Michael Hafner
Man muss sich nicht mögen – “How Google Works”
[su_dropcap]I[/su_dropcap]ch hab die signierte Ausgabe. Ich weiß nicht, ob mir das ein paar Nerd-Glamour-Punkte verschafft; schließlich gabs die ganz unglamourös am Flughafen zu kaufen. Und „How Google Works“, das Buch von Ex-Google-CEO Eric Schmidt und Ex-Google-Head of Products Jonathan Rosenberg ist nette Fluglektüre. Bekanntes und Erwartbares, das aber natürlich dadurch faszinierend ist, dass es sich offensichtlich auch praktisch bewährt hat.
Es ist wenig neues drin, das man nicht schon über Google gehört hätte.
Ein merkwürdiger Aspekt ist trotzdem bei mir hängengeblieben. Schmidt und Rosenberg lassen keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass Recruiting die wichtigste Managementaufgabe ist. Die Auswahl der besonderen Typen, die aus eigenem Antrieb das Außergewöhnliche schaffen, die Wochenenden opfern, um Probleme zu lösen, die nicht ihre sind und die neue Wege suchen, anstatt Prozesse abzuarbeiten, ist natürlich die Kernfunktion einer Organisation, die Innovation als ihr Lebenselixier betrachtet. Und natürlich lese ich so etwas überkritisch und wahrscheinlich auch mit unangemessenen europäischen Maßstäben. Aber mich beschleicht immer wieder der Verdacht, dass diejenigen, die das Außergewöhnliche so ausdrücklich betonen, irgendwo selbst die langweiligsten Menschen sein müssen. Und dass Außergewöhnlichkeit ihren Rahmen braucht, das heisst Außergewöhnlichkeit existiert nur dann, wenn Gewöhnlichkeit vorausgesetzt wird. Google, sagen Schmidt und Rosenberg, schafft eine Unternehmenskultur, die aussergewöhnliche Menschen anzieht. Offensichtlich, um sich an und in einer Kultur messen zu können, in der im Inneren andere Regeln gelten, während sie ihre Umgebung nicht in Frage stellt.
Google hat kein funktionierendes Paid Service auf den Markt gebracht. Google hat Werbe-Abrechnungsmodelle verändert, aber nicht die Werbefinanzierung als Grundlage von Massendienstleistungen. Google-Services haben manchmal katastrophale Benutzerverwaltungsfunktionen und nie mehr als Me-Too Social-Komponenten. Aber Google-Services sind oft die Grundlage von vielem, das sich darauf aufbauen lässt (wenn sie dann nicht unvermittelt wieder abgedreht werden). Und niemand hat etwas besser funktionierendes hervorgebracht.
Ich wäre auch nicht so skeptisch, wenn Schmidt und Rosenberg in ihrem Text dann nicht doch häufig Stanford und andere Elite-Unis oder gar Mc Kinsey als ergiebige Recruiting-Quellen erwähnen würden.
Das Außergewöhnliche organisieren?
Ich habe weder etwas gegen gute Ausbildung noch gegen Google – nur gegen die inflationäre Verbreitung des Außergewöhnlichen. Das Außergewöhnliche, noch nie Dagewesene wird nicht in Organisationen stattfinden; es wird nicht dort stattfinden, wo mehr oder weniger trotz allem traditionelle Businessmodelle im Spiel sind. Ich glaube auch nicht, dass wir es lang suchen müssen – es findet täglich statt. Aber es passt nicht in Konzepte und Businessmodelle und hat keine Credits.
Und ich glaube nicht daran, dass Organisationen Außergewöhnlichkeit fördern können. Ich denke eher, dass die Festschreibung des Status „Außergewöhnlich“, in Verbindung mit dem impliziten Kochrezept „So wird auch Ihre Organisation außergewöhnlich“, den Blick auf das Außergewöhnliche verstellt, das noch kommen könnte. Und ich wundere mich über Außergewöhnliche, die sich dann mit Kinotickets und Nationalparkbesuchen auf Firmenkosten begeistern lassen (so beschreiben das Schmidt und Rosenberg). – Wahrscheinlich ist eher generell die Begeisterungsfähigkeit der grundlegende Unterschied. Manche Menschen lassen sich begeistern – und schätzen dann auch Kinotickets, bei anderen funktioniert das nicht. In Geld (zumindest gemessen an Gehältern der europäischen Kommunikationsbranche) ist auch der Unterschied zwischen „Ich mach eh“ und „Ich will machen“ nicht zu bezahlen.
Und ich nehme mal an, Schmidt und Rosenberg wissen das. Zumindest nennen sie als eines der KO-Kriterien bei ihrer Suche nach außergewöhnlichen und leidenschaftlichen Mitarbeitern die häufige Verwendung des Wortes „passionate“. Wenn jemand „passionate“ verwendet, um sich und seine Leidenschaft zu beschreiben, dann ist davon auszugehen, dass es mit seiner Leidenschaft nicht weit her ist – sonst würde er ja von seiner Leidenschaft reden…
Wenn es allerdings eine Unternehmenskultur schafft, diesen Trieb des „Ich will machen“ nicht zu behindern, dann ist das eine echt coole Errungenschaft. Und zugleich etwas sehr Unösterreichisches. Vielleicht ist es aber auch die Königsklasse der Manipulation – gegen die das Einfrieren von Eizellen auf Unternehmenskosten ein niedrigschwelliger Betriebsrats-Incentive ist.
Man muss sich nicht mögen
Außergewöhnlich, jetzt sage ich das auch mal, ist jedenfalls die von Schmidt und Rosenberg beschriebene Recruiting-Strategie, die vieles von dem, was wir über Führung glauben, auf den Kopf stellt: Interviews führen weder Personalspezialisten noch Manager, sondern Mitarbeiter – quer aus allen Bereichen und Hierarchieebenen. Sie sollen bewerten, ob der oder die Kandidat_in etwas drauf hat, ob er oder sie bei Google zurechtkommt, und ob sie mit Ja oder Nein stimmen würden. Interviews finden in mehreren Runden statt und werden in standardisierten Listen ausgewertet. Entschieden wird anhand der Daten. Auf jeden Fall nicht entschieden wird durch die Führungskraft, in deren Team der oder die Neue landen soll. Sympathie soll keine Rolle spielen (sondern eben die Daten), Teams, so Schmidt und Rosenberg, ändern sich zu schnell, und – man muss sich nicht mögen. Gut funktionierende Teams zeichnen sich für Schmidt und Rosenberg nicht durch die Chemie aus, sondern dadurch, dass jeder genug eigenen Antrieb hat, um selbst etwas tun zu wollen. Und die Rolle des Managers ist es nicht, für Harmonie und Wohlbefinden zu sorgen, sondern jedem den Spielraum zu geben, sich bewegen zu können.
Also ich find das so ja gemütlich…
Free to Pee – Freiheit und Geschäftsmodelle
Was man in ein paar Tagen in Kalifornien über Geschäftsmodelle lernen kann.
Ich mag Kalifornien. Wobei das eigentlich eine dumme Aussage ist; ein Konstrukt, das in der Phantasie jedes einzelnen anders ist, zu mögen, heisst ja genau genommen, seine eigene Vorstellung, oder schlicht sich selbst zu mögen. Und je allgemeiner das Konstrukt ist, desto schwerer fällt es, dieses dann auch bei näheren Kennenlernen noch zu mögen. – Ein paar willkürliche Notizen nach ein paar Tagen Kalifornien.
“Careless Lifestyle” war das Motto eines Luxusautovermieters am Sunset Boulevard in Los Angeles. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Übersetzungsfehler war oder eine eben wirklich ansprechende Beschreibung. Die orange, silber und gelb glitzernden Schlitten waren bunter als die Transformer-Camaro-Remakes, mit denen sich Touristenkinder am Hollywood Boulevard fotografieren lassen können.
Am nächsten Tag parkten einige dieser Autos vor einer Galerie im West Hollywood Design District. Was im L.A. Weekly wie eine Vernissage für dich und mich angekündigt war, war ein für L.A.-Verhältnisse wahrscheinlich mickriges Society-Event mit Men in Black an der Tür und roten Absperr-Kordeln davor. Ich bin trotzdem reingegangen, obwohl ich nach einem Tag zu Fuß in den Hollywood Hills aussah, als wäre ich eben zu Fuß von Las Vegas nach Los Angeles gegangen. Rausgeworfen hat mich niemand, aber spürbar war doch: Die Offenheit hat dort ihre Grenzen, wo Zugehörigkeitssymbole außer acht gelassen werden.
Das ist in diesem Fall nichts neues. Plakate im Shepard Fairey-Stil für John Wellington Ennis’ Film Pay 2 Play ziehen sich derzeit durch die USA. Wer mitreden will, so die These, muss zahlen. Der Film bezieht sich auf die Politik und den Einfluß mächtiger Lobbyisten.
Die Grenzen zwischen bezahlt und gratis ziehen sich aber durch weit mehr Bereiche.
Das merkt man eben etwa auf dem Weg zu Fuss durch Los Angeles: Es gibt kaum öffentliche Plätze und die meisten Straßen sind nicht dafür gemacht, sich durch sie zu bewegen. Es sind Wohngegenden, in denen der, dem dort nichts gehört, ein Ärgernis ist, und die für den, dem dort nichts gehört, ein Hindernis auf dem Weg sind. (Wobei es auch Unsinn ist, dass man in L.A. unbedingt ein Auto braucht – das ändert wenig an der Stadt. Und das öffentliche Verkehrsnetz ist gut (abgesehen davon, dass die Busse mangels Busspuren im Verkehr steckenbleiben), nur dessen Beschilderungen in der Stadt und die digitalen Öffiplaner-Apps sind grottenschlecht.) Die Stadt sagt: Wenn dir etwas nicht gehört, dann hast du dort nichts verloren.
Das sagt auch der Highway: Die Express Lane ist für zahlende Kunden reserviert, nicht etwa für Busse oder Einsatzfahrzeuge. Ausnahmen gibt es immerhin für Fahrgemeinschaften.
Und auch Strassenfeste kosten Eintritt. Das sind Feste mit Volksfest- oder Flohmarkt-Charakter, also Events, die man besucht, um dort Geld auszugeben. Allerdings wird man vorher schon zur Kasse gebeten.
Genauso wie im Flugzeug: Sitzkategorien und Gepäck gegen Aufpreis ok, aber die Boarding-Reihenfolge? Für 15$ Aufpreis darf man nach Business Class, Militärangehörigen und anderen Priority-Gruppen und vor dem gemeinen Volk ins Flugzeug, mit dem Argument, mehr Zeit zu haben, um das Handgepäck zu verstauen.
Zumindest das Group 1 Boarding scheint nicht besonders beliebt zu sein. Kein Wunder. Schliesslich haben die gepäckbeladenen Fluggäste ja vorher auch schon 5$ für den Gepäckwagen bezahlt. Bezahlt, nicht als Kaution hinterlegt.
Das schafft Trennlinien und eine Dynamik, die noch deutlicher zwischen denen, die mitkönnen und denen, die es eben nicht mehr können, unterscheidet. Grenzen entstehen schneller und sind nicht mehr so leicht zu schliessen.
Die Verkaufsshow läuft. – Der Stern beklagte unlängst, dass sich Deutsche im Vergleich zu Österreichern immer unterverkaufen. Das ist aus Sicht des gelernten Österreichers, der Deutsche ja schon einmal grundsätzlich für großgoschert hält, lustig. Andererseits sagt es auch: Die einen sind unterverkauft, nicht die anderen überverkauft. Natürlich hat das eine Mengen an Gründen, die sich schon vom Kindergartenalter an entwickeln. Und es steigert die erzielbaren Preise. Was dabei aber offen bleibt: Die Preise wofür?
Ein Tag in den Universal Studios kostet 130$, und die Schlange an den Kassen wartet geduldig; neben der Hauptkasse gibt es noch die Sonderabfertigung für Jahreskartenbesitzer und die Expresskasse für Selbstbedienung per Kreditkarte. Ein Tag im wenige Kilometer entfernten Getty Center kostet nichts. Wobei auch das Getty Center in seiner Kommunikation nicht gerade schüchtern ist. “We preserve the world’s cultural heritage”, ist das Motto von Stiftung, Forschungseinrichtungen und Museum. Und es ist jetzt gar nicht so großgoschert, zu behaupten, dass die besseren Landschlösser in Europa kulturell eine größere Bandbreite abdecken als das Getty.
Was wird sonst so verkauft? – Fett, Salz, Zucker und eine Marketingindustrie, die sich als Technologie- und Innovationsbranche tarnt.
Und was mir zumindest neu war: Die USA haben wieder eine kommunistische Partei. Und auch die ist nicht nur eine kommunistische Partei, sondern die revolutionäre kommunistische Partei. Parteichef Bob Avakian tritt mit der Aura eines Gurus auf, und auch er verkauft seine Ideen: Die Ideen der kommunistischen Revolution gibt es in eigenen Revolutions-Buchgeschäften zu kaufen; das Personal dort wünscht dem Käufer dann alles Gute und viel Inspiration dabei, von den “tremendous improvements in humanity” zu lernen, die russische und chinesische Revolution mit sich gebracht haben. – Immerhin reden auch Leute wie Cornel West mit Avakian.
Und auch im Copyshop publizierte anarchistische Schriften kosten in den Anarcho-Shops in der Haight Street in San Francisco Geld – mehr als die Vervielfältigungskosten. Schliesslich sind auch Buchpräsentationen in den USA nicht kostenlos. Investor und Paypal-Mitbegründer Peter Thiel präsentierte in Santa Clara sein “Zero to One” mit gestaffelten Eintrittspreisen zwischen 25 und 55$ für das VIP-Package (inklusive Buch und Priority-Seating).
Und die Breakdancer an der Fisherman’s Wharf schaffen es ebenso 20$-Tips zu lukrieren wie die Obdachlosentanzcombo daneben, deren Geschäftsidee darin besteht, in Obdachlosenoutfits mit Obdachlosenmoves zu den Beats eines wahrscheinlich auch obdachlosen Schlagzeugers zu tanzen.
Der Reflex wäre ja, einfach nein zu sagen und Verkaufsshows zu verweigern. Denn die Frage, was wir eigentlich verkaufen wollen, bliebe dabei immer noch offen. Das Geschäftsmodell, einfach alles zu verrechnen, hat aber seinen Reiz. Allerdings auch seine Risiken: Buchpräsentationen in Europa setzen ja eher darauf, Gäste mit Geschenken oder Verlosungen anzulocken, statt sie zahlen zu lassen – weil sonst einfach gar niemand mehr kommt.
Die Idee, auf bargeldloses Wohlgefallen zu hoffen, ist allerdings genau so riskant. Wo nichts verlangt wird, wird nichts bezahlt. Und wo die Grenze zwischen „Das mach ich für Geld“ und „Das mache ich wirklich“ aufrecht bleibt, heisst es eigentlich: Wer bezahlt, bekommt nicht die beste Qualität…
Die angebliche Gratismentalität, darauf möchte ich hinaus, ist kein Symptom eines Online-Zeitalters. Sie hat eher damit zu tun, dass wir viele Dinge als gratis empfinden, für die wir auf Umwegen (etwa über Steuern) zahlen. Wo es diese Umwege nicht gibt, wird eher direkt verrechnet. Wo es sie in abgewandelter Form gibt (wir zahlen für den Onlinezugang in Geld und für Werbung in Form von Zeit und Aufmerksamkeit), sinkt die Zahlungsbereitschaft wieder.
Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich schlicht Neid. Warum sollte man für etwas zahlen, das man selbst in ähnlicher Form gratis anbietet? – Die Einstellung verhindert aber, dass das Geld dorthin fliesst, wo man es selbst gern hätte. Oder umgekehrt: Die Idee, Geld dorthin zu lenken, wo es sein sollte, verhindert, dass es dorthin fliesst, wo es eigentlich nicht sein sollte (um für Schrott zu bezahlen). Was aber wieder voraussetzen würde, dass sich als daran halten. Auch wenn es sich am Anfang komisch anfühlt, so komisch eben, wie wenn man sich im Café in San Francisco jedes Mal vor dem Pinkeln beim Barista anmelden muss, damit den elektronischen Türöffner der Klotür öffnet. Aber man hat ja bezahlt…
Mobilisierung: Faulheit siegt
[su_dropcap]M[/su_dropcap]obilisiert sind wir schnell. Dummheiten, Hass oder der gute Zweck – eine Meinung ist schnell gebildet (oder eher bestätigt), genau so schnell ist sie publiziert, und dann auch wieder vergessen. Modernen Mobilisierungsformen macht das nichts aus – sie sind darauf angelegt, in aller Kurzfristigkeit zu funktionieren, nehmen die Streuverluste zwischen Aufmerksamkeit und Handlung in Kauf, und sie brauchen den User, also die Mobilisierten, nur sehr punktuell.
Grundsätzlich ist das auch nichts schlechtes – Organisationen arbeiten an ihren Themen, beziehen User dann ein, wenn es notwendig ist (wenn Geld gebraucht wird, Aufmerksamkeit für Entscheidungen benötigt wird), und dann gehen die Organisation und die Kurzzeit-Mobilisierten wieder ihrer Wege. Mobilisierung ist Marketing – die auf den einen Punkt oder Klick optimierte Customer Journey.
Problematisch wird das dann, wenn die Organisation nicht für die plötzliche Aufmerksamkeit gerüstet ist, oder wenn eigentlich langfristige Ziele verfolgt werden sollten.
Plötzliche Aufmerksamkeit bedeutet eben nicht nur Wertschätzung. Irgendein Troll, der auf den ersten Blick nicht von einem Aufdecker zu unterscheiden ist (umgekehrt ist das genauso möglich), wird Hinweise finden, die die konkrete Arbeit der Organisation in Frage stellen. Am Beispiel der Icebucket-Challenge war das die konkrete Mittelverwendung der ALS-Foundation, die einen doch beträchtlichen Teil der Spenden für die Gehälter ihrer Funktionäre verwendet.
Langfristigkeit wird dann ein Problem, wenn aus Mobilisierung Überzeugung werden soll: Ein gutes Beispiel dafür sind politische Themen – schliesslich sollen mobilisierte User, die die eine oder andere Aktion etwa einer Partei unterstützen, dann auch zu Wählern werden. Jetzt ist es heute aber ohne weiteres denkbar und auch durchaus üblich, dass verschiedenste Aktionen unterstützt werden können, ohne dass dadurch eine Form von Bindung oder längerfristiger Beziehung entsteht. Die Mobilisierung muss nicht bis zu den nächsten Wahlen anhalten. Und Wahlen werden selbst zu einer Mobilisierungsfrage. Sie unterscheiden sich wenig von einer Icebucket-Challenge, es ist nur eine Frage des Zeitpunkts.
Mobilisiert, weil wir keinen anderen Grund haben
Hinter der großen Bedeutung von Mobilisierung heute steckt wahrscheinlich zum Teil auch die Tatsache, dass wir wenig andere Gründe zum Handeln haben. Überzeugungen und Prinzipien haben es angesichts der großen Auswahlmöglichkeiten schwer – wir können uns immer für das eine oder andere entscheiden und das auch argumentieren. Wir müssen auch nicht wirklich etwas – wenige unserer Handlungen sind existentiell notwendig. Und in einer nicht gerade leicht durchschaubaren Welt mit vielen unterschiedlichen Meinungen und Zusammenhängen kann es uns auch immer wieder passieren, dass die gut gemeinte Entscheidung einen Nebeneffekt bewirkt, den wir ganz und gar nicht wollten. – Also ist es auch immer der sicherste Weg, sich zurückzuhalten: Wer sich nicht bewegt, nacht nichts falsch. (Nochmal am Beispiel der Icebucket-Challenge: Pamela Anderson verweigerte die Unterstützung, weil sich die ALS Foundation in ihrer medizinischen Forschung nicht ausreichend von Tierversuchen distanziert. – Und nützte damit natürlich auch gleich die Energie der Challenge, um die entstandene Aufmerksamkeit auf eigene Themen zu lenken.)
Wir haben also eigentlich keinen Grund, überhaupt etwas zu tun, und gerade weil uns selten die Umstände zwingen, müssen wir mobilisiert sein, um zu handeln. Paradoxerweise wird Mobilisierung – die gewohnterweise immer von außen kommt – damit zur eigentlich wünschenswerten inneren Triebfeder: Es reicht nicht, etwas einfach nur zu tun; es reicht auch nicht, aus Überzeugung oder Wissen zu handeln. Wir müssen mobilisiert sein und einen höheren Zweck verfolgen.
Das gilt sogar für so banale und früher leicht kontrollierbare Bereiche wie Arbeit: Wo sich handwerklich produktiver Output noch leicht messen liess, ist Produktivität in Dienstleistung oder Wissenarbeit schwerer messbar. Der brauchbare und sozial erwünschte Mitarbeiter muss also nicht nur seinen Job machen – er muß engagiert und mobilisiert sein. Meinungsforscher und Personalberater wacheln drohend mit immer neuen Statistiken über das sinkende Engagement von Mitarbeitern quer über alle Branchen und Altersschichten und verkaufen auf der einen Seite Employee Engagement-Programme und auf der anderen Seite Bewerbungstrainings.
Wer nicht mobilisiert und engagiert ist, ist nicht vertrauenswürdig und erweckt nicht den Eindruck, als könnte er die allgemeinen Erwartungen erfüllen. “Wenn der Arbeitslose, der sich seine Piercings rausnimmt, zum Frisör geht und ‚Projekte’ macht, tatsächlich ‘an seiner Beschäftigungsfähigkeit arbeitet’, wie man so sagt, heißt das, dass er dadurch seine Mobilisierung bezeugt,“ schreibt das Autorenkollektiv „Unsichtbares Komitee“ in seinem Text „Der kommende Aufstand“ und möchte damit argumentieren, dass Mitarbeiter mobilisiert sein müssen – weil man sie eigentlich nicht mehr braucht. Sie müssen sich darum bewerben, eine Rolle spielen zu dürfen. Oder, wie es der Philosoph Byung Chul Han formuliert: “Neoliberalismus bezeichnet den Zustand der heutigen Gesellschaft sehr gut, denn es geht um die Ausbeutung der Freiheit. Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.”
Langweilen oder unterhalten – beides geht
Mobilisierung mit ihren 15 Seconds of Fame (ja, Seconds – es wird enger dort draußen…) ist ein Überzeugungs-Ersatz, der immer noch genug Raum für Distanz lässt: Man kann sich guten Gewissens Eis über den Kopf schütten und dafür Likes von Freunden sammeln, ohne sich über die Bonzen im ALS-Foundation-Vorstand ärgern zu müssen und ohne es sich mit Pamela Anderson zu verscherzen. Denn Mobilisierung ist nicht mit Überzeugung zu verwechseln – wir machen das ja nur für den guten Zweck, aber wir sind nicht mit allem einverstanden. Mit anderen Worten: Es ist uns ziemlich egal, was genau passiert. Aber wir können auch nicht einfach nein sagen. – Das ist dann effiziente Mobilisierung.
Während man sich im Rahmen gut angelegter Kampagnen noch über kurzfristige Mobilisierung freuen kann, zeichnen sich dort, wo es um längerfristige Entwicklungen geht, andere Taktiken ab. Politische Kampagnenmanager reden schon gern von Demobilisierung: Wenn es schon nicht möglich ist, die eigene Klientel für die eigenen Themen zu begeistern, dann soll es wenigstens der Klientel der anderen vermiest werden, sich für deren Themen zu begeistern. Die Politikwissenschaft nennt Angela Merkels Wahlkampf von 2009 als Paradebeispiel für Demobilisierung; Buzzwords wie „Modernisierung“ oder „alternativlos“ sind die sichersten Indizien, mit denen jede Bewegung möglichst ruhiggestellt werden soll. – Der Gegner wird bis zur Lähmung gelangweilt, verliert jede Angriffsfläche und hat kein Material mehr, um seine eigene Klientel zu mobilisieren. Das Ergebnis: Wir haben niemanden dazugewonnen, aber auch niemanden vergrault, die anderen haben auch niemanden gewonnen, aber vielleicht haben wir dem einen oder anderen die Lust verdorben, dagegen zu sein.
Der gute Zweck erfüllt den gleichen Effekt: So lange er nicht zu spitz formuliert ist (und damit Angriffsflächen bietet), kann sich niemand ernsthaft dagegen stellen. – Auch die Vorwürfe zur Spendenverwaltung oder zu den Tierversuchen der ALS-Foundation riefen eher nur achselzuckende No-Na-Reaktionen hervor.
Das größte NoGo: Erwarten, dass etwas passiert
Die Demobilisierungs-Taktik funktioniert nur dann gut, wenn Entweder-Oder-Entscheidungen anstehen. Wo viele Optionen einander nicht widersprechen, und wo die Beteiligung auf punktuelle Impulse komprimiert werden kann (klicken, Fotos posten, sich zum Kasperl machen), gibt es keinen Grund, sich mobilisierungsmäßig einzuschränken. Der User muss nur verstehen, was er tun soll. Und er wird, nachdem er sich ja trotzdem leicht distanzieren kann, keine Probleme haben, auch öfters mitzumachen.
Für Institutionen heisst das: Der Effekt ist eigentlich immer woanders. Auch bei noch so großem Zuspruch braucht es immer noch jemanden, der das eigentliche Ding dann durchzieht. Mobilisierte User machen nichts – sie äußern ja nur kurze Zustimmung und können dadurch ein Anliegen unterstützen oder einen Prozess beschleunigen.
Das größte NoGo ist also, von „mobilisierten“ Usern Wirkung oder nachhaltige Bewegung zu erwarten. Auch nach der größten Aufmerksamkeitswelle braucht es dann immer noch jemanden, der dann etwas mit dieser Aufmerksamkeit macht. Und bevor wir das jetzt Kultur- und politikpessimistisch als Sandkistenspielzeug für eine ewig junge Internetgeneration abtun: Auch die großen Buben und Mädchen, die in der formellen Politik spielen, wissen mit dem mobilisierten Bürger nichts anzufangen, wenn er etwas anderes macht, als sein Kreuzchen auf dem Vordruck zu hinterlassen. Petitionen und Bürgerinitiativen landen alle auf dem großen Partizipationsfriedhof; weitere Konsequenzen sind nicht vorgesehen. – Obwohl das in diesem Fall eigentlich jemandes Job wäre.
Fazit: Faulheit siegt. Es darf dem User nicht zu schwer gemacht werden, und es darf nicht von ihm verlangt werden, sich zu exponieren. Das ist vielleicht ein bisschen gegen die Intuition, aber der größte Konsens findet sich nicht dort, wo die meisten zustimmen, sondern wo die wenigsten dagegen sein können.
Das ist ein Beitrag zur aktuellen “twenty.twenty – Exploring the Future” Blogparade zu Mobilisierung; das Event dazu findet am 17.9. im Hub statt.
Digitale Bildung – “With great power comes great responsibility”
Ich habe ein Problem mit dem, was unter digitaler Bildung diskutiert wird. Für mich bedeutet das um einiges mehr, als einen Computer bedienen zu können, Mails schreiben, Facebookposts veröffentlichen oder Texte in eReader lesen zu können. Aber der Reihe nach.
Wofür braucht man jetzt diese digitalen Skills? – Darüber diskutierten gestern Vertreter der Nationalratsparteien auf Einladung der Telekom im neuen A1 Internet für alle Campus. Meinungen waren kaum vorhanden, Haltungen sehr unterschiedlich. Sie reichten von „Ich hoffe, ich muss das Wort digital nicht in den Mund nehmen“ (Walter Rosenkranz, FPÖ), „Die Digitalisierung ist die Zukunft, da brauchen wir uns gar nicht einmischen“ (Matthias Strolz, Neos), „Die Kinder bei mir im 15. spielen auch ohne iPad Fussball“ (Marco Schreuder) über „Den Kindern heute fehlt der Hausverstand“ (Brigitte Jank) bis zu „Man lernt in der Schule keine Teamarbeit“ (Christoph Matznetter, SPÖ). Natürlich war allen digitale Bildung sehr wichtig; schliesslich setzt es sich durch, dass das Buch als Leitmedium in der Wissensvermittlung langsam aber sicher ins Hintertreffen gerät und andere Kanäle und Kulturtechniken effizienter sind.
Die Konzentration auf diesen Punkt ist mein Problem. Kulturtechniken sind kein Selbstzweck. Sie entstehen als Antwort auf bestimmte Herausforderungen und sind dann die Mittel, die zur Zeit eben am besten geeignet sind. Das Buch steht für kompaktes, reproduzierbares, mit Autorität versehenes und kontrolliertes Wissen. Es steht auch für Abgeschlossenheit und Vollständigkeit und ist Ausdruck des Bemühens, Ordnung in die Dinge zu bringen.
Digitale Techniken stehen für Unvollständigkeit, Beweglichkeit (sie sind selten abgeschlossen) und radikalisierte Reproduzierbarkeit, sie sind nicht kompakt und sie schaffen gerade erst ihre eigenen Autoritätsmechanismen. Damit muss man umgehen können, das muss man lernen; einverstanden.
Mit diesen Eigenschaften stehen digitale Techniken aber auch für einen anderen Zugang zur Welt: Sie erlauben es, Dinge auseinanderzunehmen, neu zusammenzubauen, erhöhen Reichweite und Kontaktmöglichkeiten, ermöglichen und erfordern Aktivität, drücken aufs Tempo und erhöhen mit all diesen Eigenschaften sowohl die Macht als auch die Abhängigkeit und die Verantwortung des einzelnen. Spiderman hat das am besten auf den Punkt gebracht: „With great power comes great responsibility“.
Damit das aber Macht wird (und nicht nur Abhängigkeit bleibt), ist aber viel zu lernen. Allerdings nicht in der Bedienung von Tablets, sondern im Selbstverständnis. Und das geht möglicherweise mit Taschenmesser und Schnur fast genauso gut wie mit Laptop und Tablet (natürlich ist beides notwendig).
Zwei immer wiederkehrende Beispiele, die ich nicht mehr hören kann, illustrieren das vielleicht ganz gut:
- Menschen erzählen einander immer wieder begeistert, wie schnell und gern Kinder mit Smartphones spielen und wie schnell sie verstehen, dass mit Wischbewegungen zum nächsten Bild geblättert werden kann. Die Begeisterten nehmen als Indiz für das digitale Talent der Kinder (und die intuitive Bedienbarkeit der Geräte). – Es ist eine Nutzungsmöglichkeit der Devices. Ähnlich aussagekräftig, als würde man aus Buchseiten Papierflieger basteln oder sie einfach essen.
- In der Schule dürfe man nicht abschreiben, im Berufsleben sei Teamarbeit wichtig, ist ein bildungspolitisches Bonmot; der Schüler werde für die Teamarbeit bestraft, der Chef für die Unterlassung der Teamarbeit (wenn er seine Entscheidungen nicht mit Experten abstimmt). Das Problem dabei: Die Entscheidungen eines Unternehmers sind zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung selten richtig oder falsch (von großen Dummheiten und Billigstbieterverfahren (ist das nicht das gleiche?) mal abgesehen). Sie wählen eine von mehreren Optionen – und müssen dann damit leben.
(Damit keine Missverständnisse aufkommen: Digitale Skills sind extrem wichtig (/). Einen sehr umfassenden Überblick dazu wird es im Herbst mit dem “Werde Digital“-Leitfaden geben. )
Böse Onkels im Klassenkampf
[su_dropcap]E[/su_dropcap]s wiederholt sich immer wieder: Die, die es damals nicht gemacht haben, erklären jenen, die es ihrer Meinung nach machen sollten, was sie machen sollen. – Es geht um Revolte, Aufstand, Protest, darum sich nichts mehr gefallen zu lassen. Übrig bleiben dann die dummen Kinder, die immer älter werden. Und eine Form von Rechthaberei, die vielleicht in die Jugendgruppe eines Pfarrhofs passt.
Der neueste Jugendgruppenleiter in dieser langen Tradition ist Manfred Klimek – und das in einem Ausmass, dass man ja glauben möchte, sein Facebook-Profil wäre Opfer eines komödiantischen Identitäts-Hijacks. Gesegnet mit den Insignien des zeitgenössischen Alterns (Weinfaible, Steuerschulden) erklärt er, wie Protest richtig funktioniert. Oder eigentlich: Was in Wien (im Vergleich zu Berlin) an Protestformen und Haltung fehlt.
Das hat irgendwo Methode. Mich erinnert das daran, als Josef Haslinger (es war irgendwann in den späten Neunzigern) Wiener Rappern vorwarf, in ihren Texten zu wenig systemkritisch zu sein. Oder daran, als die Spex bewundernd über Studentendemos in Wien schrieb (es war in den frühern Neunzigern) und diese für so viel lebendiger, politischer und subversiver hielt, als die deutschen Pendants (wer dabei war, wunderte sich). Oder auch an Wolfgang Schüssel und seine Prophezeiung von der Internetgeneration. Oder an die meinungsmutigen Chefredakteure und Herausgeber, die Leserchens dazu ermutigen, eine Meinung zu haben – aber bitte die richtige, nämlich die, die man in ihren Zeitungen liest, und dabei auch bitte immer schön höflich bleiben.
[su_pullquote align=”right”]Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere.[/su_pullquote]In allen Fällen werden Formen anstelle von Positionen kritisiert. Politik- und Meinungsfragen werden zu Fragen des guten Geschmacks und des richtigen Benehmens. Das hat manchmal eben traditionell gestriegelt zu sein, manchmal angemessen rotzig und althergebracht aufmüpfig – damit die Seiten immer schön klar sind und jeder auch bei der reinen Reduktion auf die Form und beim Verzicht auf die Inhalte immer gut erkennen kann, was da gerade läuft. Diskussionen werden so zum intellektuellen Wet-T-Shirt-Contest: Es geht nur noch darum, gut dazustehen und besser auszusehen als der andere; unspannende Details können gerne vernachlässigt werden.
Ich halte gar nichts von einem Fatalismus, der alles für total komplex hält und den Spielraum des Einzelnen als eingeschränkt betrachtet. Auch das ist nur Selbstdisziplinierung. Aber ich halte auch nichts davon, Feindbilder auf das leicht Greifbare zu reduzieren, das uns auf der Strasse begegnet. Polizei und Justiz befolgen und exekutieren Gesetze – manchmal schlauer, manchmal weniger schlau. Beide Institutionen sind die falschen Adressaten, um das Ergebnis von Verfahren und Exekutivmassnahmen zu kritisieren.
Für deren Arbeit gibt es Regeln. Für die Institutionen, die die Rahmenbedingungen schaffen, auf die sich diese Regeln beziehen sollten, gibt es weit weniger Regeln.
[su_pullquote align=”right”]Das Recht bevorzugt immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen.[/su_pullquote]Dabei habe ich vor allem wirtschaftliche und die diesen zu Grunde liegenden finanzwirtschaftlichen Entwicklungen im Sinn. – Diese schaffen das Umfeld, auf das Politik reagieren zu müssen meint.
Wirtschaft heisst heute vor allem sparen. Das funktioniert lustigerweise auf allen Ebenen – sparen, um bessere Profite zu erzielen, um Jobs zu erhalten, um wachsen zu können. Die unternehmerische Sparsamkeit findet ihre Entsprechung in finanzpolitischen Instrumenten: Niedrigzinspolitik und Inflationsvermeidung sind Mittel, um den Status Quo zu erhalten – wer etwas hat, behält es, wer nichts hat, wird auch in absehbarer Zeit zu nichts kommen. So lange Geld teuer ist (also die Inflation niedrig), ist das gut für die, die es besitzen. Niedrige Zinsen wären zwar ein passendes Gegeninstrument, um Geld erschwinglich zu machen, und auch jenen entgegenzukommen, die Geld nur in negativer Form (also als Schulden) kennen, aber die Milchmädchenrechnung geht nicht auf: Niedrige Zinsen bedeuten, dass Schulden für Gläubiger kein gutes Geschäft mehr sind – umso kritischer sind sie natürlich bei der Vergabe neuer Finanzierungen. Vor allem, wenn das Geld, dank niedriger Inflation, ohnehin seinen Wert behält.
[su_pullquote align=”right”]”It’s hard to think of a reason for this other than class war.”[/su_pullquote]Auf der anderen Seite bedeuten niedrige Zinsen: Es wird immer wichtiger, mehr zu besitzen. Kleine Guthaben werden mit lächerlichen Prozentsätzen verzinst; größere Beträge können Konditionen verhandeln. Im Kombination mit langfristigen Bindungen bedeutet das: Wer mehr hat (und es nicht braucht), hat mehr davon und wächst schneller. Noch besser funktioniert das bei Renditen für andere Geschäfte, die nicht an traditionelle Bankprodukte gebunden sind. Thomas Piketty weist in seinem „Capital“ nach, dass das Kapitalwachstum langfristig und auch immer noch, trotz aller Krisenzeiten, bei 4-5 Prozent im europäischen Durchschnitt liegt. Angesichts aktueller Bankkonditionen ist damit klar: Es wächst anderswo schneller; vor allem dort, wo es noch höhere Einstiegshürden gibt – etwa in der Immobilienbranche.
Umgelegt auf das jüngste Polizei- und Proteststück in Wien, die Räumung der Pizzeria Anarchia, heisst das: Die Wertschöpfung diktiert die Möglichkeiten. Wir haben die perfekten Möglichkeiten für derartige Investitionen geschaffen. Die Renditechancen sind so hoch – und unvergleichlich höher als in anderen Feldern -, dass Eigentümer locker Wartezeiten, Leerstände und wahrscheinlich sogar Räumungskosten in Kauf nehmen können. So lange die Kapitalwachstumsraten deutlich über jenen des Wirtschaftswachstums liegen (auch das weist Piketty nach), bleibt das noch immer ein Geschäft. Und das Recht bevorzugt dabei noch immer den, der es sich leisten kann, die Rechtsprechung auszusitzen und währenddessen einfach mal was anderes macht.
Was bringen dann in diesem Zusammenhang das ironische Sich-Mokieren über ein paar hundert gelangweilte Polizisten oder der Aufruf, gefälligst im Widerstand etwas wilder zu sein? – Nicht falsch verstehen: Es ist wichtig, in solchen Fällen Beobachter vor Ort zu haben, über Hintergründe zu informieren und Verhältnismäßigkeiten in Frage zu stellen. Aber Polizei und Justiz schaffen ihre Rahmenbedingungen nicht selbst; fraglich ist, ob es überhaupt noch die Politik ist, die sie schafft.
In der Interviewserie „Power Systems – Conversations on Global Democratic Uprisings“ sagt Noam Chomsky über Sparpolitik, die ihre Grundlagen in der Zins- und Inflationspolitik der Europäischen Zentralpolitik findet: „It’s hard to think of a reason for this other than class war. The effect of the policies is to weaken the welfare-state measures and to reduce the power of labor. That’s class war. It’s fine for the banks, for financial institution, but terrible for the population.“
Deshalb ist die angemessenste Protestform vermutlich, nicht nur auf die Strasse zu gehen und Klischees zu erfüllen, sonder auch rechnen zu lernen und wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Und klarzumachen, dass verstehen nicht immer einverstanden sein bedeutet.
Böse Onkels, die Protest und Subversion gern mit Körperflüssigkeiten verbinden, haben da vielleicht, wie wir alle, auch noch ein bisschen was zu lernen.
Pizza für alle – Pizzeria Anarchia wird geräumt
[su_dropcap]E[/su_dropcap]igentum ist ja immer ein Problem. Vor allem, wenn man das, was man besitzt, so wenig braucht, dass man es dauerhaft anderen überlässt, die dann dafür bezahlen sollen. – Oder auch nicht bezahlen, wie es ursprünglich in der Geschichte der Pizzeria Anarchia der Fall war: Hausbesitzer quartieren Punks, Anarchisten, oder wie man es auch nennen möchte, in einem teilweise leerstehenden Haus ein – in der Hoffnung, so meint man, diese würden im Lauf der Zeit die verbliebenen regulären Mieter aus dem Haus ekeln.
Das Gegenteil war der Fall – man vertrug sich gut, hatte wenig Ärger mit der Umgebung, und dachte dann nicht mehr daran, das Haus aufzugeben.
Das schon lange erlassene Räumungsurteil wurde heute durchgesetzt. Über die Zahl der eingesetzten Polizisten wussten offenbar diese selbst nicht so genau bescheid – von bis zu 1700 war die Rede, es waren jedenfalls viele. Und es wurden immer mehr.
Im Lauf des Vormittags haben sich dann auch viele Schaulustige und Anrainer versammelt. Was auffällt: Die meisten schüttelten den Kopf. Kaum einer zeigte sich erleichtert, dass jetzt endlich Ordnung einkehrt; manchen war anscheinend noch gar nicht aufgefallen, dass sie bis jetzt in der Nachbarschaft eines besetzten Hauses gewohnt hatten. Vereinzelte „Der Hitler hätt a Bombn reingeworfen und a Ruh is“-Sager, kamen nicht von Harald Vilimsky. Und ältere Damen zeigten sich eher um die Hausbesetzer als die Hausbesitzer besorgt.
Schön, wenn sich das Kapitalwachstum so viel leichter sichern lässt, als das Wirtschaftswachstum. Und selten hat man so schön gesehen, um welchen Preis…
Und die Sache mit dem Eigentum? Darauf komme ich später noch mal zurück.
Lederhosen, Gendern, gesunder Rausch – so lustig ist es in Österreich
Manchmal ist es ja großartig, nicht nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sonst müsste ich mich ja jetzt über vorgebliche Gender-Mafiosi, dumpfbackige Landeier und den gesunden Rausch ärgern. Das Kolumnisten-Dasein ist sicher kein leichtes – von nichts eine Ahnung, aber zu allem eine Meinung, und die noch schön formulieren. Und sich darauf verlassen, dass die Kolumne von gestern heute eh niemanden mehr interessiert. Ich hab den Fehler gemacht, mal eine Woche lang viel Meinungsmut (vorrangig den aus den Alphamedien) zu lesen. Das ist schwer verdaulich. – Und beim Lesen dieses Christian Ortner-Kommentars habe ich mich – bevor ich bei der Autorenzeile angelangt bin – ernsthaft gefragt, ob Michael Jeannée auf Grund seiner jüngsten publizistischen Leistungen jetzt auch für die Presse schreibt.
Aber zurück zu Landeiern, Lederhosen, Gendern und Drogen. Sagenhaft ergiebige Kolumnisten-Themen.
Fangen wir mit den Landeiern an: Seit sich ein volkstümelnder Städter, der auch ein bisschen singt, nicht getraut hat, die österreichische Hymne richtig zu singen, ergehen sich die urbansten Kolumnisten und Leitartikler in sagenhaftem Schwachsinn über die angeblichen dunklen Tendenzen des Landlebens.
Auch Städte haben ihre Prater-Domes und Lugners, und auch Tara und Moni geben sich schliesslich sehr urban. Und hat nicht auch Mundl Sackbauer in zumindest einer Folge einen Lederhosen-Auftritt hingelegt?
Der kalte Schauer läuft mir weniger bei ländlichen Feuerwehr- und anderen Zeltfesten über den Rücken, eher angesichts von urbanen Wiesenfesten, deren Gäste sich wohlig in Retro-Gedankenlosigkeit wälzen und sich am nächsten Tag ohnehin wieder ganz anders geben. Das Problem ist ja nicht die Tracht (die es, anscheinend muss das auch gesagt werden, schon lange vor ihrer politischen Belastung gab), sondern die damit einhergehende Reproduktion von Klischees, die Macht und Bedeutung verleiht – obwohl natürlich alle immer darauf pochen, dass das nicht wirklich so ist. Wir machen nur mit, gerade weil wir drüber stehen. Mit aufwendig dekorierten Poloshirts oder Hemden mit ultrasteifen Krägen und Manschetten funktioniert das – im übrigen im urbanen Umfeld – ja genauso gut. Mode ist oft ein sehr einfacher Weg, um zu zeigen: „Ich denke nicht“.
Und genau deshalb wäre es ja auch schön, wenn die Gestaltung von Plattencovers und anderen Marketingmaterialien wirklich so reflektiert vonstatten ginge, dass jede mögliche Anspielung einer Pose oder eines Fotos gründlich analysiert würde – dann gäbe es wohl weit weniger prekäre Kreative oder arbeitslose Kulturwissenschaftlerinnen.
Und was „Deutsche, Italiener und Japaner“ betrifft: Schaut doch einfach mal in die österreichische Motorrad-Zulassungsstatistik. Dort hat zwar KTM die Nase vorne, auf den Plätzen der noch relevanten Marktanteile über 5 Prozent folgen Honda, Vespa, Yamaha und BMW. (Und um das gleich klarzustellen: Mein Motorrad ist aus China. Also möglicherweise diktatorisch vorbelastet, aber hoffentlich faschismusfrei. Und es ist ein Einsitzer… Obwohl: Gerade habe ich festgestellt, dass einige Schraubenköpfe unerklärlicherweise mit „88“ beschriftet sind… omg!) Bemerkens- und kritisierenswert wäre daran eher der Retro-Touch, der ein Bild aus den Siebzigern vermittelt – die Formulierung könnte von meiner Großmutter stammen (die, als Deutsche, im übrigen immer der Meinung war, “dass ‘die Italiener’ ‚uns’ verraten haben“).
Dann die Genderei: Ich habe mir lange wenig Gedanken über das Gendern von Texten gemacht. Auch heute finde ich es manchmal noch holprig, manchmal funktioniert es mit dem Binnen-I in allen Varianten schlicht nicht. Allerdings hat die durchschnittliche Anzahl von Tipp- und Rechtschreibfehlern (vor allem in Online-Zeitungen) meines Erachtens einen weit gewichtigeren negativen Einfluss auf die deutsche Sprache.
Aber seit ich mein erstes Magazin in der Schlussredaktion durchgehend gegendert habe (aus Platzgründen oft mit „_i“ statt mit ausformulierten männlichen und weiblichen Bezeichnungen), kann ich sehr wohl sagen, dass diese „i“ großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Texten hat: Den Vorspann für eine Story, in der keine Frauen explizit vorkommen, zu gendern, macht erst mal bewusst, dass hier keine Frauen vorkommen. Und umgekehrt erinnert das Gendern von weiblich dominierten Geschichten daran, dass das kein Frauen-Thema ist, sondern eines, in dessen Aufbereitung jetzt eben mal Frauen die Hauptrolle spielen.
Warum gehört das hierher? – Das Hymnen-Drama hat mit der Ausblendung einer weiblichen Formulierung begonnen und sehr schnell zu einem „Das war immer schon so“ und „mir san mir“-Status geführt. Dazu mischen sich Argumente wie „moderne starke Frauen brauchen keine Sonderbehandlung“, und Formulierungen wie „unsere Frauen“ (wem gehören die noch mal?) oder „geschätzte Damenwelt“ – was in meinen Ohren ziemlich gleichlautend ist mit „ich grapsche gern“.
Und jetzt rückt eine neue Phalanx, flankiert von Intellektuellen, aus und schlägt in die gleiche Kerbe. Ich halte selten viel von Normierungen, und das durchgehende Gendern mit Wortanhängseln funktioniert nicht immer, aber trotzdem muss doch klar sein, dass es hier weniger um Sprache als um Macht geht.
Mein Anti-Gender-Lieblingsargument – „Haben wir keine anderen Sorgen?“ – bringt seine Antwort gleich mit. Nein, haben wir nicht. Denn es geht hier um Bildung und Haltung, und diese sind Grundvoraussetzungen für ein freies und selbstbestimmtes Leben für möglichst viele Menschen.
Die Haltung drückt sich nicht durch die normgerechte Verwendung des Binnen-I aus, sondern durch die Anerkennung der dahinter liegenden Anliegen. Stattdessen vorauszusetzen, dass Disziplinierung und Selbstkontrolle so weit verinnerlicht sind, dass jeder und jede aus eigenem Antrieb sagen muss „Ich brauche das nicht“, ist Zeichen eines ähnlichen Gruppenbildungsreflexes wie das urbanisierte Tragen von Lederhosen, natürlich vollkommen gesinnungsfrei: Wir machen das, gerade weil wir, befreit von allen Klischees, darüberstehen – aber trotzdem nur dort, wo es alle machen. (An diesem Punkt muss ich immer daran denken, wie mich meine Eltern in den späten Siebziger-Jahren mit Lederhosen in eine englische Volksschule geschickt haben, völlig kontextfrei also. Nicht mit den coolen knielangen, sondern mit Hotpants im Ziegenpeter-Style. Glaubt mir, das war ein exotischer Auftritt – und Abhärtung fürs Leben.)
Und dass sich jemand auch wehren könnte, ist kein Grund, dem- oder derjenigen gleich das Leben schwerer zu machen und einen Grund zur Gegenwehr zu geben. Aber ich ernte ja auch immer noch erstaunte Blicke, wenn ich auf diversen Business-Events oder -Galas (Veranstaltungen, bei denen Macht im Spiel ist) zu späterer Stunde, wenn Hüftgreif-Ausleger ausgefahren werden, zugegebenermaßen völlig humorlos anmerke, dass ich glaube, dass nicht alle Frauen darauf stehen. – Ich bin immer seltener dort.

Und dann, das ist nur eine Randbemerkung, die entfernt auch zum Thema passt, taucht noch der gesunde Rausch wieder auf: “Wer will denn schon rauschfrei durchs Leben gehen?”, fragt der berühmte Videoblogger Robert Misik.
Der öffentliche Rausch ist ungefähr so weit Privatsache wie das Hantieren mit verklausulierten Nazi-Anspielungen oder demonstrative Anti-Gender-Positionen: Es bereitet die große Wohlfühl-Bühne vor, auf der wir all unsere Unzulänglichkeiten rechtfertigen können. Die Verharmlosung reduziert den Horizont, nach dem wir uns strecken müssen: “Macht doch nichts”, denkt sich der Alki, “siehst du, die saufen auch alle und es ist etwas aus ihnen geworden.” “Bin ich jetzt wirklich so empfindlich”, denkt sich der Angehörige des Alkis, der sich wieder mal für dessen Ausfälle entschuldigt hat und dessen Aussetzer zu kompensieren versucht, “wahrscheinlich muss ich nur ein bisschen entspannter sein und nicht so kleinlich.“ – „Mach doch nichts“, denken sich Gender-Gegner und -Gegnerin, „Das Binnen-I will ja eh keiner wirklich.“ „Muss ich jetzt wirklich um etwas streiten, das mir persönlich egal sein kann?“, fragen sich Betroffene.
Sportreporter, die siegreiche Sportler dazu nötigen, zu sagen, dass sie jetzt aber schon einen über den Durst trinken werden, hantieren mit der gleichen Anti-Stalinismus-Keule wie die Gender-Phobiker mit ihren „Diktatur“-Rufen. Irgendwie würde ich jetzt gern Putin fragen, was er davon hält.
Saufen tamma alle gern – da trifft sich der intellektuelle urbane Kolumnist mit dem rustikalen Opfer seiner Gesinnungskritik wieder. – Das ist mir ehrlich egal, Prost, meinetwegen; spannender ist: Hier treffen einander auch die Argumentationsmuster wieder. „Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Volkstümler, und weiss die Mehrheit hinter sich. “Man wird doch wohl noch dürfen“, raunzt der Intellektuelle und weiss die Mehrheit (inklusive der Volkstümler) ebenfalls hinter sich. – Die Position wird mit ein bisschen Ironie gewürzt, damit sie bloß nicht zu einer Haltung verkocht, und als natürlich in keiner Weise unreflektiert garniert – „wir wissen eh…”. Bloß: Machtfragen bleiben unberührt, und wir drehen uns immer schön im Kreis.
Wer will schon immer korrekt sein, wo Sexismus, Nationalismus und Alkohol doch so lustig sein können? – Eh niemand. Ein bisschen weniger dämlich würde reichen. Und schliesslich müssen wir ja zuspitzen, um weiter so lustige Kolumnen schreiben zu können. Des Lohns der Unterhaltsamkeit wegen auf Inhalte zu verzichten – tja, das ist eben Business.
Und weil wir uns stattdessen lieber ohne Haltung im Kreis drehen, gehen jetzt auch ein paar hundert Leute einer Organisation rund um abendländisches Kulturgut, die im übrigen vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes skeptisch beäugt wird und deren Vorstandsmitglieder in Turnerbund und FPÖ engagiert sind, unhinterfragt auf den Leim und unterstützen deren Binnen-I-Attacken. Bravo, und viel Spass dabei…!
Und weils etwas komplizierter geworden ist, hier noch die Zusammenfassung für Eilige:
Jemand gendert nicht, weil es seiner volkstümlichen Seele widerspricht. – „Nazi!”, „Landei!“, sagen die einen.
Andere gendern, weil sie sich gegen die volkstümliche Seele richten. – „Diktatur!“, „Stalinisten!“, sagen die anderen.
Und dann sagen alle: „Man wird doch wohl noch dürfen…“
Also so kommen wir nicht weiter. Vielleicht wollen wird das ja gar nicht. – Dann sollten wir’s halt auch einfach so sagen…