sich werfen, ein gefährlicher Begriff ist. Richtig ist hier allerdings ein Kriterium, das anhand der eigenen, selbst bemessenen Massstäbe gilt oder eben nicht gilt. Ist es das Ziel, Freiheit, Unabhängigkeit und reale Wahlmöglichkeiten für alle zu schaffen? Und mit welchen Mitteln wird es zu erreichen versucht? Massstab sind dabei Tatsachen, nicht Ideen: Theoretische Wahlmöglichkeiten gelten nicht wirklich, wenn sie praktisch nicht ausgeübt werden können.
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Um diese Entwicklungen wirklich einschätzen zu können, dafür fehlen dann allerdings die großen zeitgemäßen Entwürfe. Sie leiden allesamt an ähnlichen Problemen wie der Versuch, Adam Smith in die Gegenwart zu retten: Ihre Voraussetzungen stammen aus anderen Zeiten.
Besonders deutlich wird das bei Lieblingsreizthemen wie Geschlechtergerechtigkeit und geschlechtergerechter Sprache, wo autoritäre Konservative autoritäre diktatorische Massnahmen orten, wenn sich die rechten Identitären gegen Rassismus aussprechen (Anmerkung: sie tun das, weil sie sich als „Weiße“ als Opfer von Immigrantenrassismus sehen, und weil es keine Probleme gäbe, wenn jeder dort bliebe, wo er ethnisch hingehört – wo auch immer das ist) oder eine Mac Donalds-Filiale stürmen und gegen Fast Food und für regional nachhaltigen Konsum agieren, wenn Millionen-Erben zu Kapitalismuskritikern mutieren oder wenn wortverliebte Schöngeister wie Richard David Precht mathematisch-ökonomische Skills als relevante Kulturtechnik einmahnen.
Politische Richtungen lassen sich schwer einschätzen; für politische Strategien gilt das noch viel mehr.
Solidarität, Mässigung und Verzicht waren lange bewährte Strategien zur Weltverbesserung. Neuen linken Denkern gelten sie als Symptome der andauernden Unterwerfung, als Instrumente zur Bewahrung eines Status Quo, in dem der, der nichts hat, sich mit weniger zufrieden gibt, damit die Erträge desjenigen, der mehr hat, ungehindert steigen können. Der Rückzug in archaisch-solidarische vorkapitalistische Phantasien ist kein Gegenmodell zu einer gierigen Gesellschaft, sondern ein Rückzug, der diese nicht stört – und der Beginn einer Ordnung, die selbst wieder kapitalistische Grundzüge entwickeln wird, um sich wirtschaftlich zu organisieren. Oder einer Ordnung, die sich die Frage stellen muss: Wenn ich das Geld nicht habe, wo ist es dann? Und woher kommt es, wenn wir es brauchen? Verzicht ist eine reaktionäre Strategie, die eher bestätigt, als zu verändern. Wählerische Skepsis ist eine produktivere Strategie.
Kapitalismus an sich ist nichts schlechtes – darin sind sich so unterschiedliche Protagonisten wie Naiv-Liberale, Wolf Lotter und die Autoren des Akzelerationistischen Manifests einig. “Wir glauben, dass jedes postkapitalistische System einer postkapitalitstischen Planung bedarf. (…) Dafür muss die Linke jede vom Kapitalismus ermöglichte technologische und wissenschaftliche Errungenschaft zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wir behaupten, dass Quantifizierung kein abzuschaffendes Übel ist, sondern ein Werkzeug das auf die bestmögliche Art eingesetzt werden muss. (…) Die akzelerationistische Linke muss ihren Analphabetismus in diesen Fachgebieten überwinden“, schreiben die Autoren Nick Srnicek und Alex Williams in ihrem Manifest. Und laufen damit natürlich auf den ersten Blick Gefahr, ebenfalls in die Falle von Selbstdisziplinierung und allgegenwärtiger Selbstkontrolle zu fallen, die Foucault seit den 70er Jahren beschreibt. Die Autoren haben aber ihre Poststrukturalisten gelesen (vor allem Deleuze & Guattari sind in der akzelerationistischen Szene überaus beliebt).
Srnicek und Williams bleiben in ihren Ausführungen sehr abstrakt. Vereinfacht steht Akzelerationismus für die Überlegung, ob nicht die Schwächen der aktuellen Ausprägung eines kapitalistischen Systems viel eher mit dessen eigenen Mitteln zu beheben, ob nicht der Kapitalismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen sei. Anstelle von Rückzug und Verzicht sind ökonomische Kenntnisse und der Aufbau wirtschaftlicher Macht revolutionäre Instrumente, anstelle vorsichtigen Bremsens und verweigernder Subversion soll der Crash mit radikaler Beschleunigung herbeigeführt werden.
Klingt abstrakt, findet aber durchaus seine realen Entsprechungen. – Selbst dort wo Werte und Agitation im Vordergrund stehen (und nicht rein wirtschaftliches Handeln), sind die wirtschaftlichen Gewichte zwischen recht und links (oder jenseits davon) äußerst ungleich. – Für ein anderes Projekt habe ich eine grobe Analyse der Vermögensverhältnisse hinter politischen Blogs begonnen. Einige linke oder anarchistische Blogs werden von Berufspolitikern betrieben, von Vereinen, die fallweise Auszeichnungen oder Förderungen bekommen, insgesamt sind sie aber wenig ökonomisch orientierte und nicht unternehmerisch organisierte Medien. Auch in einzelnen Fällen, in denen Verlage oder Buchhandlungen mit den Betreibern vernetzt sind, verfolgen diese andere wirtschaftliche Modelle. Hinter den führenden rechten Blogs stehen mit politischen Organisationen vernetzte Vereine, die ebenfalls Förderungen beziehen, fallweise stehen GmbHs dahinter, in einem Fall sogar eine Vermögensverwaltungsgesellschaft, die neben dem Blog Verlage für Jagd-, Militär- und ähnliche Publikationen besitzt. Es braucht keine Verschwörungstheorie, um hier materiell  unterschiedlich stark abgesicherte und Positionen zu sehen. Es sind unterschiedliche Herangehensweisen zum Ausbau der eigenen Position – auf der einen Seite werden etablierte Instrumente eingesetzt, um Macht und Durchsetzungsfähigkeit zu erlangen, auf der anderen Seite ist es eine vage Zurückhaltung, die sich kommerziell betrachtet den Vorwurf der Naivität gefallen lassen muss.
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Aber das war nur ein kurzer Exkurs. Die Argumentation des Akzelerationismus bringt etwas anderes auf den Punkt: Werte werden heute ökonomisch argumentiert. Freiheit bezieht sich auf Wirtschaft, Verantwortung und Moral finden wirtschaftliche Ausprägungen und auch Macht ist wirtschaftlich legitimiert und wird wirtschaftlich ausgeübt. 
Die praktische Seite von Wirtschaft ist Arbeit. Für einige wenige ist es Kapital; der Anteil jener, für die Kapital als Einkommensquelle wirtschaftlich relevant ist, ist aber verschwindend gering (auch das zeigt im übrigen Piketty in seiner Langzeit-Studie). Unternehmer sind dabei ein Mittelding – sie setzen Kapital ein, es bewegt sich aber ohne ihre eigene Arbeit nicht und es ist zwar notwendig, aber nicht massgeblich (sondern oft auch nur eine Zugangshürde im Gründungsprozess).
Arbeit war vielleicht mal ein Mittel zum Zweck. Seit aber kaum noch jemand mit seinen Händen und seinem Kapital für sich selbst arbeitet und seit Marx-Zitate in allen Gesellschaftsschichten wieder häufiger werden, ist Arbeit ein Wert an sich. Sie schafft nicht nur Werte (in realer praktischer Form, die man ausgeben kann), sie macht auch die Arbeitenden wertvoll. Sie sind Teil einer Gesellschaft, leisten etwas, zahlen Steuern – und sind nicht überflüssig. Arbeit ist ein Mittel, um an der Welt teilzuhaben – und um Kapital, das den Arbeitenden nicht gehört, zu vermehren. “Der Begriff der Arbeit hat schon immer zwei widersprüchliche Dimensionen umfasst: eine Dimension der Ausbeutung und die Dimension der Beteiligung“, schreibt das Autorenkollektiv „Unsichtbares Komitee“ in seinem Text „Der kommende Aufstand“. Social Business, Enterprise 2.0, offene Organisationen und Open Innovation sind Sichtweisen von Arbeit, die den Beteiligungsaspekt hervorheben. Beteiligung ist dabei nicht kapitalistisch zu verstehen. Diese Form von Beteiligung bedeutet keine Mitarbeiteroptionsprogramme und keine Umverteilung von Produktionsmitteln, sondern sie bedeutet immaterielle Beteiligung an dem Prozess, Materielles zu schaffen. Immaterielle Beteiligung bedeutet Engagement: Mitarbeiter sind bei der Sache, leisten mehr, Sinnvolleres und Wertvolleres – in erster Linie, damit Gewinne steigen. In zweiter Linie vielleicht, damit Produktionsprozesse „menschlicher“ und auch Produkte sinnvoller werden. (Damit sind wir aber schon weit über die Arbeitsorganisation hinaus – sinnvolle Produkte setzen Unternehmen voraus, die ihre Umwelt kennen und mit ihren Umwelten kommunizieren können, ohne das als Bedrohung zu empfinden. Die Entwicklung von „Goods“ zu „Betters“ (das sind Produkte die ihre Konsumenten glücklicher, klüger oder gesünder machen) beschreibt Umair Haque in seinem New Kapitalist Manifest.
Beteiligung setzt Interaktion voraus, und Interaktion erweitert den Horizont und schafft neues Wissen. Was hat der engagierte Arbeiter davon? In der Regel weniger als der Geldgeber – Wirtschaftswachstum ist langfristig betrachtet immer langsamer als Kapitalwachstum (was auch in Pikettys Studie nachlesbar ist).
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Der Arbeiter soll also engagiert, bewusst und mobilisiert sein – so wie einst der Revolutionär.
Denn Arbeit ist seine Möglichkeit zur Entfaltung, schreibt das „Unsichtbare Komitee“ weiter: “Wenn der Arbeitslose, der sich seine Piercings rausnimmt, zum Frisör geht und ‚Projekte’ macht, tatsächlich ‘an seiner Beschäftigungsfähigkeit arbeitet’, wie man so sagt, heißt das, dass er dadurch seine Mobilisierung bezeugt.“ Der Arbeiter muss mobilisiert sein, weil man ihn letztlich nicht mehr braucht.
Es gehört zwar auch zum guten Ton aktueller Visionen moderner Arbeit, mit Geburtenrückgängen und veränderten Werten zu argumentieren und jungen Menschen in Aussicht zu stellen, dass sie sich ihren Job werden aussuchen können und dass sie Unternehmen gegenüber in einer starken Position wären. Dem widersprechen allerdings reale Phänomene wie Dauerpraktika, ein Verständnis lebenslanges Lernens, das Wissen und Praxis gleichermassen entwertet und stattdessen auf Kontakte und Auftreten setzt, sowie die Tatsache, dass sich gerade viele junge, gut ausgebildete Menschen  gern schnell einen Platz in der Organisation suchen, um dort auf die angekündigten Reichtümer zu warten.
Es gehört auch zum guten Ton, über neue Führungsmodelle und Formen der internen Kommunikation zu sprechen, die den Mitarbeiter respektieren, Autorität überdenken und stattdessen auf Selbstverantwortung setzen – auf mündige, engagierte, mobilisierte Mitarbeiter. Moderne Führung „wird der Ausübung von Disziplinarmassnahmen entbunden, um ohne Autorität vertrauenswürdiger zu wirken. Die unsichtbare Hand hört aber nicht auf, Organisator zu sein, genausowenig, wie sich Unternehmen in ein unabhängiges und offenes System verwandeln, was die Dynamik der Selbstorganisation eigentlich erfordern würde. Was beschworen wird, ist eine Pseudo-Selbstorganisation. In erste Linie sollen die Angestellten ihre Disziplinierung auf der angemessenen Augenhöhe übernehmen – ihre Selbstführung soll für die Interessen des Unternehmens mobilisiert werden. An der langen Leine gelenkter Selbstkontrolle wird ihnen die Illusion von Teilhabe vorgespiegelt. Jeder wird zum Schmied des gemeinsamen Glückes verklärt. Teilgehabt wird an den Freuden der Pflicht, meist ohne dass sich Wesentliches an der Verteilung der Produktionsmittel ändert. Werden die Angestellten, die jetzt immer öfter Mitarbeiter heissen, am Kapital des Unternehmens beteiligt, dann so, dass sie das Systemprinzip des Unternehmens stabilisieren“, schreibt Hans-Christian Dany in seinem Buch “Morgen werde ich Idiot“, das kybernetische Effekte von Vernetzung und Selbstorganisation analysiert.
Mobilisierung ist nicht zuletzt das Symptom eines Versprechens – des Versprechens, es selbst auch einmal zu schaffen. Deswegen, so vermutet es zumindest Ilija Trojanow in „Der überflüssige Mensch“, solidarisieren sich Mittelschichten mit Reichen, nehmen Kürzungen in Kauf und sprechen sich gegen Mehrbelastungen aus, die sie, realistischerweise betrachtet, nie betreffen würden. Als Gegengeschäft werden sie am Leben erhalten, denn Kapital (sprich Produzenten) braucht Konsumenten. – So wird Arbeit immer mehr „wert“, ohne eigentlich noch gebraucht zu werden. “Die Arbeit hat restlos über alle anderen Arten zu existieren triumphiert, genau in der Zeit, als die Arbeiter überflüssig geworden sind. (…) Wir erleben das Paradox einer Arbeitergesellschaft ohne Arbeit, wo Ablenkung, Konsum und Freizeitbeschäftigung den Mangel an dem, wovon sie uns ablenken sollten, nur noch verstärken“, schreibt das „Unsichtbare Komitee“.
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Was heisst das für politische Entwürfe, wenn Wirtschaft das eigentlich relevante politische Paradigma ist, dem allenfalls noch der Vernetzungsgedanke etwas annähernd gleich mächtige entgegensetzen kann? Vernetzung ist heute auch eines dieser Heilsversprechen, das es Einzelnen und Kleineren ermöglichen soll, sich durchzusetzen. 
Vernetzung ermöglicht den von Haque beschriebenen New Capitalism, Vernetzung schafft Formen von Freiheit, in denen sich der Einzelne bewegen kann und nur sich selbst kontrolliert. Aber er kontrolliert sich.
Byung Chul Han nennt diese Politik Psychopolitik. Und er beschreibt damit ähnliches, wie die Autoren des „Unsichtbaren Komitees“, nur ohne die revolutionäre Komponente.
Selbstkontrolle ist eine formale Hülle, deren inhaltliche Ausprägung davon abhängig ist, an welchen Werten sich der Kontrollierende, der zugleich der Kontrollierte ist, orientiert. Sind es die, die erwartet werden? Oder sind es die, die für den Einzelnen in seinen Einstellungen und seiner Umwelt für ihn persönlich akzeptabel sind?
Kontrolle hat mit Autorität zu tun. Und Autorität muss sich heute die Frage stellen, welche Autorität akzeptabel ist. Unabhängigkeit, auch eines der Versprechen des Vernetzungs-Heilsgedankens, ist neo-primitive Einsiedelei, wenn sie sich der Autoritätsfrage nicht stellt. Autoritäten sagen dabei weniger, wo es lang geht, sondern unter welchen Bedingungen Handlungen funktionieren und Effekte bewirken können. Das kann auf unterschiedliche Art und Weise verstanden werden: Autorität sagt, was funktioniert – eben weil Autoritäten darüber entscheiden können. In dieser Sichtweise geht es um das Wie-es-sich-Gehört, darum, die richtigen Dinge zu tun, die man eben tun muss, um unter den gegebenen Voraussetzungen mitspielen zu können. Auf der anderen Seite ist Autorität eine ganz praktische Eigenschaft, die sich nicht behaupten muss, sondern über ihre eigenen Auswirkungen spürbar wird. Dabei gibt Autorität nicht vor, was sich gehört oder was zu tun richtig wäre, sie entsteht dadurch, dass Dinge richtig gemacht werden. Im ersten Fall ist Autorität also eine Voraussetzung, um über richtig und falsch entscheiden zu können, im zweiten Fall eine Folge richtiger Handlungen und Entscheidungen. Im ersten Fall ist der Rahmen des Richtigen vorgegeben. Etwas anderes ist dabei vielleicht nicht falsch, aber es fällt einfach aus dem Rahmen. Im zweiten Fall ist die Frage des Richtigen nicht vorentschieden. Richtig oder falsch bleiben eine Frage der jeweiligen Zielsetzung und die Entscheidung ist vom Ergebnis abhängig. Autorität ist damit nicht die Eigenschaft des Erfolgreichen oder Mächtigen, sondern die des Problemlösers. Die gelösten Probleme haben dabei nicht mit Machtfragen oder mit etablierten Zielsetzungen zu tun. Sie ergeben sich aus persönlichen Zielsetzungen – Autorität hat aus dieser Perspektive derjenige, der Antworten geben kann und einem anderen auf den Weg hilft.
Das zweite Autoritätskonzept ist etwa das, das Michail Bakunin als auch anarchistisch tolerierbare Autorität entwirft. Anarchie fällt, in Bakunins Darstellung, nicht in den Retroprimitivismus zurück, der sich weltfremd verweigert und praktische Gesetzmäßigkeiten ignoriert. Anarchistische Verantwortung ist im Gegenteil die, Autoritäten zu suchen und sie auf die Verwendbarkeit für eigene Ziele zu überprüfen. (Wozu, als Randbemerkung, auch die Fähigkeit und der Wille, zu lernen, gehören. Anarchist zu sein setzt also eine Menge Wissen und Bildung voraus…)
Wenn dazu auch wirtschaftliche Ziele und Fähigkeiten gehören, dann deckt sich diese Vorstellung recht weitgehend mit dem, was die Akzelerationisten als neue erforderliche Skills beschreiben.
Die Frage ist nur, wodurch sich diese Ökonomisierung von der des ursprünglich kritisierten Ausgangspunkts unterscheidet. Formell gesehen vielleicht gar nicht. Sie verwendet die gleichen Instrumente, setzt die gleichen Methoden an und funktioniert nach den gleichen Regeln. Der Unterschied liegt in der Vielfalt der Akteure und in den Kreisen, die der Konsum zieht.
Ich glaube nicht an eine große Paralleldynamik, wie sie der akzelerationistische Kapitalismus vielleicht entwirft. Das klingt nach einer grundsätzlich naiven Hoffnung, als würden sich die Mechanismen, die bisher funktioniert haben, wiederholen lassen, um ökonomische und damit auch Machdefizite aufholen zu können. Das wird nicht passieren: Wo nichts ist, wird das Wachstum immer langsamer sein als dort, wo schon viel ist.
Kapitalistische Methoden, die ja letztlich damit zusammengefasst werden können, Leistungen gegen kommerzielle Werte zu verrechnen,  entscheiden nicht nur, wohin Geld (und damit Werte und Macht) im einzelnen fließen, sondern auch, wohin sie ingesamt fließen.
Damit entstehen Wahlmöglichkeiten. Diese sind grundsätzlich einmal klein. Aber sie wirken doppelt: Geld, das einmal wohin fliesst, kann kein zweites Mal wohin fliessen. Vorausgesetzt natürlich, dass das Spiel funktioniert. Es beruht jedenfalls auf Gegenseitigkeit.
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Der Turbokapitalist von heute ist der anarchistische Konsumverweigerer, der sein Geld nur dorthin trägt, wo er es sehen möchte.
Er schafft neue Märkte. Auch das wäre, aus dem Blickwinkel des Liberalabsolutismus, eine weitere Form von Knechtschaft, die schliesslich einigen Einschränkungen begegnet.
Mag sein.
Freiheit ist aber mittlerweile selbst zur Tyrannei geworden. Wir müssen wenig, können viel, und etwas – egal was, ein Job, eine Beziehung, ein Stück Kuchen – gilt nur dann als gut, wenn es auch wirklich das ist, was wir wollen. In ihrem Buch “Tyrannei der Freiheit” stellt Renata Salecl die Frage, ob der Aufwand, der notwendig ist, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen, und der Stress, ob es vielleicht doch auch einmal eine falsche Entscheidung war, nicht vielleicht größer sind als die eventuellen Nachteile einer zweit- oder drittbesten Entscheidung.
Damit wirft uns auch die ursprünglich von so großen Fragen wie der von Freiheit, Ungleichheit und Solidarität ausgehende Überlegung auf recht persönliche Fragen der Lebensform zurück. Oder: Jetzt sind diese Fragen persönlich, vor einigen Jahrzehnten waren sie es ganz und gar nicht. Nach welchen Möglichkeiten können persönliche Lebensentscheidungen kritisiert werden? Die Philosophin Rahel Jaeggi führt in ihrer “Kritik von Lebensformen” ein wesentliches Argument an: Entscheidend für die innere Qualität von Lebensformen ist deren Lernfähigkeit. Solange sie mit ihrer Umgebung zurechtkommen, auf Veränderungen reagieren können und sich innerhalb des selbstgesteckten Rahmens weiterentwickeln können, funktionieren Lebensformen. Problematisch ist es vor allem, wenn sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden können. Aus den eigenen Werten abgeleitete Ziele werden nicht erreicht, und es gibt keine angemessenen Methoden, um diese Ziele auf anderen Wegen zu erreichen – dann ist es Zeit, neue Perspektiven und Paradigmen zu akzeptieren.
Damit kommen wir zur eigentlich spannenden Frage am Schluss: Wer, wenn wir diese Frage auf das Verständnis von Politik- und Wirtschaftsformen beziehen, ist jetzt so weit, dass die Lernfähigkeit an die Grenzen stößt und ein Abschied dringend notwendig wäre?
Wobei das zu einfach wäre, wenn sich damit nicht eine neue Frage öffnete: Welche Grenzen? Wer soll uns Grenzen setzen? Grenzen haben heute immer zwei Seiten – den einen beschränken sie, der andere setzt sie. Und es ist ein Leichtes, den Setzenden auch in seine Schranken zu verweisen, denn die naturgegebenen, allgemeingültigen Grenzen, die scheint es heute nicht zu geben.
Im Gegenteil, die wirksamste Grenze ist die, wenn wir an den Punkt kommen, an dem wir sagen müssen „Oh, das wollte ich nicht.“ Wenn wir die Ursache dieser Aussage auf uns selbst zurückführen können, dann schwingt vielleicht ein kleiner Genierer mit, wenn wir sie ernst meinen, dann hat sie vielleicht auch mit Mitgefühl für den Betroffenen zu tun.
Jeder vernünftige Mensch muss sich heute eigentlich sagen „Das wollte ich nicht“. Egal ob er aus wirtschaftsliberaler Sicht zusieht, wie er seinen Feind züchtet, oder ob er aus regressiv-verweigernder, romantisch-archaischer Rückzugsperspektive erkennt, wie bedeutungslos sein Rückzug ist. Insofern ist die allgegenwärtige Selbstkontrolle vielleicht nichts schlechtes. Sie lässt uns nicht allein; sie zeigt uns, dass es Konsequenzen gibt und dass wir nicht so allein und unabhängig sind, wie wir es vielleicht manchmal gerne wären. Heisst auf der einen Seite: Freiheit ist nicht alles. Und auf der anderen Seite: Solidarität macht nur dann Sinn, wenn sie Freiheit voraussetzt.
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Und irgendwie gibt es damit zwei Leitfiguren der Zukunft: Den vernünftigen Langweiler, der sich Dinge überlegt, Abhängigkeiten erkennt und bis drei zählen kann, und den Anarchisten, der kein Problem, mit sachlichen Autoritäten hat, wenn sie Sinn machen – aber mit allen anderen schon.
Und wahrscheinlich sind diese beiden gar nicht so weit auseinander.
Und so sehr es einem Menschen, der gewohnt war, auf sich selbst zu schauen und andere zu respektieren, widerstreben mag: Es wäre an der Zeit, Forderungen zu stellen, oder auch anderen mal zu sagen, dass sie dumm sind.
Und um auf noch einmal auf die Frage der Ungleichheit zurückzukommen:
Ja, es ist ok, Ungleichheit als Problem zu sehen, vor allem in ihrer durch Steuern, Renditen und Bankkonditionen subventionierten Formen, Die Entwicklung entspricht nicht den Idealen einer freien Welt. Und es ist möglich, sie zu kritisieren, ohne auf Vorwürfe wie Neid oder Gleichmacherei reagieren zu müssen.

Man muss sich nicht mögen – “How Google Works”

[su_dropcap]I[/su_dropcap]ch hab die signierte Ausgabe. Ich weiß nicht, ob mir das ein paar Nerd-Glamour-Punkte verschafft; schließlich gabs die ganz unglamourös am Flughafen zu kaufen. Und „How Google Works“, das Buch von Ex-Google-CEO Eric Schmidt und Ex-Google-Head of Products Jonathan Rosenberg ist nette Fluglektüre. Bekanntes und Erwartbares, das aber natürlich dadurch faszinierend ist, dass es sich offensichtlich auch praktisch bewährt hat.

Es ist wenig neues drin, das man nicht schon über Google gehört hätte.
Ein merkwürdiger Aspekt ist trotzdem bei mir hängengeblieben. Schmidt und Rosenberg lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass Recruiting die wichtigste Managementaufgabe ist. Die Auswahl der besonderen Typen, die aus eigenem Antrieb das Außergewöhnliche schaffen, die Wochenenden opfern, um Probleme zu lösen, die nicht ihre sind und die neue Wege suchen, anstatt Prozesse abzuarbeiten, ist natürlich die Kernfunktion einer Organisation, die Innovation als ihr Lebenselixier betrachtet. Und natürlich lese ich so etwas überkritisch und wahrscheinlich auch mit unangemessenen europäischen Maßstäben. Aber mich beschleicht immer wieder der Verdacht, dass diejenigen, die das Außergewöhnliche so ausdrücklich betonen, irgendwo selbst die langweiligsten Menschen sein müssen. Und dass Außergewöhnlichkeit ihren Rahmen braucht, das heisst Außergewöhnlichkeit existiert nur dann, wenn Gewöhnlichkeit vorausgesetzt wird. Google, sagen Schmidt und Rosenberg, schafft eine Unternehmenskultur, die aussergewöhnliche Menschen anzieht. Offensichtlich, um sich an und in einer Kultur messen zu können, in der im Inneren andere Regeln gelten, während sie ihre Umgebung nicht in Frage stellt.
Google hat kein funktionierendes Paid Service auf den Markt gebracht. Google hat Werbe-Abrechnungsmodelle verändert, aber nicht die Werbefinanzierung als Grundlage von Massendienstleistungen. Google-Services haben manchmal katastrophale Benutzerverwaltungsfunktionen und nie mehr als Me-Too Social-Komponenten. Aber Google-Services sind oft die Grundlage von vielem, das sich darauf aufbauen lässt (wenn sie dann nicht unvermittelt wieder abgedreht werden). Und niemand hat etwas besser funktionierendes hervorgebracht.
Ich wäre auch nicht so skeptisch, wenn Schmidt und Rosenberg in ihrem Text dann nicht doch häufig Stanford und andere Elite-Unis oder gar Mc Kinsey als ergiebige Recruiting-Quellen erwähnen würden.

Das Außergewöhnliche organisieren?

Ich habe weder etwas gegen gute Ausbildung noch gegen Google – nur gegen die inflationäre Verbreitung des Außergewöhnlichen. Das Außergewöhnliche, noch nie Dagewesene wird nicht in Organisationen stattfinden; es wird nicht dort stattfinden, wo mehr oder weniger trotz allem traditionelle Businessmodelle im Spiel sind. Ich glaube auch nicht, dass wir es lang suchen müssen – es findet täglich statt. Aber es passt nicht in Konzepte und Businessmodelle und hat keine Credits.
Und ich glaube nicht daran, dass Organisationen Außergewöhnlichkeit fördern können. Ich denke eher, dass die Festschreibung des Status „Außergewöhnlich“, in Verbindung mit dem impliziten Kochrezept „So wird auch Ihre Organisation außergewöhnlich“, den Blick auf das Außergewöhnliche verstellt, das noch kommen könnte. Und ich wundere mich über Außergewöhnliche, die sich dann mit Kinotickets und Nationalparkbesuchen auf Firmenkosten begeistern lassen (so beschreiben das Schmidt und Rosenberg). – Wahrscheinlich ist eher generell die Begeisterungsfähigkeit der grundlegende Unterschied. Manche Menschen lassen sich begeistern – und schätzen dann auch Kinotickets, bei anderen funktioniert das nicht. In Geld (zumindest gemessen an Gehältern der europäischen Kommunikationsbranche) ist auch der Unterschied zwischen „Ich mach eh“ und „Ich will machen“ nicht zu bezahlen.
Und ich nehme mal an, Schmidt und Rosenberg wissen das. Zumindest nennen sie als eines der KO-Kriterien bei ihrer Suche nach außergewöhnlichen und leidenschaftlichen Mitarbeitern die häufige Verwendung des Wortes „passionate“. Wenn jemand „passionate“ verwendet, um sich und seine Leidenschaft zu beschreiben, dann ist davon auszugehen, dass es mit seiner Leidenschaft nicht weit her ist – sonst würde er ja von seiner Leidenschaft reden…

Wenn es allerdings eine Unternehmenskultur schafft, diesen Trieb des „Ich will machen“ nicht zu behindern, dann ist das eine echt coole Errungenschaft. Und zugleich etwas sehr Unösterreichisches. Vielleicht ist es aber auch die Königsklasse der Manipulation – gegen die das Einfrieren von Eizellen auf Unternehmenskosten ein niedrigschwelliger Betriebsrats-Incentive ist.

Man muss sich nicht mögen

Außergewöhnlich, jetzt sage ich das auch mal, ist jedenfalls die von Schmidt und Rosenberg beschriebene Recruiting-Strategie, die vieles von dem, was wir über Führung glauben, auf den Kopf stellt: Interviews führen weder Personalspezialisten noch Manager, sondern Mitarbeiter – quer aus allen Bereichen und Hierarchieebenen. Sie sollen bewerten, ob der oder die Kandidat_in etwas drauf hat, ob er oder sie bei Google zurechtkommt, und ob sie mit Ja oder Nein stimmen würden. Interviews finden in mehreren Runden statt und werden in standardisierten Listen ausgewertet. Entschieden wird anhand der Daten. Auf jeden Fall nicht entschieden wird durch die Führungskraft, in deren Team der oder die Neue landen soll. Sympathie soll keine Rolle spielen (sondern eben die Daten), Teams, so Schmidt und Rosenberg, ändern sich zu schnell, und – man muss sich nicht mögen. Gut funktionierende Teams zeichnen sich für Schmidt und Rosenberg nicht durch die Chemie aus, sondern dadurch, dass jeder genug eigenen Antrieb hat, um selbst etwas tun zu wollen. Und die Rolle des Managers ist es nicht, für Harmonie und Wohlbefinden zu sorgen, sondern jedem den Spielraum zu geben, sich bewegen zu können.
Also ich find das so ja gemütlich…

Free to Pee – Freiheit und Geschäftsmodelle

Was man in ein paar Tagen in Kalifornien über Geschäftsmodelle lernen kann. 

Ich mag Kalifornien. Wobei das eigentlich eine dumme Aussage ist; ein Konstrukt, das in der Phantasie jedes einzelnen anders ist, zu mögen, heisst ja genau genommen, seine eigene Vorstellung, oder schlicht sich selbst zu mögen. Und je allgemeiner das Konstrukt ist, desto schwerer fällt es, dieses dann auch bei näheren Kennenlernen noch zu mögen. – Ein paar willkürliche Notizen nach ein paar Tagen Kalifornien.

“Careless Lifestyle” war das Motto eines Luxusautovermieters am Sunset Boulevard in Los Angeles. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Übersetzungsfehler war oder eine eben wirklich ansprechende Beschreibung. Die orange, silber und gelb glitzernden Schlitten waren bunter als die Transformer-Camaro-Remakes, mit denen sich Touristenkinder am Hollywood Boulevard fotografieren lassen können.

Am nächsten Tag parkten einige dieser Autos vor einer Galerie im West Hollywood Design District. Was im L.A. Weekly wie eine Vernissage für dich und mich angekündigt war, war ein für L.A.-Verhältnisse wahrscheinlich mickriges Society-Event mit Men in Black an der Tür und roten Absperr-Kordeln davor. Ich bin trotzdem reingegangen, obwohl ich nach einem Tag zu Fuß in den Hollywood Hills aussah, als wäre ich eben zu Fuß von Las Vegas nach Los Angeles gegangen. Rausgeworfen hat mich niemand, aber spürbar war doch: Die Offenheit hat dort ihre Grenzen, wo Zugehörigkeitssymbole außer acht gelassen werden.

Das ist in diesem Fall nichts neues. Plakate im Shepard Fairey-Stil für John Wellington Ennis’ Film Pay 2 Play ziehen sich derzeit durch die USA. Wer mitreden will, so die These, muss zahlen. Der Film bezieht sich auf die Politik und den Einfluß mächtiger Lobbyisten.
Die Grenzen zwischen bezahlt und gratis ziehen sich aber durch weit mehr Bereiche.
Das merkt man eben etwa auf dem Weg zu Fuss durch Los Angeles: Es gibt kaum öffentliche Plätze und die meisten Straßen sind nicht dafür gemacht, sich durch sie zu bewegen. Es sind Wohngegenden, in denen der, dem dort nichts gehört, ein Ärgernis ist, und die für den, dem dort nichts gehört, ein Hindernis auf dem Weg sind. (Wobei es auch Unsinn ist, dass man in L.A. unbedingt ein Auto braucht – das ändert wenig an der Stadt. Und das öffentliche Verkehrsnetz ist gut (abgesehen davon, dass die Busse mangels Busspuren im Verkehr steckenbleiben), nur dessen Beschilderungen in der Stadt und die digitalen Öffiplaner-Apps sind grottenschlecht.) Die Stadt sagt: Wenn dir etwas nicht gehört, dann hast du dort nichts verloren.
Das sagt auch der Highway: Die Express Lane ist für zahlende Kunden reserviert, nicht etwa für Busse oder Einsatzfahrzeuge. Ausnahmen gibt es immerhin für Fahrgemeinschaften.
Und auch Strassenfeste kosten Eintritt. Das sind Feste mit Volksfest- oder Flohmarkt-Charakter, also Events, die man besucht, um dort Geld auszugeben. Allerdings wird man vorher schon zur Kasse gebeten.
Genauso wie im Flugzeug: Sitzkategorien und Gepäck gegen Aufpreis ok, aber die Boarding-Reihenfolge? Für 15$ Aufpreis darf man nach Business Class, Militärangehörigen und anderen Priority-Gruppen und vor dem gemeinen Volk ins Flugzeug, mit dem Argument, mehr Zeit zu haben, um das Handgepäck zu verstauen.
Zumindest das Group 1 Boarding scheint nicht besonders beliebt zu sein. Kein Wunder. Schliesslich haben die gepäckbeladenen Fluggäste ja vorher auch schon 5$ für den Gepäckwagen bezahlt. Bezahlt, nicht als Kaution hinterlegt.
Das schafft Trennlinien und eine Dynamik, die noch deutlicher zwischen denen, die mitkönnen und denen, die es eben nicht mehr können, unterscheidet. Grenzen entstehen schneller und sind nicht mehr so leicht zu schliessen.

Die Verkaufsshow läuft. – Der Stern beklagte unlängst, dass sich Deutsche im Vergleich zu Österreichern immer unterverkaufen. Das ist aus Sicht des gelernten Österreichers, der Deutsche ja schon einmal grundsätzlich für großgoschert hält, lustig. Andererseits sagt es auch: Die einen sind unterverkauft, nicht die anderen überverkauft. Natürlich hat das eine Mengen an Gründen, die sich schon vom Kindergartenalter an entwickeln. Und es steigert die erzielbaren Preise. Was dabei aber offen bleibt: Die Preise wofür?
Ein Tag in den Universal Studios kostet 130$, und die Schlange an den Kassen wartet geduldig; neben der Hauptkasse gibt es noch die Sonderabfertigung für Jahreskartenbesitzer und die Expresskasse für Selbstbedienung per Kreditkarte. Ein Tag im wenige Kilometer entfernten Getty Center kostet nichts. Wobei auch das Getty Center in seiner Kommunikation nicht gerade schüchtern ist. “We preserve the world’s cultural heritage”, ist das Motto von Stiftung, Forschungseinrichtungen und Museum. Und es ist jetzt gar nicht so großgoschert, zu behaupten, dass die besseren Landschlösser in Europa kulturell eine größere Bandbreite abdecken als das Getty.
Was wird sonst so verkauft? – Fett, Salz, Zucker und eine Marketingindustrie, die sich als Technologie- und Innovationsbranche tarnt.
Und was mir zumindest neu war: Die USA haben wieder eine kommunistische Partei. Und auch die ist nicht nur eine kommunistische Partei, sondern die revolutionäre kommunistische Partei. Parteichef Bob Avakian tritt mit der Aura eines Gurus auf, und auch er verkauft seine Ideen: Die Ideen der kommunistischen Revolution gibt es in eigenen Revolutions-Buchgeschäften zu kaufen; das Personal dort wünscht dem Käufer dann alles Gute und viel Inspiration dabei, von den “tremendous improvements in humanity” zu lernen, die russische und chinesische Revolution mit sich gebracht haben. – Immerhin reden auch Leute wie Cornel West mit Avakian.
Und auch im Copyshop publizierte anarchistische Schriften kosten in den Anarcho-Shops in der Haight Street in San Francisco Geld – mehr als die Vervielfältigungskosten. Schliesslich sind auch Buchpräsentationen in den USA nicht kostenlos. Investor und Paypal-Mitbegründer Peter Thiel präsentierte in Santa Clara sein “Zero to One” mit gestaffelten Eintrittspreisen zwischen 25 und 55$ für das VIP-Package (inklusive Buch und Priority-Seating).
Und die Breakdancer an der Fisherman’s Wharf schaffen es ebenso 20$-Tips zu lukrieren wie die Obdachlosentanzcombo daneben, deren Geschäftsidee darin besteht, in Obdachlosenoutfits mit Obdachlosenmoves zu den Beats eines wahrscheinlich auch obdachlosen Schlagzeugers zu tanzen.

Der Reflex wäre ja, einfach nein zu sagen und Verkaufsshows zu verweigern. Denn die Frage, was wir eigentlich verkaufen wollen, bliebe dabei immer noch offen. Das Geschäftsmodell, einfach alles zu verrechnen, hat aber seinen Reiz. Allerdings auch seine Risiken: Buchpräsentationen in Europa setzen ja eher darauf, Gäste mit Geschenken oder Verlosungen anzulocken, statt sie zahlen zu lassen – weil sonst einfach gar niemand mehr kommt.
Die Idee, auf bargeldloses Wohlgefallen zu hoffen, ist allerdings genau so riskant. Wo nichts verlangt wird, wird nichts bezahlt. Und wo die Grenze zwischen „Das mach ich für Geld“ und „Das mache ich wirklich“ aufrecht bleibt, heisst es eigentlich:  Wer bezahlt, bekommt nicht die beste Qualität…

Die angebliche Gratismentalität, darauf möchte ich hinaus, ist kein Symptom eines Online-Zeitalters. Sie hat eher damit zu tun, dass wir viele Dinge als gratis empfinden, für die wir auf Umwegen (etwa über Steuern) zahlen. Wo es diese Umwege nicht gibt, wird eher direkt verrechnet. Wo es sie in abgewandelter Form gibt (wir zahlen für den Onlinezugang in Geld und für Werbung in Form von Zeit und Aufmerksamkeit), sinkt die Zahlungsbereitschaft wieder.
Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich schlicht Neid. Warum sollte man für etwas zahlen, das man selbst in ähnlicher Form gratis anbietet? – Die Einstellung verhindert aber, dass das Geld dorthin fliesst, wo man es selbst gern hätte. Oder umgekehrt: Die Idee, Geld dorthin zu lenken, wo es sein sollte, verhindert, dass es dorthin fliesst, wo es eigentlich nicht sein sollte (um für Schrott zu bezahlen). Was aber wieder voraussetzen würde, dass sich als daran halten. Auch wenn es sich am Anfang komisch anfühlt, so komisch eben, wie wenn man sich im Café in San Francisco jedes Mal vor dem Pinkeln beim Barista anmelden muss, damit den elektronischen Türöffner der Klotür öffnet. Aber man hat ja bezahlt…

Mobilisierung: Faulheit siegt

[su_dropcap]M[/su_dropcap]obilisiert sind wir schnell. Dummheiten, Hass oder der gute Zweck – eine Meinung ist schnell gebildet (oder eher bestätigt), genau so schnell ist sie publiziert, und dann auch wieder vergessen. Modernen Mobilisierungsformen macht das nichts aus – sie sind darauf angelegt, in aller Kurzfristigkeit zu funktionieren, nehmen die Streuverluste zwischen Aufmerksamkeit und Handlung in Kauf, und sie brauchen den User, also die Mobilisierten, nur sehr punktuell.
Grundsätzlich ist das auch nichts schlechtes – Organisationen arbeiten an ihren Themen, beziehen User dann ein, wenn es notwendig ist (wenn Geld gebraucht wird, Aufmerksamkeit für Entscheidungen benötigt wird), und dann gehen die Organisation und die Kurzzeit-Mobilisierten wieder ihrer Wege. Mobilisierung ist Marketing – die auf den einen Punkt oder Klick optimierte Customer Journey.
Problematisch wird das dann, wenn die Organisation nicht für die plötzliche Aufmerksamkeit gerüstet ist, oder wenn eigentlich langfristige Ziele verfolgt werden sollten. 

Plötzliche Aufmerksamkeit bedeutet eben nicht nur Wertschätzung. Irgendein Troll, der auf den ersten Blick nicht von einem Aufdecker zu unterscheiden ist (umgekehrt ist das genauso möglich), wird Hinweise finden, die die konkrete Arbeit der Organisation in Frage stellen. Am Beispiel der Icebucket-Challenge war das die konkrete Mittelverwendung der ALS-Foundation, die einen doch beträchtlichen Teil der Spenden für die Gehälter ihrer Funktionäre verwendet.
Langfristigkeit wird dann ein Problem, wenn aus Mobilisierung Überzeugung werden soll: Ein gutes Beispiel dafür sind politische Themen – schliesslich sollen mobilisierte User, die die eine oder andere Aktion etwa einer Partei unterstützen, dann auch zu Wählern werden. Jetzt ist es heute aber ohne weiteres denkbar und auch durchaus üblich, dass verschiedenste Aktionen unterstützt werden können, ohne dass dadurch eine Form von Bindung oder längerfristiger Beziehung entsteht. Die Mobilisierung muss nicht bis zu den nächsten Wahlen anhalten. Und Wahlen werden selbst zu einer Mobilisierungsfrage. Sie unterscheiden sich wenig von einer Icebucket-Challenge, es ist nur eine Frage des Zeitpunkts.

Mobilisiert, weil wir keinen anderen Grund haben

Hinter der großen Bedeutung von Mobilisierung heute steckt wahrscheinlich zum Teil auch die Tatsache, dass wir wenig andere Gründe zum Handeln haben. Überzeugungen und Prinzipien haben es angesichts der großen Auswahlmöglichkeiten schwer – wir können uns immer für das eine oder andere entscheiden und das auch argumentieren. Wir müssen auch nicht wirklich etwas – wenige unserer Handlungen sind existentiell notwendig. Und in einer nicht gerade leicht durchschaubaren Welt mit vielen unterschiedlichen Meinungen und Zusammenhängen kann es uns auch immer wieder passieren, dass die gut gemeinte Entscheidung einen Nebeneffekt bewirkt, den wir ganz und gar nicht wollten. – Also ist es auch immer der sicherste Weg, sich zurückzuhalten: Wer sich nicht bewegt, nacht nichts falsch. (Nochmal am Beispiel der Icebucket-Challenge: Pamela Anderson verweigerte die Unterstützung, weil sich die ALS Foundation in ihrer medizinischen Forschung nicht ausreichend von Tierversuchen distanziert. – Und nützte damit natürlich auch gleich die Energie der Challenge, um die entstandene Aufmerksamkeit auf eigene Themen zu lenken.)
Wir haben also eigentlich keinen Grund, überhaupt etwas zu tun, und gerade weil uns selten die Umstände zwingen, müssen wir mobilisiert sein, um zu handeln. Paradoxerweise wird Mobilisierung – die gewohnterweise immer von außen kommt – damit zur eigentlich wünschenswerten inneren Triebfeder: Es reicht nicht, etwas einfach nur zu tun; es reicht auch nicht, aus Überzeugung oder Wissen zu handeln. Wir müssen mobilisiert sein und einen höheren Zweck verfolgen.
Das gilt sogar für so banale und früher leicht kontrollierbare Bereiche wie Arbeit: Wo sich handwerklich produktiver Output noch leicht messen liess, ist Produktivität in Dienstleistung oder Wissenarbeit schwerer messbar. Der brauchbare und sozial erwünschte Mitarbeiter muss also nicht nur seinen Job machen – er muß engagiert und mobilisiert sein. Meinungsforscher und Personalberater wacheln drohend mit immer neuen Statistiken über das sinkende Engagement von Mitarbeitern quer über alle Branchen und Altersschichten und verkaufen auf der einen Seite Employee Engagement-Programme und auf der anderen Seite Bewerbungstrainings.
Wer nicht mobilisiert und engagiert ist, ist nicht vertrauenswürdig und erweckt nicht den Eindruck, als könnte er die allgemeinen Erwartungen erfüllen. “Wenn der Arbeitslose, der sich seine Piercings rausnimmt, zum Frisör geht und ‚Projekte’ macht, tatsächlich ‘an seiner Beschäftigungsfähigkeit arbeitet’, wie man so sagt, heißt das, dass er dadurch seine Mobilisierung bezeugt,“ schreibt das Autorenkollektiv „Unsichtbares Komitee“ in seinem Text „Der kommende Aufstand“ und möchte damit argumentieren, dass Mitarbeiter mobilisiert sein müssen – weil man sie eigentlich nicht mehr braucht. Sie müssen sich darum bewerben, eine Rolle spielen zu dürfen. Oder, wie es der Philosoph Byung Chul Han formuliert: “Neoliberalismus bezeichnet den Zustand der heutigen Gesellschaft sehr gut, denn es geht um die Ausbeutung der Freiheit. Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.”

Langweilen oder unterhalten – beides geht

Mobilisierung mit ihren 15 Seconds of Fame (ja, Seconds – es wird enger dort draußen…) ist ein Überzeugungs-Ersatz, der immer noch genug Raum für Distanz lässt: Man kann sich guten Gewissens Eis über den Kopf schütten und dafür Likes von Freunden sammeln, ohne sich über die Bonzen im ALS-Foundation-Vorstand ärgern zu müssen und ohne es sich mit Pamela Anderson zu verscherzen. Denn Mobilisierung ist nicht mit Überzeugung zu verwechseln – wir machen das ja nur für den guten Zweck, aber wir sind nicht mit allem einverstanden. Mit anderen Worten: Es ist uns ziemlich egal, was genau passiert. Aber wir können auch nicht einfach nein sagen. – Das ist dann effiziente Mobilisierung.

Während man sich im Rahmen gut angelegter Kampagnen noch über kurzfristige Mobilisierung freuen kann, zeichnen sich dort, wo es um längerfristige Entwicklungen geht, andere Taktiken ab. Politische Kampagnenmanager reden schon gern von Demobilisierung: Wenn es schon nicht möglich ist, die eigene Klientel für die eigenen Themen zu begeistern, dann soll es wenigstens der Klientel der anderen vermiest werden, sich für deren Themen zu begeistern. Die Politikwissenschaft nennt Angela Merkels Wahlkampf von 2009 als Paradebeispiel für Demobilisierung; Buzzwords wie „Modernisierung“ oder „alternativlos“ sind die sichersten Indizien, mit denen jede Bewegung möglichst ruhiggestellt werden soll. – Der Gegner wird bis zur Lähmung gelangweilt, verliert jede Angriffsfläche und hat kein Material mehr, um seine eigene Klientel zu mobilisieren. Das Ergebnis: Wir haben niemanden dazugewonnen, aber auch niemanden vergrault, die anderen haben auch niemanden gewonnen, aber vielleicht haben wir dem einen oder anderen die Lust verdorben, dagegen zu sein.
Der gute Zweck erfüllt den gleichen Effekt: So lange er nicht zu spitz formuliert ist (und damit Angriffsflächen bietet), kann sich niemand ernsthaft dagegen stellen. – Auch die Vorwürfe zur Spendenverwaltung oder zu den Tierversuchen der ALS-Foundation riefen eher nur achselzuckende No-Na-Reaktionen hervor.

Das größte NoGo: Erwarten, dass etwas passiert

Die Demobilisierungs-Taktik funktioniert nur dann gut, wenn Entweder-Oder-Entscheidungen anstehen. Wo viele Optionen einander nicht widersprechen, und wo die Beteiligung auf punktuelle Impulse komprimiert werden kann (klicken, Fotos posten, sich zum Kasperl machen), gibt es keinen Grund, sich mobilisierungsmäßig einzuschränken. Der User muss nur verstehen, was er tun soll. Und er wird, nachdem er sich ja trotzdem leicht distanzieren kann, keine Probleme haben, auch öfters mitzumachen.
Für Institutionen heisst das: Der Effekt ist eigentlich immer woanders. Auch bei noch so großem Zuspruch braucht es immer noch jemanden, der das eigentliche Ding dann durchzieht. Mobilisierte User machen nichts – sie äußern ja nur kurze Zustimmung und können dadurch ein Anliegen unterstützen oder einen Prozess beschleunigen.
Das größte NoGo ist also, von „mobilisierten“ Usern Wirkung oder nachhaltige Bewegung zu erwarten. Auch nach der größten Aufmerksamkeitswelle braucht es dann immer noch jemanden, der dann etwas mit dieser Aufmerksamkeit macht. Und bevor wir das jetzt Kultur- und politikpessimistisch als Sandkistenspielzeug für eine ewig junge Internetgeneration abtun: Auch die großen Buben und Mädchen, die in der formellen Politik spielen, wissen mit dem mobilisierten Bürger nichts anzufangen, wenn er etwas anderes macht, als sein Kreuzchen auf dem Vordruck zu hinterlassen. Petitionen und Bürgerinitiativen landen alle auf dem großen Partizipationsfriedhof; weitere Konsequenzen sind nicht vorgesehen. – Obwohl das in diesem Fall eigentlich jemandes Job wäre.

Fazit: Faulheit siegt. Es darf dem User nicht zu schwer gemacht werden, und es darf nicht von ihm verlangt werden, sich zu exponieren. Das ist vielleicht ein bisschen gegen die Intuition, aber der größte Konsens findet sich nicht dort, wo die meisten zustimmen, sondern wo die wenigsten dagegen sein können.

 

Das ist ein Beitrag zur aktuellen “twenty.twenty – Exploring the Future” Blogparade zu Mobilisierung; das Event dazu findet am 17.9. im Hub statt.

Digitale Bildung – “With great power comes great responsibility”

Ich habe ein Problem mit dem, was unter digitaler Bildung diskutiert wird. Für mich bedeutet das um einiges mehr, als einen Computer bedienen zu können, Mails schreiben, Facebookposts veröffentlichen oder Texte in eReader lesen zu können. Aber der Reihe nach.
Wofür braucht man jetzt diese digitalen Skills? – Darüber diskutierten gestern Vertreter der Nationalratsparteien auf Einladung der Telekom im neuen A1 Internet für alle Campus. Meinungen waren kaum vorhanden, Haltungen sehr unterschiedlich. Sie reichten von „Ich hoffe, ich muss das Wort digital nicht in den Mund nehmen“ (Walter Rosenkranz, FPÖ), „Die Digitalisierung ist die Zukunft, da brauchen wir uns gar nicht einmischen“ (Matthias Strolz, Neos), „Die Kinder bei mir im 15. spielen auch ohne iPad Fussball“ (Marco Schreuder) über „Den Kindern heute fehlt der Hausverstand“ (Brigitte Jank) bis zu „Man lernt in der Schule keine Teamarbeit“ (Christoph Matznetter, SPÖ). Natürlich war allen digitale Bildung sehr wichtig; schliesslich setzt es sich durch, dass das Buch als Leitmedium in der Wissensvermittlung langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät und andere Kanäle und Kulturtechniken effizienter sind.

Die Konzentration auf diesen Punkt ist mein Problem. Kulturtechniken sind kein Selbstzweck. Sie entstehen als Antwort auf bestimmte Herausforderungen und sind dann die Mittel, die zur Zeit eben am besten geeignet sind. Das Buch steht für kompaktes, reproduzierbares, mit Autorität versehenes und kontrolliertes Wissen. Es steht auch für Abgeschlossenheit und Vollständigkeit und ist Ausdruck des Bemühens, Ordnung in die Dinge zu bringen.
Digitale Techniken stehen für Unvollständigkeit, Beweglichkeit (sie sind selten abgeschlossen) und radikalisierte Reproduzierbarkeit, sie sind nicht kompakt und sie schaffen gerade erst ihre eigenen Autoritätsmechanismen. Damit muss man umgehen können, das muss man lernen; einverstanden.
Mit diesen Eigenschaften stehen digitale Techniken aber auch für einen anderen Zugang zur Welt: Sie erlauben es, Dinge auseinanderzunehmen, neu zusammenzubauen, erhöhen Reichweite und Kontaktmöglichkeiten, ermöglichen und erfordern Aktivität, drücken aufs Tempo und erhöhen mit all diesen Eigenschaften sowohl die Macht als auch die Abhängigkeit und die Verantwortung des einzelnen. Spiderman hat das am besten auf den Punkt gebracht: „With great power comes great responsibility“.
Damit das aber Macht wird (und nicht nur Abhängigkeit bleibt), ist aber viel zu lernen. Allerdings nicht in der Bedienung von Tablets, sondern im Selbstverständnis. Und das geht möglicherweise mit Taschenmesser und Schnur fast genauso gut wie mit Laptop und Tablet (natürlich ist beides notwendig).

Zwei immer wiederkehrende Beispiele, die ich nicht mehr hören kann, illustrieren das vielleicht ganz gut:

  • Menschen erzählen einander immer wieder begeistert, wie schnell und gern Kinder mit Smartphones spielen und wie schnell sie verstehen, dass mit Wischbewegungen zum nächsten Bild geblättert werden kann. Die Begeisterten nehmen als Indiz für das digitale Talent der Kinder (und die intuitive Bedienbarkeit der Geräte). – Es ist eine Nutzungsmöglichkeit der Devices. Ähnlich aussagekräftig, als würde man aus Buchseiten Papierflieger basteln oder sie einfach essen.
  • In der Schule dürfe man nicht abschreiben, im Berufsleben sei Teamarbeit wichtig, ist ein bildungspolitisches Bonmot; der Schüler werde für die Teamarbeit bestraft, der Chef für die Unterlassung der Teamarbeit (wenn er seine Entscheidungen nicht mit Experten abstimmt). Das Problem dabei: Die Entscheidungen eines Unternehmers sind zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung selten richtig oder falsch (von großen Dummheiten und Billigstbieterverfahren (ist das nicht das gleiche?) mal abgesehen). Sie wählen eine von mehreren Optionen – und müssen dann damit leben.

(Damit keine Missverständnisse aufkommen: Digitale Skills sind extrem wichtig (/). Einen sehr umfassenden Überblick dazu wird es im Herbst mit dem “Werde Digital“-Leitfaden geben. )

Böse Onkels im Klassenkampf

[su_dropcap]E[/su_dropcap]s wiederholt sich immer wieder: Die, die es damals nicht gemacht haben, erklären jenen, die es ihrer Meinung nach machen sollten, was sie machen sollen. – Es geht um Revolte, Aufstand, Protest, darum sich nichts mehr gefallen zu lassen. Übrig bleiben dann die dummen Kinder, die immer älter werden. Und eine Form von Rechthaberei, die vielleicht in die Jugendgruppe eines Pfarrhofs passt.
Der neueste Jugendgruppenleiter in dieser langen Tradition ist Manfred Klimek – und das in einem Ausmass, dass man ja glauben möchte, sein Facebook-Profil wäre Opfer eines komödiantischen Identitäts-Hijacks. Gesegnet mit den Insignien des zeitgenössischen Alterns (Weinfaible, Steuerschulden) erklärt er, wie Protest richtig funktioniert. Oder eigentlich: Was in Wien (im Vergleich zu Berlin) an Protestformen und Haltung fehlt.

Das hat irgendwo Methode. Mich erinnert das daran, als Josef Haslinger (es war irgendwann in den späten Neunzigern) Wiener Rappern vorwarf, in ihren Texten zu wenig systemkritisch zu sein. Oder daran, als die Spex bewundernd über Studentendemos in Wien schrieb (es war in den frühern Neunzigern) und diese für so viel lebendiger, politischer und subversiver hielt, als die deutschen Pendants (wer dabei war, wunderte sich). Oder auch an Wolfgang Schüssel und seine Prophezeiung von der Internetgeneration. Oder an die meinungsmutigen Chefredakteure und Herausgeber, die Leserchens dazu ermutigen, eine Meinung zu haben – aber bitte die richtige, nämlich die, die man in ihren Zeitungen liest, und dabei auch bitte immer schön höflich bleiben.
[su_pullquote align=”right”]Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere.[/su_pullquote]In allen Fällen werden Formen anstelle von Positionen kritisiert. Politik- und Meinungsfragen werden zu Fragen des guten Geschmacks und des richtigen Benehmens. Das hat manchmal eben traditionell gestriegelt zu sein, manchmal angemessen rotzig und althergebracht aufmüpfig – damit die Seiten immer schön klar sind und jeder auch bei der reinen Reduktion auf die Form und beim Verzicht auf die Inhalte immer gut erkennen kann, was da gerade läuft. Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere; unspannende Details können gerne vernachlässigt werden.

Ich halte gar nichts von einem Fatalismus, der alles für total komplex hält und den Spielraum des Einzelnen als eingeschränkt betrachtet. Auch das ist nur Selbstdisziplinierung. Aber ich halte auch nichts davon, Feindbilder auf das leicht Greifbare zu reduzieren, das uns auf der Strasse begegnet. Polizei und Justiz befolgen und exekutieren Gesetze – manchmal schlauer, manchmal weniger schlau. Beide Institutionen sind die falschen Adressaten, um das Ergebnis von Verfahren und Exekutivmassnahmen zu kritisieren.
Für deren Arbeit gibt es Regeln. Für die Institutionen, die die Rahmenbedingungen schaffen, auf die sich diese Regeln beziehen sollten, gibt es weit weniger Regeln.
[su_pullquote align=”right”]Das Recht bevorzugt immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen.[/su_pullquote]Dabei habe ich vor allem wirtschaftliche und die diesen zu Grunde liegenden finanzwirtschaftlichen Entwicklungen im Sinn. – Diese schaffen das Umfeld, auf das Politik reagieren zu müssen meint.
Wirtschaft heisst heute vor allem sparen. Das funktioniert lustigerweise auf allen Ebenen – sparen, um bessere Profite zu erzielen, um Jobs zu erhalten, um wachsen zu können. Die unternehmerische Sparsamkeit findet ihre Entsprechung in finanzpolitischen Instrumenten: Niedrigzinspolitik und Inflationsvermeidung sind Mittel, um den Status Quo zu erhalten – wer etwas hat, behält es, wer nichts hat, wird auch in absehbarer Zeit zu nichts kommen. So lange Geld teuer ist (also die Inflation niedrig), ist das gut für die, die es besitzen. Niedrige Zinsen wären zwar ein passendes Gegeninstrument, um Geld erschwinglich zu machen, und auch jenen entgegenzukommen, die Geld nur in negativer Form (also als Schulden) kennen, aber die Milchmädchenrechnung geht nicht auf: Niedrige Zinsen bedeuten, dass Schulden für Gläubiger kein gutes Geschäft mehr sind – umso kritischer sind sie natürlich bei der Vergabe neuer Finanzierungen. Vor allem, wenn das Geld, dank niedriger Inflation, ohnehin seinen Wert behält.
[su_pullquote align=”right”]”It’s hard to think of a reason for this other than class war.”[/su_pullquote]Auf der anderen Seite bedeuten niedrige Zinsen: Es wird immer wichtiger, mehr zu besitzen. Kleine Guthaben werden mit lächerlichen Prozentsätzen verzinst; größere Beträge können Konditionen verhandeln. Im Kombination mit langfristigen Bindungen bedeutet das: Wer mehr hat (und es nicht braucht), hat mehr davon und wächst schneller. Noch besser funktioniert das bei Renditen für andere Geschäfte, die nicht an traditionelle Bankprodukte gebunden sind. Thomas Piketty weist in seinem „Capital“ nach, dass das Kapitalwachstum langfristig und auch immer noch, trotz aller Krisenzeiten, bei 4-5 Prozent im europäischen Durchschnitt liegt. Angesichts aktueller Bankkonditionen ist damit klar: Es wächst anderswo schneller; vor allem dort, wo es noch höhere Einstiegshürden gibt – etwa in der Immobilienbranche.

Umgelegt auf das jüngste Polizei- und Proteststück in Wien, die Räumung der Pizzeria Anarchia, heisst das: Die Wertschöpfung diktiert die Möglichkeiten. Wir haben die perfekten Möglichkeiten für derartige Investitionen geschaffen. Die Renditechancen sind so hoch – und unvergleichlich höher als in anderen Feldern -, dass Eigentümer locker Wartezeiten, Leerstände und wahrscheinlich sogar Räumungskosten in Kauf nehmen können. So lange die Kapitalwachstumsraten deutlich über jenen des Wirtschaftswachstums liegen (auch das weist Piketty nach), bleibt das noch immer ein Geschäft. Und das Recht bevorzugt dabei noch immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen und währenddessen einfach mal was anderes macht.
Was bringen dann in diesem Zusammenhang das ironische Sich-Mokieren über ein paar hundert gelangweilte Polizisten oder der Aufruf, gefälligst im Widerstand etwas wilder zu sein? – Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, in solchen Fällen Beobachter vor Ort zu haben, über Hintergründe zu informieren und Verhältnismäßigkeiten in Frage zu stellen. Aber Polizei und Justiz schaffen ihre Rahmenbedingungen nicht selbst; fraglich ist, ob es überhaupt noch die Politik ist, die sie schafft.
In der Interviewserie „Power Systems – Conversations on Global Democratic Uprisings“ sagt Noam Chomsky über Sparpolitik, die ihre Grundlagen in der Zins- und Inflationspolitik der Europäischen Zentralpolitik findet: „It’s hard to think of a reason for this other than class war. The effect of the policies is to weaken the welfare-state measures and to reduce the power of labor. That’s class war. It’s fine for the banks, for financial institution, but terrible for the population.“
Deshalb ist die angemessenste Protestform vermutlich, nicht nur auf die Strasse zu gehen und Klischees zu erfüllen, sonder auch rechnen zu lernen und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Und klarzumachen, dass verstehen nicht immer einverstanden sein bedeutet.
Böse Onkels, die Protest und Subversion gern mit Körperflüssigkeiten verbinden, haben da vielleicht, wie wir alle, auch noch ein bisschen was zu lernen.