Interview: Stefan Kaltenbrunner – “In Österreich ist man ja schnell der Weltmeister…”

Datum-Chefredakteur Stefan Kaltenbrunner über seine Liebe zum Reportagejournalismus, drei Jahre als Datum-Chef, die Chancen von Paid Content, die Bedeutung digitaler Line Extensions, seinen Hang zum Tourette-Twittern und seine Sicht auf die Zukunft des Journalismus: “Um gute Geschichten machen zu können, wird man immer noch rausgehen müssen und mit den Leuten reden.”


der-karl.com: Du bist seit drei Jahren hier der Chef, hast vorher für die Medien im News-Verlag geschrieben – wie fühlt sich dein Job im Unterschied an, was ist an der Arbeit bei Datum anders als bei News oder E-Media?

Stefan Kaltenbrunner: Das kann ich gar nicht sagen. Das ist nicht vergleichbar, das sind journalistisch andere Welten. Aber ich hatte immer die Möglichkeit auch für andere Medien Geschichten zu machen, deshalb war das dann keine Überraschung.

der-karl.com: Was macht Datum aus, warum hast du einen gut bezahlten Job aufgegeben, um noch mal bei einem ganz kleinen Magazin anzufangen? Und warum sollen Leser Datum kaufen?

Stefan Kaltenbrunner: Wir halten das journalistische Handwerk hoch. Wir machen Geschichten zum Lesen, und als Reportagemagazin sind wir nach wie vor in Österreich einzigartig. Das ist, was ich immer machen wollte. In unsere Texte wird viel Aufwand investiert: Wir haben einen exzellenten Textchef, gute Lektoren, und wir nehmen uns Zeit für Autoren. Eine Reportage geht bei uns durch mehrere Instanzen, bis sie als fertig gilt. Mir ist diese Qualität im Handwerk wichtig, und den Lesern garantiert das gute Geschichten aus neuen Blickwinkeln. Niemand hat heute zu wenig Information, es ist immer eine Frage der Selektion. Qualität ist unsere Nische, die immer funktionieren wird. Wobei wir nicht nur auf schöne Worte setzen, sondern in erster Linie auf journalistische Sorgfalt: Unsere Autoren müssen zum Beispiel ausführliche Rechercheprotokolle mitliefern. Das ist für deutsche Journalisten selbstverständlich, viele Redakteure hier hören das dann von uns zum ersten Mal. Wir lassen natürlich auch alle Interviews autorisieren.
Auf den ersten Blick ist das natürlich mehr Arbeit für Redakteure, aber man gewöhnt sich dran – und schätzt das dann auch als gutes Mittel zur Selbstkontrolle, das letztlich beim Erzählen mehr Sicherheit vermittelt.

“Wir müssen auch nach acht Jahren noch jeden Monat ums Leiberl laufen.”

 

der-karl.com: Als vor zwei Jahren mein Datum-Abo ausgelaufen ist, habe ich einen Brief in deinem Namen bekommen. Der war sehr demütig und bescheiden formuliert. Tenor: Wir wissen, dass wir noch viel verbessern müssen, aber wir möchten trotzdem noch ein Abo verkaufen. Das unterscheidet sich doch sehr vom Auftreten anderer Magazine und Herausgeber. Warum, und wie siehst du das heute?

Stefan Kaltenbrunner: Wir wissen einfach, wo wir stehen. Wir brauchen jeden unsere Leser. Das Heft gibt es jetzt sei acht Jahren und obwohl wir relativ gut dastehen, müssen wir immer noch jeden Monat ums Leiberl laufen. Das Heft wird nach wie vor privat finanziert, das ist mitunter nicht einfach. Wir haben mittlerweile zwei fixe Redakteure und eine Menge freier Mitarbeiter, die alle bezahlt werden müssen. Wir haben keinen großen Verlag im Hintergrund der das finanziert. Große Klappe ist also nicht drin. In dem Sinn: Ja, so ein Brief ist anders. Aber ich bin dafür, die Wahrheit auszusprechen.

der-karl.com: Wie entwickelt sich das Produkt jetzt, wo siehst du die Stärken?

Stefan Kaltenbrunner: Wir drucken aktuell 10.000 Stück, wir haben 2.500 zahlende Abonnenten und unsere iPad-Ausgabe wird 8 bis 10.000 Mal downgeloadet. Wir haben jetzt täglich aktuellen Content online und kommen damit auf 60- bis 70.000 Unique Clients im Monat.Das ist eine kleine, aber solide Basis, die mir zeigt, dass wir unsere Nische gut ausfüllen. Gut recherchierte und gut geschriebene Geschichten – das ist ein Manko in Österreich. Deshalb werden wir den Grundcharakter unseres Hefts nicht ändern.
Obwohl wir bei der bescheidenen Größe natürlich darauf angewiesen sind, viele Chancen zu nutzen. Dass wir unsere iPad-App selbst entwickeln und daraus über unsere Tochterfirma auch Dienstleistungen für andere Medienunternehmen anbieten können – wie News oder Profil – hilft zum Beispiel sehr. Neben der Qualität ist unsere Stärke sicher auch, dass wir Themen setzen. Aktualität ist für uns kein Kriterium, dafür sind unsere Produktionszeiträume zu lang. Wir suchen Themen mit gesellschaftlicher, politischer Relevanz, zu denen wir dann die besten Geschichten machen. Das gelingt uns, wenn ich mir die Zitierungen in letzter Zeit anschaue, ganz ordentlich.

der-karl.com: Manchmal hat man den Eindruck, Datum wäre das einzige österreichischen Medium, dessen Autoren international ausgezeichnet werden. Warum ist das so, und woher bekommst du Autoren-Nachschub?

Stefan Kaltenbrunner: Andere bekommen auch Preise, wir sind da nicht allein. Viele Redakteure kommen über Praktika zu uns, wir arbeiten dann mit ihnen. Manchmal haben sie schon geschrieben, oft kommen sie auch von FHs, Unis oder anderen Journalismuskursen. An den FHs gibt es sicher auch gute Leute, aber das echte Lernen fängt dann in der Redaktion an.

Qualitätsjournalismus: “In Österreich ist man schnell der Weltmeister. International betrachtet relativiert sich das aber sehr schnell..”

 

Ich war selber auch einmal in einem Journalismuskurs, aber nach einem halben Tag wollte ich eigentlich mein Geld zurück. Das war ein Lehrgang an der Donauuni in Krems mit Peter Lingens, und ich habe einfach nicht verstanden, worum es dabei gehen soll. Für mich war das halt nichts… Aber ich will niemanden davon abhalten, ich bin mir sicher, dass es auch gute Klassen gibt.
Ein guter Datum-Redakteur hat vor allem ein Gespür für Geschichten. Wir brauchen Leute, denen es leicht fällt, zu erkennen, dass gute Geschichten auf der Straße liegen, die ein Thema mit Konsequenz und Ehrgeiz recherchieren können. Und sie müssen auch selbstbewusst genug sein, um damit umgehen zu können, dass eine Geschichte drei oder vier Mal zurückgewiesen wird, bis sie ins Heft kommt. Wir bringen viele Geschichten auch nicht, wenn sie nicht unseren Standards entsprechen oder wenn das Thema dann doch nicht genug hergibt. – Wer damit umgehen kann, ist jederzeit bei uns willkommen.
Ich empfehle den Leuten auch immer, über den Tellerrand zu schauen. Raus aus Österreich, internationale Magazine lesen – das ist wichtig, um die eigene Qualität einschätzen zu können. In Österreich ist man schnell mit ein paar guten Geschichten Weltmeister. Wenn man sich dann aber das Niveau etwa der Einreichungen beim Axel Springer Preis, den einer unserer Autoren im vergangenen Jahr gewonnen ha7, anschaut, relativiert sich das sehr schnell.

der-karl.com: Was ist eigentlich dein Job im Verlag und bei der Heftproduktion?

Stefan Kaltenbrunner: Ich bin der Frühstücksdirektor… Leider komme ich selbst nur noch wenig zum Schreiben, ich konzipiere die aktuellen Ausgaben, redigiere die Texte, vertrete das Heft und den Verlag nach außen, kümmere mich um Details in der Produktion. Der Job ist ehrlich gesagt intensiver als ich gedacht hatte. Ich habe das Heft ja nicht geplant übernommen, und wollte ursprünglich nur zwei, drei Produktion machen. Aber jetzt bin ich noch immer hier, und habe nicht vor, das zu ändern. Ab und zu kommen Angebote rein, aber dabei war noch nichts, das mich wirklich interessiert hätte.

der-karl.com: Wie ist euer Verhältnis zu Anzeigenkunden und wie stark spürst du Druck aus Werbung und Politik?

Stefan Kaltenbrunner: Anzeigenkunden lieben uns! Aber sie buchen wenig… Bei unserer Größe ist Verkaufen natürlich schwer. Agenturen, die es gewohnt sind, nach Tausender-Kontaktpreisen zu buchen, fragen uns bei unseren Preisen, ob wir blöd sind. Aber wir haben eben nicht nur ein gutes Heft, sondern eine gute Zielgruppe, die sonst schwer zu erreichen ist. Es gibt kaum einen Entscheidungsträger, der Datum nicht liest.Verkaufen ist zwar bei uns nicht leicht, aber mit zunehmender Heftpräsenz geht das doch immer besser. Da helfen natürlich Geschichten, die dann anderswo intensiv zitiert werden, oder auch zusätzliche Kanäle wie die iPad-Ausgabe, die für mehr Kontakt mit dem Heft und unseren Themen sorgen.
Druck aus der Politik spüren wir sehr stark und sehr schnell. Das kommt gleichmäßig aus allen Richtungen, je nachdem, an welchen Geschichten wir gerade dran sind. Ich weiß von direkten Interventionen aus der Politik bei Unternehmen, die bei uns inserieren wollten.

“Politische Interventionen spüren wir sehr schnell und direkt.”

 

So etwas trifft natürlich kleine Verlage wie uns viel schneller und härter. Bei den großen Verlagen verhindern oft langfristige Verträge ein schnelles Aussteigen, außerdem überlegen sich die Inserenten dann noch mal, ob sie nicht doch die Zielgruppe noch brauchen, und selbst wenn dann einmal wirklich ein paar Inserate gestrichen werden – dann merkt es der Verlag erst mal gar nicht wirklich.
Man muss sich auch bewusst sein, dass Konsequenzen aus den Inseratenaffären und den neuen Regelungen für politische Inserate erst einmal uns kleine Verlage treffen. Ich bin natürlich für Offenheit, Transparenz und strenge Richtlinien, aber das bedeutet eben oft, das zuerst bei uns gespart wird.
Das ist aber noch gar nichts im Vergleich zur Presseförderung. Wir bekommen gar nichts, keine Presse- oder Publizistikförderung, es gibt keine Grundlage, die auf uns anwendbar wäre. Wenn dagegen Magazine, die noch nie etwas für Journalistennachwuchs getan haben, Ausbildungsförderungen bekommen, finde ich das wirklich fragwürdig, und dass große Verlage Vertriebsförderungen bekommen, halte ich wirklich für skandalös. Und worum man sich in der Politik bei Wettbewerb, Chancengleichheit und Förderungen jetzt genau Sorgen macht, verstehe ich auch nicht. Nicht ganz klar ist auch, dass man lieber ein Twitter- und Facebook-Verbot für den ORF diskutiert, anstatt sich für die Medienvielfalt in Österreich einzusetzen. Und dazu gehören eben auch kleinere und unabhängige Magazine.

der-karl.com: Wie wichtig sind für Kleine weitere Produkte und Kanäle neben dem eigentlichen Heft?

Stefan Kaltenbrunner: Die Webseite war in der Geschichte des Verlags immer schon wichtig und ist jetzt gut etabliert. Wir veröffentlichen aktuellen Content und nach und nach immer auch alle Inhalte der Printausgabe, manchmal noch mit zusätzlichen Interviews oder Fotos, die im gedruckten Heft keinen Platz gefunden haben.Zusätzlich haben wir unsere Blogger, die Inhalte liefern, die es nicht überall anders auch gibt, sei es über das Leben in Kiewoder über Bier – der Bier-Blog geht übrigens erstaunlich gut. Blogger haben bei ihren Themen mehr Freiheit, unterliegen bei der Qualität der Inhalte aber den gleichen Prozessen wie Autoren für die Print-Ausgabe.
Ganz wichtig ist natürlich das iPad. Die iPad-Ausgabe ist eines unserer wichtigsten Marketinginstrumente. Hier werden wir auch noch einige Neuerungen bringen. Als Vorboten gibt es zum Beispiel schon eine Auswahl der besten Motor-Stories aus acht Jahren Datum. Andere digitale Line Extensions werden folgen. Wir arbeiten auch bereits an Kindle-Ausgaben mit den besten Reportagen oder den besten Fotos – und da wird es sicher nichts gratis geben.

Medientrends? “Rausgehen und mit Leuten reden, das kann noch lange durch nichts ersetzt werden”

 

der-karl.com: Die iPad-Ausgabe ist gratis, alle Heftinhalte sind online wenn auch zeitverzögert, aber doch gratis abrufbar – hältst du Paid Content nicht für möglich?

Stefan Kaltenbrunner: Content muss Geld kosten. Ich glaube auch, dass die Zahlungsbereitschaft der Leser da ist – es muss nur irgendwer damit anfangen – und keiner will der erste sein.
Wir wollten unsere iPad-App mit Anfang der Jahres kostenpflichtig machen, haben dann aber doch noch einen Sponsor gefunden, der das ganze Jahr finanziert hat. Natürlich haben wir überlegt, beide Einnahmequellen zu nutzen – aber das zeigt auch ganz gut das Problem von Paid Content: Sobald wir Geld verlangen, wird die Zahl der User dramatisch sinken, das ist klar. Und wenn wir statt 10.000 nur noch 1.000 Downloads im Monat haben, ist das auch für Anzeigenkunden wieder uninteressant. Da tun sich große Verlage wieder einmal leichter: Wenn die Userzahl von 100.000 auf die Hälfte einbricht, ist das immer noch eine verkaufbare Größe.Trotzdem wird da wahrscheinlich nicht einer vorpreschen, im Idealfall sollte das organisiert passieren. Wenn alle wichtigen Herausgeber beschließen, jetzt Geld zu verlangen, dann gibt es keine Alternative mehr. Aber das ist natürlich Utopie.
Persönlich zahle ich für sehr vieles, ich lade auch keine Filme oder Musik illegal herunter – ich will das nicht und das ist mir zu aufwändig. Convenience ist ein sehr starkes Verkaufsargument, daran müssen wir uns orientieren.

der-karl.com: Wie wichtig sind für ein Magazin Social Media und andere digitale Trends?

Stefan Kaltenbrunner: Wir nützen Facebook, Twitter und andere Netzwerke, aber der Nutzen ist schwer messbar. Sicher ist das auch ein wichtiger Promotion-Channel, aber für den Dialog mit den Lesern sind bei uns offenbar noch immer Mail und Leserbrief wichtiger.Persönlich bin ich eher ein Tourette-Twitterer und mache mich schnell unbeliebt – andere haben da mehr Talent.Was mich am meisten davon abhält, Medien wie Facebook als Kanal für unsere Inhalte zu nutzen, ist die Frage der Abhängigkeit: Wem gehört das Medium dann, wie schnell müssen wir auf Änderungen des Plattformbetreibers reagieren? Wir beobachten das und spielen ein bisschen mit, genauso wie beim Datenjournalismus. Auch das ist ein spannendes Thema, das sich noch entwickeln kann, wobei ich gerade was Reportagen als unser Herzstück betrifft, überzeugt bin: Um gute Geschichten zu machen muss man einfach rausgehen, etwas erleben, und mit Leuten reden. Das kann noch lange durch nichts ersetzt werden.

Trailer: Surfing the Wild East

Die Idee, einen Bus voll Surfer zu packen und sie nicht nach Kalifornien, Mexiko, Brasilien oder Portugal zu bringen, sondern nach Aserbaidschan, hat was. “Surfing the Wild East” war eines der ersten Filmprojekte, die ich via Crowdfunding (Startnext war die Plattform) unterstützt habe. Ich fand die Idee gut, Osteuropa und Zentralasien mal mit was anderem zu verbinden als mit Armut, Folklore, Mafia und Wodka. Auch das Schwarze Meer hat mächtige Wellen.


Die Dreharbeiten von Blick ins Freie begannen Ende September des vorigen Jahrs, der Film ist jetzt fertig und wird als 24-Minuten-Doku am 1. März veröffentlicht. Hier gibt es den Trailer als Preview – Baku hat cooleres zu bieten als den Songcontest.

Poetry Slam – Julian Heun, Lassmann

Ich kannte Julian Heun nicht. Seinen Records zufolge eine Bildungslücke. Gestern habe ich ihn live gesehen – und tja…, der “Lassmann” ist echt alles, wovor sich ein Mann fürchtet: “… Verpasste Möglichkeiten ziehen wie Kunstfliegerformationen in einem Looser-L vorüber, all die Frauen, die ich mich nicht anzusprechen getraut habe ziehen in einer Reihe an mir vorbei, all die Eierköppe, die ich nicht Eierköppe genannt habe, ziehen in einer anderen Reihe an mir vorbei, dann küssen die Frauen die Eierköppe und die verpassten Möglichkeiten fliegen als Herzformation darüber… “. Hier in voller Länge.



Kurt Kuch im Interview: “Warum ist es dir nicht einfach wurscht?”

Kurt Kuch, stellvertretender Chefredakteur von “News”, Chefreporter und Ressortleiter der Innenpolitik spricht im Interview mit der-karl.com über ein Leben als Aufdecker zwischen politischem Druck, Medienberatern, gezielten Fehlinformationen, seinen Spass am Spürsinn, die Nostalgie burgenländischer Discos und die Angst des Enthüllungsjournalisten vor dem Leger.

 


der-karl.com: Du bist seit 16 Jahren Journalist, seit Oktober Chefreporter und stellvertretender Chefredakteur bei News und aktuell der Aufdecker der Nation. – Warum ist Dir nicht einfach wurscht, was ein Grasser, Gorbach, Hochegger, Mödlhammer, und wie sie heissen, machen?

Kurt Kuch: Ich habe einfach noch immer einen Heidenspass an meiner Arbeit. Es macht mir Freude, den Dingen nachzuspüren – und es melden sich ja immer wieder Freiwillige, die wie von selbst aufzeigen und die besten Geschichten liefern. Manche betteln direkt darum, all ihre Fehler und fragwürdigen Handlungen im Magazin zu lesen – vor allem wenn sie versuchen, eine Ebene höher zu intervenieren, oder wenn sie versuchen, unterzutauchen und nicht zurückrufen. Mir fällt da eine Geschichte aus dem Hochegger-Zusammenhang ein: Ich habe in den Akten entdeckt, dass ein ehemaliger Telekom-Manager insgesamt 500.000 € für Diverses an Hochegger gezahlt hat, während umgekehrt ausgerechnet die Frau dieses Managers mit 21.000 € auf der Liste der von Hochegger bezahlten Leute stand. Ich wollte eigentlich nur wissen, was die Leistung der Dame war. Der Betroffene hat genau den Fehler gemacht, in der Chefredaktion anzurufen – und dann gibt’s natürlich Kleinholz, obwohl er dort eh auf Granit gebissen hat. Er hat mich nicht zurückgerufen – daraufhin habe ich alle Mitarbeiter der Pressestelle seines aktuellen Arbeitnehmers angerufen, jedem, der gefragt hat, worum es denn geht, bereitwillig erklärt, dass ich etwas über ihn im Strafakt der Telekom-Affäre gelesen habe und auch seine Assistentin ausführlich informiert. Wenn jemand ein so schlechtes Gewissen hat, dass er selbst in solchen Situationen noch untertauchen will, dann macht es mir schon richtig Freude, alles ans Licht zu bringen.

“Wenn jemand eine Etage höher zu intervenieren versucht- dann gibt’s natürlich so richtig Kleinholz.”

 

Noch schöner ist es natürlich, wenn Geschichten im großen Stil aufgehen. Gestern zum Beispiel (18.1., Anm.) war ich schon um 6 Uhr auf und um 8 im Büro, weil ich es nicht mehr erwarten habe können, die Vorab-Aussendungen zu Telekom und Co zu machen.
Ich habe auf Facebook schon mal vorangekündigt, dass etwas passieren wird, ein bisschen getwittert – und dann wars endlich so weit. Um 11.30 waren die Aussendungen draussen (“Telekom sponserte Grassers Roadshow”, “Rote und schwarze Politiker auf Hochegger-Payroll”, “960.000 Telekom Euro für BZÖ-Wahlkampf 2006”) – und es ist wirklich gleich rundgegangen. Dinge anzuzünden, und mich dann mal für eine Stunde zurückzulehnen und zuzusehen, wie alles explodiert, wie Anwälte, Fernsehstationen und andere Medien anrufen, das genieße ich schon sehr.
Dazu kommt noch, dass wir ja in Österreich bei Enthüllungen an akuter Themenverfehlung leiden: Der Großteil der Diskussion dreht sich nie um die Frage “Was ist genau passiert und welche Konsequenzen muss es jetzt geben?”, sondern vor allem um die Frage “Wie konnte das bloß an die Öffentlichkeit kommen?” – Allein deshalb werde ich sicher nicht müde.

der-karl.com: Spaß ist ein Argument. Aber der Großteil der handelnden Personen sind noch da, Konsequenzen sind rar. Hast du das Gefühl, dass deine Arbeit etwas bringt?

Kurt Kuch: Auf jeden Fall. Ich richte mich ja nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen Probleme in unseren politischen und sozialen Systemen.
Da gibt es durchaus Erfolgsstories. Ich bin ja auch innerhalb der Redaktion praktisch ausgelacht worden, weil ich mich so lange für die erweiterten Prüfkompetenzen des Rechnungshofs bei Gemeinden eingesetzt habe. Das klingt uncool, ist aber neben dem Bankgeheimnis und den EU-Direktförderungen für Bauern eines der größten Mysterien der Gegenwart. Früher durfte der Rechnungshof nur Gemeinden mit mehr als 20.000 Einwohnern prüfen – der überwiegende Teil der österreichischen Gemeinden liegt aber unter dieser Grenze.

“Jeden Mittwoch ein paar Dinge anzünden und mich dann zurücklehnen und den Explosionen rundherum zusehen – das macht mir schon Freude… “

 

Und allein an der Heftigkeit der Reaktionen war leicht zu erkennen, dass das ein großes Thema ist: Der Präsident des Gemeindeverbands hat persönliche Briefe an alle Betroffenen Bürgermeister geschrieben und sie aufgefordert, jede Form der Zusammenarbeit mit unserem Verlag einzustellen. – Das war natürlich wieder eine freiwillige Meldung, die mich erst richtig munter macht.
Fazit: Die Änderung ist gekommen, jetzt kann weit mehr geprüft werden. Ich denke schon, dass es sich auszahlt, hartnäckig bei der Sache zu bleiben.

der-karl.com: Gibt es etwas, das dich davon abhalten kann, eine Geschichte zu bringen?

Kurt Kuch: Ich sag immer: Natürlich bin ich korrumpierbar – mit einer besseren Geschichte. Wobei ich auch dabei heute sehr vorsichtig sein muss. Jeder Promi, der in Schwierigkeiten gerät, leistet sich einen Medienberater. Und dessen Job ist es, bessere Geschichten zu bringen, damit wir von seinem Klienten abgelenkt werden. Das muss dann umso genauer geprüft werden.
Manche versuchen natürlich auch, mir ein schlechtes Gewissen zu machen und erzählen mir etwa, dass ihre Kinder jetzt in der Schule auf Grund meiner Geschichten Schwierigkeiten haben. Ich bin mir durchaus der Tatsache bewusst, dass ich mit “News” eine große Bühne habe und dementsprechend verantwortungsvoll sein muss, aber letztlich denke ich mir dann immer: Wir sind alle erwachsen. Und wer jetzt nicht möchte, dass etwas an die Öffentlichkeit kommt, hätte es lieber gar nicht tun sollen.

der-karl.com: Du hast Medienberater angesprochen. Wie sieht es aktuell mit politischer Einflussnahme und politischem Druck auf dich aus?

Kurt Kuch: Medienberater sind die neuen Lobbyisten. Oft sind das ja auch die gleichen Leute, die unter einem anderen Titel jetzt praktisch den gleichen Job machen. Die können keinen Druck auf mich ausüben, aber sie machen mir natürlich das Leben schwer, indem sie gezielt gefärbte Information streuen. Ich habe dann umso mehr Arbeit, um wieder nach möglichst objektivierbarer Information zu suchen
Das bringt dann wieder Akten in den Vordergrund. Mein Büro sieht aus wie ein gesprengter Altpapiercontainer; ich versuche, jede Geschichte möglichst gut mit behördlichen Ermittlungsakten zu unterlegen. Wobei ich da eher steinzeitlich arbeite: Ich scanne die Akten als durchsuchbare PDF-Dateien und recherchiere dann über die Volltextsuche. Die Kollegen vom “Stern” haben mir einmal ihre digitalen Recherche- und Dokumentationsarchive präsentiert – da frisst Dich der Neid, aber das ist für uns in Österreich unleistbar.

“Ich habe mit “News” eine große Bühne, aber ich weiss, dass ich auch nur Mittel zum Zweck bin. Das kann jederzeit vorbei sein.”

 

Direkten Druck spüre ich jedenfalls nicht, und ich habe auch nicht das Gefühl, Feinde zu haben. Der einzige, der mich einmal direkt und unter der Gürtellinie in den Foren von ORF und derstandard.at attackiert hat, war dann ausgerechnet einer der Bürgermeister aus einem Nachbarort in meiner Heimat…

der-karl.com: Und wie siehts mit Einfluss durch Werbung aus und was hältst du von der Affäre um politische Inserate?

Kurt Kuch: Ich kann dir ganz ehrlich sagen: Ich kenne unsere Anzeigenverkäufer nichteinmal. Ich sehe die einmal im Jahr bei der Weihnachtsfeier, und da reden wir sicher nicht über Inserate, und sonst habe ich keine Ahnung, was da läuft. Es ist auch nie irgendwer an mich herangetreten, und nachdem ich gar nicht weiss, wer was wo inseriert, kann ich darauf auch überhaupt nicht reagieren.
Wenn du politisch motivierte Inseratenvergabe durch staatsnahe Betriebe ansprichst: Davon bekomme ich genauso wenig mit. Viel spannender finde ich in dem Zusammenhang von Politik- und Parteienwerbung die Frage: Wer zahlt das eigentlich? Wenn Politiker Unternehmen in ihrem Einflussbereich beauftragen, ist das ja geradezu transparent, verglichen mit Kosten in Millionenhöhe für Präsidentschaftswahlkämpfe, bei denen niemand weiss, wo das Geld eigentlich herkommt.

der-karl.com: Also würdest du sagen, dass du frei und ohne jeden Druck arbeiten kannst?

Kurt Kuch: Es sind sicher nicht die offensichtlichen Machtverhältnisse, die mir Probleme machen. Meine große Angst bei jeder neuen Geschichte ist aber, reingelegt zu werden. Ich habe das schon einmal erlebt, und das hat mich fast den Job gekostet. Das war die Geschichte mit der angeblichen illegalen Pflegerin von Wolfgang Schüssel. – Ein gezielter Leger von einem Autor und Journalisten. Der hat mich angerufen und die Geschichte vorgeschlagen, alles hat sehr gut geklungen. Nur hat er dann beim Termin gleich einen Vertrag aus der Tasche gezogen, in dem eine Reihe von Absurditäten festgehalten war. Gleich der erste Punkt war eine Honorarzahlung von 2000 € für die falsche Pflegerin. Das habe ich sofort gestrichen. Er hat uns die Geschichte dann doch gegeben, blöderweise haben wir sie veröffentlicht – und es war für beide Seiten ein Fiasko. Ich bin mit der falschen Gesichte dagestanden, er hätte beweisen wollen, dass wir bei “News” unrecherchierten Scheckbuchjournalismus machen. Diese Tage waren echt die Hölle. Er ist dann noch dazu unauffindbar und ich habe ihn tagelang gesucht – da war ich echt knapp davor, alles hinzuschmeissen.
Das einzig Positive war dann noch, dass wenigstens klar rausgekommen ist, dass wir nicht bezahlt haben und auch nie für Geschichten bezahlen. Das ist – für alle, die noch immer Zweifel haben – nicht nur eine ethische Frage, sondern auch ganz schlicht eine wirtschaftliche: Ein verkauftes Heft hat einen Deckungsbeitrag von ein paar Cent. Wenn wir für eine einzelne Geschichte ein paar tausend Euro ausgeben müssten – das kriegen wir nie wieder rein…

der-karl.com: Glaubst du an die Funktion von Medien als vierte Macht in der Gesellschaft?

Kurt Kuch: Wir können einiges bewegen und auch etwas erreichen. Das steht fest. Aber genauso muss man sagen: Wir haben unseren schlechten Ruf nicht zu Unrecht. Ich unterstelle niemandem, vorsätzlich korrupt zu sein, aber ich wundere mich oft, wie Kollegen das für sich handhaben, wenn sie für Moderationen oder andere Tätigkeiten überproportional bezahlt werden. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber was ist, wenn der Auftraggeber ein Hochegger ist, und wenn der oder einer seiner Kunden in Schwierigkeiten geraten? Zieht der Journalist dann noch voll durch? Oder hat er sich selbst zahnlos gemacht?

“Geld? Du kannst drei mal am Tag essen gehen und du kannst dich einmal am Tag ansaufen – mehr geht auch mit allem Geld der Welt nicht. “

 

Ich vermeide so etwas. Ich habe an meinem eigentlich Job mehr Spass, ich werde gut bezahlt, und ich denke mir immer: Was sollst du mit dem Geld? Du kannst drei Mal täglich essen gehen, Du kannst dich einmal täglich ansaufen – mehr geht auch mit allem Geld der Welt nicht…
Ich muss aber auch sagen, dass ich hier eine Umbruchphase sehe. Es gibt mittlerweile bei vielen Medien Journalisten, die ihre Funktion als Aufdecker sehr ernst nehmen und ihren Job sehr gut machen. Das erzeugt einen Wettbewerb, der gut fürs Geschäft ist und Leben in die Branche bringt.

der-karl.com: Welche Rolle spielen Onlinemedien und Social Media in diesem Wettbewerb für dich?

Kurt Kuch: Social Networks sind für mich sehr wichtig. Ich nutze Twitter, Facebook und Google+ um Vorausmeldungen zu platzieren und zu promoten. Und ich bekomme direkte Rückmeldungen, auf welche Themen die Leute anspringen. Allein seit gestern (18.1., Anm.) habe ich zum Beispiel 150 neue Follower auf Twitter. Auf Facebook spiele ich auch mit ganz selektiven Einblicken in mein Privatleben. Alle Netzwerke zusammen bringen mir nocheinmal mehr Aufmerksamkeit, was umso wichtiger ist, weil die User immer kritischer werden und mehr Fragen stellen, und auch im Magazin mehr und bessere Antworten haben wollen. Aber natürlich ist mir auch klar, dass es hier weniger um meine Person geht, sondern um meine Rolle als Journalist bei einem großen Medium. Das macht mich interessant und öffnet mir viele Türen, aber letztlich bin auch ich nur Mittel zum Zweck, und das kann jederzeit vorbei sein.

der-karl.com: Wo siehst du generell die Schwerpunkte von Onlinemedien und wie zufrieden bist du mit euren eigenen Portalen?

Kurt Kuch: Onlinemedien sind dort am stärksten, wo sie dem User individuellen Nutzen vermitteln. Gut recherchierte Tabellen und Listen waren in “News” immer schon sehr wichtig – und das ist großartiger Content für digitale Medien, damit bekommen wir regelrechte Clicklawinen. Ich kenne noch kein Patentrezept für Onlinemedien, aber der persönliche Nutzen für User ist etwas ganz wichtiges. Das kann zusätzliche Information sein, das können aber auch technische Basics wir Filter- oder Suchfunktionen bei großen Contentmengen sein.
Wir haben in jedem Ressort im Magazin eigene Online-Beauftragte, die immer darauf achten, dass auch wir Printjournalisten dieses Mehr an Inhalt liefern, das online verarbeitet werden kann. Wobei die Onlineredaktion natürlich selbständig arbeitet und genug Profi-Journalisten für eigene Inhalte hat. Ich erlebe immer wieder, dass Onlineredaktionen noch immer wenig ernst genommen werden – das ist unangebracht und eher ein Zeichen dafür, dass diejenigen, die so etwas glauben, wenig Ahnung vom Journalismus heute haben.

der-karl.com: Was bedeutet für dich eigentlich Qualität im Journalismus, wie wichtig ist dir das Schreiben?

Kurt Kuch: Ich bin Aufdeckungsjournalist bei “News” und nicht Feuilletonist bei der “Zeit”. Qualitätsmesser sind für mich vor allem messbare Erfolge: Wie viele Vorausmeldungen kann ich für meine Geschichten machen, wie oft werden die übernommen, wie schnell verbreiten sie sich auch in anderen Medien?

“Auf Enthüllungen reagieren wir in Österreich mit geleber Themenverfehlung. Gefragt wird nicht: “Was sind die Konsequenzen?” sondern: “Wie konnte das bloß an die Öffentlichkeit kommen?”…”

 

Auf der anderen Seite ist Verständlichkeit sehr wichtig. Sachverhalte wie zum Beispiel die Eigenmittelfeindlichkeit von kreditfinanzierten Aktien zu erklären – ein beliebtes Spiel in der Hypo Alpe Adria – ist schon eine Herausforderung. Umso mehr natürlich, wenn der Text auch noch rechtlich einwandfrei und klagssicher sein muss. Ich schreibe sehr schnell: Für eine fünf- oder siebenseitige Aufmachergeschichte brauche ich selten mehr als zwei Stunden. Viel mehr Zeit geht dann für zusätzliche Informationselemente drauf – hier ein kurzer Interview-Kasten, dort eine kurze Chronik. Zur Qualität gehört es auch, die Perspektive des Lesers nicht aus den Augen zu verlieren: Ich kann nicht erwarten, dass heute noch jemand weiss, was Grassers KMU-Roadshow im Jahr 2002 war.

der-karl.com: Hast du Pläne für die Zukunft oder für ein Leben “danach”?

Kurt Kuch: Nein. Ich könnte auf die dunkle Seite der Macht wechseln und Medienberater werden, aber das interessiert mich eigentlich nicht. Vielleicht kommen weitere Bücher – wobei ich da noch eine etwas familienfreundlichere Schreibstrategie entwickeln muss. Ich wollte mir für “Land der Diebe” vier Monate Zeit nehmen, habe dreieinhalb Monate lang praktisch nichts gemacht und dann zwei Wochen Urlaub genommen. In diesen vierzehn Tagen habe ich zehn Tage lang wieder nur sehr wenig gemacht, und dann fast das ganze Buch in vier Tagen nonstop durchgeschrieben. Ich glaube, das geht noch besser…
Ansonsten habe ich zuviel Spass in meinem Job, und wenn ich Abwechslung brauche: Ich habe mit Ewald Tatar die Marke “Kama-Party” aus einer Konkursmasse gekauft – das bezieht sich auf “Kamakura”, das war in meiner Jugend die mit Abstand beste, eigentlich einzige Disco zwischen Wien und Graz, und Ewald veranstaltet gelegentlich Kama-Events (nächster Event: 23.2. im Wiener U4) – Aber auch das soll nicht in Arbeit ausarten.
Ich bin seit sechzehn Jahren bei “News”, das war mein erster Job – und ich habe hier noch viel vor.

Universalgesetz Nr.5: Entropie – Immer mehr Menschen reden immer öfter vom Gleichen. (Bis sie etwas tun)

Ich hatte jetzt lange genug Spass mit den sogenannten Universalgesetzen für Onlinemedien. Zeit, zu einem Ende zu kommen. Und deshalb das fünfte und derzeit letzte Gesetz: Immer mehr Leute reden immer öfter vom Gleichen. Das ist einerseits gut, weil förderlich für die Verständigung, andererseits schlecht, weil es keinen Platz für Neues lässt. Informations- und Medientheoretiker reden hier auch von Entropie.


Vernetzung kann verbinden oder fesseln, erweitern oder einengen, verbinden oder beenden.
Dazu sind vielleicht ein paar Voraussetzungen hilfreich:

  • Wir verstehen ohnehin nur das, was wir schon wissen, sagt die Zen Philosophie. In jedem Buch, das wir lesen, steht für uns das, was wir beim Lesen hoineinschreiben; die Bedeutung des Texts entsteht erst in dem Moment, in dem wir ihn lesen. Das hat nicht nur mit unserer Engstirnigkeit zu tun. Wir sind Teil des Universums, wir existieren in allem und alles existiert in uns. Zumindest wissen wir nichts anderes, Das ist nicht nur eine Form der Erkenntnistheorie, sondern auch eine nüchterne Auslegung der Wiedergeburt: Wir leben in allem anderen weiter, weil es nie wirklich eine Rolle gespielt hat, dass wir konkret existiert haben. Deshalb machen wir auch, so sehr wior für uns (und vielleicht für viele um uns) einen Unterschied machen, nicht wirklich einen Unterschied. Und selbst wenn wir einen machen, dann sind nicht wir der Unterschied, sondern das was wir bewirken oder erreichen.
  • Wir brauchen gar nichts zu wissen, ausser, wo wir nachschauen müssen, sagt die tools- und netzwerkgetriebene Wikipedia-Generation. Und den Rest lernen wir in vier Stunden, sagen Flachzangen wie Tim Ferriss. Dem liegt nicht zuletzt eine hyperdemokratische und auch nahezu zenmässige Wurschtigkeit zu Grunde: Eine Meinung ist so gut wie die andere, und es wird schon passen. Grundsätzlich ist das ja auch eine lobenswerte Einstellung, aber lässt sie noch Platz für Lernen, Verbesserung und Aussergewöhnliches? Me too für vorgefertigte Erlebnisportionen oder Experimentieren, ohne das Ziel zu kennen? Explorative gegen erklärende Vorgangsweisen, oder, wie einer der Meister der Entropie formuliert hat: Dialog (als Austausch von Ansichten) oder Diskurs (als monologisierende Behauptungen)?
  • Wir verstehen immer nur das gleiche. Wenn wir Neues verstehen würde, wäre es wohl nicht neu. Abgrenzung, das ist anders, das ist neu – das stellt Grenzen auf, die grundsätzlich einmal Verständigung unmöglich machen. Das ist an sich noch kein Problem: Zu wissen, dass du den anderen nicht verstehst, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse (oder Verständnisse). Denn es eröffnet die Notwendigkeit, nachzufragen. Wir verstehen immer nur das gleiche ist auch deshalb kein Problem, weil es nichts anderes gibt. Innovationen – der Inbegriff des Neuen und Anderen – kommen nicht von einem anderen Stern, sondern vom Nerd von nebenan. Innovationen liegen in der Luft, und es kommt auf Glück, Zufall, vor allem aber auf die Umsetzung an, ob sie sich durchsetzen. Für die einen ist ein Problem ein spannendes Spiel, das einem auch den letzten Nerv rauben kann, das quält, das es aber auf jeden Fall wert ist, eine Lösung zu finden. Für den anderen ist es eine Barriere, die einfach zur resignierenden Feststellung führt: “Nichts geht weiter.” – Ideengeschichten, wie sie bei Scott Berkun oderSteve Johnson nachzulesen sind. Und auch scheinbare Meister der Innovation mit unermüdlich sprudelnden Ideenquellen sagen schlicht: “Let’s not compete on ideas, let’s compete on execution.” Denn Ideen sind austauschbar und werden oft überschätzt.
  • Nur das Unerwartete, Unerwartbare, Andersartige hat Informationsgehalt. Was logisch aus dem Bestehenden abgeleitet werden kann, ist weder neu noch informativ. So ungefähr formulierten die Philosophen Jehoschua Bar-Hillel und Rudolf Carnap ihre Definition von Information. Zusammengefasst wird das oft auch interpretiert als “Information ist der Unterschied, der einen Unterschied macht.” Einerseits ist das klar: Information als neue, relevante und wissenswerte Information muss etwas anderes bieten als das bereits allseits bekannte. Das stellt aber vor die Herausforderung: Wie können wir auf logisch, argumentativ abgesicherten Wegen überhaupt zu etwas Neuem kommen? “Logical deductions, which can be analysed in terms of tautological processes, also fail to provide any information” sagt Informationsphilosoph Luciano Floridi über dieses als Bar-Hillel-Carnap-Parodoxon bekannte Problem. Fazit: Anerkannte Kommunikations- und Argumentationsmethoden schaffen immer nur mehr vom Gleichen. Oder?
  • “Die Masse dialogisiert nicht im griechischen Sinn, weil sie ständig von Diskursen berieselt wird, und daher nur über Informationen verfügt, die für alle ausgestrahlt werden”, sagt mit Vilem Flusser einer der Vordenker der Entropie schlechthin. Flusses Kritik von Bildschirmmedien als alles vereinnahmender Lagerfeuerersatz lässt sich angesichts der zeitgenössischen Medienvielfalt einiges entgegensetzen; der Kern der Kritik gilt aber nach wie vor: Auch über Bildschirme (sogar Fernsehbildschirme) läuft viel spannende und sogar informative Kommunikation – aber was ist damit getan? Sich zu informieren ist nur eine weitere Form von Passivität, sofern keine Handlungen folgen. Sich zu informieren und vielleicht sogar für entfernte Probleme zu engagieren, ist eine weitere Möglichkeit, nicht bei sich selbst beginnen zu müssen. Trotzdem bleibt Information natürlich unverzichtbar wichtig, und auch kommerzielle Medien können bei der Verbreitung von Information eine wichtige Rolle spielen, wenn sie sich nicht darauf beschränken, Klischees zu transportieren.

Immer mehr Menschen reden immer öfter vom Gleichen – nach Carnap und Bar-Hillel entsteht dabei also keine Information. Dialogphilosophen wie Hermann Gadamer oder (der leider noch religiöser geprägte) Martin Buber diagnostizieren im Gegenteil, dass ohne ein grundlegendes gemeinsames Verständnis Dialog als Austausch von Information gar nicht möglich sei. Man bezweifle stattdessen jeweils des anderen Weltbild, anstatt über sachliche Themen zu reden.

Vielleicht ist beides angemessen – schlicht weil es heute sehr wohl möglich, plausibel und real ist, auch auf engem Raum mit unterschiedlichen Weltbildern zu leben.
Das liegt an der Vielzahl der verfügbaren Weltbilder, daran, dass vieles heute schnell mal ein Ideologie-Thema ist. Es liegt aber auch nicht minder daran, dass wir viel schneller viel mehr erfahren können. Einseitige Diskurse sind nicht nur etwas Schlechtes – sie bieten Information.
Fluidity of Information ist ein Begriff, den der Philosoph Charles Ess als Charakteristikum digitaler Information geprägt hat. Flüssigkeit bedeutet einerseits Verformbarkeit: Es ist nicht klar, wie solcherart transportierte Information ankommt, mit welchem Kontext sie in welchem Kontext landet, und ob sie dann noch irgendein nennenswertes Maß an Autorität und Authentizität (was ja an sich schon ein problematischer Begriff ist) hat. Auf der anderen Seite bedeutet Flüssigkeit aber auch Transportierbarkeit: Information ist digital nicht nur schneller in anderen Umgebungen, sie hat überhaupt vor allem die Chance, dort anzukommen, und nicht isoliert in einer Schublade zu bleiben.
Digitale Medien erhöhen unsere eigene Reichweite und die Chance, mit Inhalten aus anderen Kontexten in Berührung zu kommen. Einfach gesagt: Wir hören etwas, das wir noch nicht kennen, das wir vielleicht sogar für unwahrscheinlich gehalten haben. “The less probable or possible p is, the more informative it is; (…) contradictions are highly informative”, sagt Luciano Florida über das Bar-Hillel-Carnap-Paradoxon. – Mehr vom Gleichen oder grenzüberschreitend Neues, und das im gleichen Merkmal eines Mediums: Das ist der Grundzug, der sich in allen fünf Universalgesetzen wiederfindet.

  • 1) Jede Anwendung ist einfach, bis sie zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werden muss. Mehr vom Gleichen, einfaches ausprobieren, ein bisschen Unterhaltung – das fällt mit vielen Anwendungen leicht. Problematischer wird es, wenn ein bestimmter Zweck verfolgt werden soll, wenn die Nutzung also produktiv oder informativ sein soll. Da ist unvermeidbar; vermeidbar ist aber der negative Überraschungseffekt – am besten indem Onlineservices ihren Zweck in vereinfachter, beispielhafter Form gleich mitbringen.
  • 2) Wir leben in der Innenseite der Kugel. Über Zwecke lässt sich lang streiten. Gut, böse, sinnvoll, unsinnig .- das bleibt immer offen, wenn nicht auch der Bezugsrahmen mitgeklärt ist. Es verkürzt die Diskussion, wenn auch diese Frage gleich beantwortet wird. Am besten in Form des mehr oder minder deutlich ausgesprochenen Weltbilds. Das ist eine Basis für Verbindung – und es grenzt zugleich aus.
  • 3) Zwischen Allmacht und Ohnmacht. Eigene Welten, klar definierte Zwecke sind effizient. Aber ihre Notwendigkeit kann auch als Armutszeugnis gesehen werden. Gilt Dein Anspruch denn nicht überall? Sollte er das? Und solltest Du nicht über die Grenzen hinaus als digitaler Superuser über alles bescheid wissen? – Gerade in digitalen, multimedialen Zusammenhängen wird von unerfahrenen Usern gern das Wort “Wunderwuzzi” verwendet – zumindest in Österreich. Da passiert etwas, viel, schnell. Und man darf nicht ganz unbedarft daneben stehen. Die Spannung von Allmacht und Ohnmacht ist einerseits durchaus real, andererseits ein Konstrukt, in dem sich Respekt und Unfähigkeit vor der gleichen Sache zugleich legitimieren lassen.
  • 4) Der Medien-Marken-Sprung. Medien sind zugleich Werkzeuge, Mittel eben, und deren Ergebnis. Das ist die eigentlich treibende Kraft hinter dem Dilemma von Allmacht und Ohnmacht. Erfolgreiche Medien sind solche, die Passive Nutzungsmöglichkeiten mit kleinen, gut abgrenzbaren Aktivitäten kombinieren können: Auf Youtube kann ich mich berieseln lassen, aber ich kann auch von entdeckten Comedians, berühmt gewordenen Kuriositäten oder erfolgreichen Marketingaktionen träumen. Auf Facebook kann ich an meinem Profil und meiner Reputation arbeiten – oder unerkannt in fremden Leben mitlurken.
    Die Entscheidung, Medien nicht nur als Produkte und Marken, sondern auch als Werkzeuge zu nutzen, fasst die in den ersten vier Punkten beschriebenen Einstellungen zusammen und bringt die überall notwendige aktive Komponente ins Spiel.
    Gewinnen wir dadurch etwas?

Medien, egal jetzt ob als Produkt oder als Werkzeug betrachtet, sind seit jeher ergiebiges Objekt kulturkritischer Ansätze. Leute wie Schirrmacher, Precht, oder auch Karl Kraus als papiergebundener Urzeit-Blogvorläufer waren und sind schnell mit Untergangsmetaphern bei der Hand. Befürworter wie Ibo Evsan, Tim Ferriss oder Chris Brogan versteigen sich dagegen oft zu ebenso dramatisch paradiesisch überzeichneten Gegendarstellungen von freier vernetzter Produktivität.
Mein Verdacht: Medien ändern nichts. Sie machen nur diverse Beziehungen, Sachverhalte und Tatsachen mehr oder weniger deutlich sichtbar. Je schneller Information über Tatsachen in entfernten Umgebungen bekanntgemacht werden kann, desto informativer ist sie. Weil aber Information für sich kein Wert ist, sondern ihren Zweck, ihren Hohlraum oder ihr Universum braucht, um auch gezielte Handlungen bewirken zu können, führt rein kumulatives Sammeln von Information zu einer bloßen “Ja eh”-Kultur, in der jeder alles weiss, aber nichts kann, und letztlich nicht nur alles egal, sondern gerechtfertigterweise egal ist: “Ich denk eh dran”, und “Ich allein kann eh nichts machen…”; und schliesslich: “Wozu?”

Der Unterschied liegt im Handeln. Was haben wir dabei von Medien, warum soll Technologie, vor allem IT, wertvoll sein? Reichweite, Tempo und Flexibilität sind Werte, die Geschäftsbeziehungen und -ergebnisse fördern. Digitale Medien sind Beschleuniger für diese Werte. Wer das Handwerk beherrscht – nicht nur das der Kommunikation im engeren Sinn, sondern jede Art von Kommunikation in der Organisation – arbeitet also besser.
Kommunikation ist nicht umsonst ein weiter Begriff, der vom bloßen Berühren bis zum Verstehen und Zustimmen gestreckt werden kann.
Verstehen ist in einer kommunikations- und informationsgetriebenen Welt der neue Machtfaktor: “Ich versteh schon” schliesst ein – “Das ist nicht neu, das kenne ich auch, du brauchst gar nicht weiterreden, reden wir über etwas anderes”. “Ich verstehe nicht” schliesst ein: “Das ist nicht gut erklärt, das ist falsch, jetzt will ich reden, das ist unangemessen, du musst dich mit mir beschäftigen.” Verstehen, Verständigung ist die Fortsetzung und Nachfolge von Aufmerksamkeit als zentraler Wert. Aufmerksamkeit ist eindimensional oder so zweidimensional wie Radio: Man weiss, dass da draußen wer ist, aber dieser jemand manifestiert sich wenn dann nur punktuell und nur mit wenigen Äußerungen. Je mehr Unterhaltung möglich ist, je konkreter gefragt werden kann und geantwortet werden muss, desto wichtiger ist Verstehen. Es reicht nicht, Menschen erreicht zu haben und sie in Empfängerstatistiken abzubilden – es wird zu schnell offensichtlich, ob Bilder, Worte, Messages angekommen sind.
Verstehen wird nicht leichter, aber es wird wichtiger.
Deshalb ist es so verlockend, auf Entropie als Regulierungsmassnahme zu setzen. Mehr vom Gleichen kommt leichter an. Nur bietet es wenig Chancen. Neues hat Chancen, ist informativ – aber es muss die Brücke schlagen, und dabei hilft, einmal mehr, solides Handwerk…

Die Frage des aktuellen Jahrtausends wird damit für mich: Was machst Du eigentlich? – Aber das ist dann schon die nächste Geschichte…

Doctorows Crashkurs in Kapitalmarktlogik

flickr/Joy Ito

Ich habe gerade Cory Doctorows “For the Win” gelesen und kann das Buch nur wärmstens empfehlen. Doctorow zeichnet nicht nur beeindruckende Bilder aus Indien, Kalifornien und China, seine Geschichte eines Arbeitskampfs in der Game-Industrie ist auch eine der eindringlichsten und verständlichsten Beschreibungen der Probleme und Risiken des Kapitalmarkt-Wahnsinns.

(pic: Joy Ito)

Doctorows Geschichte von für Geld spielenden Gamern, die ihre erspielten Levels und Assets über große Organisationen an reiche Einsteiger-Gamer weiterverkaufen, beruht auf wahren Entwicklungen: Im Frühjahr 2011 wurden erste Berichte bestätigt, denen zufolge Insassen chinesischer Gefängnisse neben ihrer offiziellen Gefängnistätigkeit nachts noch Games-Zwangsarbeit verrichten mussten: Sie erspielten in World of Wordcraft Assets, die dann von organisierten Gefängniswärtern weiterverkauft wurden.
Doctorow verpackt diese Ereignisse in die Geschichte jugendlicher Gamer, die unter ähnlichen Ausbeutungsszenarien leiden, sich organisieren, und schliesslich die Game-Konzerne mit ihren eigenen Trading-, Hedging- und Securitisation-Waffen zum Einlenken zwingen. – Das ist ein spannender Roman, und zugleich ein anschaulicher Crashkurs zur irren Kapitalmarktlogik. Unbedingt lesenswert.

Bei der Gelegenheit kann ich gleich eine zweite Empfehlung in Sachen Finanzmarkt-Knowhow nachlegen: Viktor Pelewins “Empire V” ist ein Vampirroman, dessen Vampirprotagonisten sich allerdings nicht mehr mit so lächerlichen Dingen wie Blutsaugen abgeben. Sie haben es geschafft, die menschliche Existenz (schliesslich sind Menschen die Züchtung von Vampiren) in das Finanzaggregat M5 zu destillieren, an dem sie sich jetzt berauschen – und um das sie Machtkämpfe führen und Intrigen spinnen.

Pelewins Beschreibung dieser Entwicklung ist ebenfalls finanztechnisch und volkswirtschaftlich lehrreicher als drei durchschnittliche Banking-Lehrbücher…

Viertes Universalgesetz: Der Medien-Marken-Sprung

Medien sind Marken und Mittel, Marken sind Mittel, Mittel sind Marken oder Medien – dieses Rad lässt sich lange weiter drehen. Was sind jetzt Medien? Diese lange Zeit einfache Definition, die voraussetzte, dass mit Medien Massenmedien gemeint sind, von denen es Zeitung, Radio und Fernsehen gibt, ist ein problematischer und dynamischer Begriff geworden. In der Theorie mag das Probleme in der Begriffsklärung aufwerfen, praktisch gesehen stellt sich die Frage, was bei der Gestaltung von Onlinemedien eigentlich verkauft wird und wie weit der Planungshorizont gesteckt sein muss.


Wovon reden wir, wenn wir “Onlinemedien” sagen? Sind das Webseiten, Emails, Portale, Blogs? Sind das wired.com, yahoo.com oder Boing Boing? Und was ist mit Onlineshops? Social Networks? Und schliesslich der eigenen Online-Persona?
Ein Medium beispielsweise ist Fernsehen. Bewegte Bilder, die über Satelliten, Kabel oder Antennen verbreitet und auf Bildschirmen empfangen werden. In letzter Zeit hat sich die Verbreitung über Internettechnologien dazugesellt und damit nicht nur eine technische, sondern auch eine organisatorische Zusatzfrage gestellt: Onlineinhalte von klassischen Fernsehstationen sind Fernsehen, keine Frage. Aber was ist mit Bewegtbild-Onlinelinhalten anderer Medienunternehmen? Auch das kann als Fernsehen klassifiziert werden, schliesslich entspricht es immer noch dem Broadcasting-Gedanken. Und wie verhält es sich mit Bewegtbild-Inhalten von Anbietern, die nicht den Kriterien des klassischen Medienunternehmens entsprechen? – Hier kommt neben der ursprünglich technischen eine inhaltliche Komponente ins Spiel: Fernsehen hat mit Abläufen zu tun, mit Sendungsformaten, mit Programmgestaltung und gestalteten Inhalten. Es braucht mehr, als ein bewegtes Bild auf einem Bildschirm, um von Fernsehen sprechen zu können. Genau das bedeutet dann, dass auch der unabhängige Medienproduzent diesem Bild gerecht werden kann: Programm- und Formatgestaltung unterliegen keinen Größenordnungen – zumindest nicht vorrangig.
Müssen wir jetzt wieder auf eine technische Unterscheidung zurückgreifen, um wirklich einen Unterschied ausmachen zu können?

Am Beispiel des Internet lassen sich diese Wechselbilder noch abwechslungsreicher durchspielen. “Das Internet” ist ein Medium, so wie “das Fernsehen” als organisatorisch-technischer Komplex ein Medium ist. Von beiden gibt es unterschiedliche technische und kommerzielle Ausprägungen.
Fernsehen existiert allerdings nur, weil es diese technischen und kommerziellen Ausprägungen (also einzelne Fernsehsender) gibt. Ohne diese gäbe es vielleicht die Idee des Fernsehens (oder die Erinnerung daran), aber nicht die Möglichkeit, einen Fernseher einzuschalten und diesen für irgendeine Form der Mediennutzung zu gebrauchen.
“Das Internet” braucht seine technischen und kommerziellen Ausprägungen nicht. Das Medium lässt sich so weit auf eine Technologie reduzieren, dass Medien (als kommerzielle Markenangebote) noch notwendig sind. Auch ohne Facebook, New York Times online, wired.com und sogar ohne Google könnten wir immer noch online gehen – und würden Inhalte finden. Und selbst ohne Inhalte: wir hätten immer noch ein Medium, das wir als Kommunikationsmittel für unsere Zwecke nutzen können. Über “das Internet” können wir mit anderen Menschen kommunizieren, selbst Inhalte publizieren, oder auch nur von verschiedenen Orten und Devices aus auf unsere Daten zugreifen. Heisst: Wir brauchen die anderen nicht. Zumindest nicht zwangsläufig. Und wir sind nicht auf die Großen angewiesen, um brauchbaren Content und ansprechendes Entertainment zu haben.
Was macht dann “das Internet” aus? Die Technik? – Die größten Nutzungs- und Verbreitungssprünge sind auf technische Neuerungen in der Nutzbarkeit (Browser) und in der Gestaltbarkeit (Web 2.0) zurückzuführen.
Oder die Inhalte und Anwendungen? Email und Suche waren jahrzehntelang die unangefochten führenden Onlinetätigkeiten, bevor soziales Networking ihnen den Rang abgelaufen hat. Und seit Facebook neigt erstmals eine große Anzahl von Usern dazu, ein Produkt für “das Internet” zu halten – oder, um auf die Problemstellung zurückzukommen: ein Medium für das Medium.

Wenn Zeitung, Radio und Fernsehen Medien sind, ist dann das Internet auch eines? Sind Social Networks, Blogs, Nachrichten- und Unternehmensportale Medien? Oder gilt diese Begriff nur für konkrete Ausprägungen dieser Mediengattungen? (Den Begriff der Onlinemediengattungen gibt es lustigerweise zumindest für Google praktisch noch nicht). Oder auch für z.B. einzelne Bereiche innerhalb einer Ausprägung einer Gattung, also etwa eine Kolumne innerhalb eines Nachrichtenportals? Und wenn nicht – sind dann Blogs doch keine Medien?
Diese Wortklauberei lässt sich endlos weiterdrehen. Wichtig ist: Die Grenze zwischen Medium und Marke ist nicht fliessend, sondern sprunghaft. Ein und dasselbe Produkt/Medium kann aus der einen Perspektive das sein, aus der anderen das andere. Und dem User ist das ohnehin egal: Er gestaltet über RSS-Reader und andere Aggregatoren seine eigenen Medienformen, nutzt punktuell über Empfehlungen eine Unmenge verschiedener Quellen und macht manchmal sogar so verrückte Dinge, wie teure Papierversionen (mit Versandkosten!) zu kaufen, obwohl er das gar nicht müsste.

Der Medien-Marken-Sprung ist eine wichtige Gesetzmäßigkeit bei der Planung von Medien, Contents und Kampagnen. Die konkrete Sichtweise (Medium oder Marke) bestimmt darüber, ob konkrete Zwecke erkannt werden können, ob die Nutzung als leicht und angemessen empfunden wird, ob das Produkt an sich funktioniert, ob Sinn erkannt oder Techniklastigkeit unterstellt wird.
Technische Medien sind leer und ungefähr so spannend wie ein Overhead-Projektor; Marken machen Lust.
Onlinemedien könne Tool und Marke, Produkt und Werkzeug zugleich sein, sie sind ein Ergebnis und eine Möglichkeit. Was ankommt, ist weniger eine Frage der tatsächlichen Lösung, sondern der gewählten Erklärung – und des Wissens der Zielperson. Es ist der aktuelle Rahmen, der Sinn vorgibt und Nutzen erkennen lässt.
Was heisst das für den Praktiker?

  • Es ist notwendig, bei der Konzeption von Onlinemedien immer alles im Blick zu haben. Inhalt, Zielgruppe, Technik, Nutzungsszenarien, Zielsetzungen, Funktionen, inhaltliche, organisatorische und technische Anknüpfungspunkte sind nicht getrennt zu betrachtende Spezialdisziplinen, sondern stehen in stark vernetzten Abhängigkeiten. Es beeinflusst die Wahrnehmung von Inhalten, ob diese lokal oder vernetzt (z.B. über Disquus oder gleich Facebook) kommentiert werden können, Formate, die Aktualitätsbezug suggerieren, werden anders wahrgenommen, als Formate, die gezielt darauf verzichten, auch schlichte Navigationen spielen eine Rolle: Ist das ein in vielschichtigen Verzeichnissen tief strukturiertes Nachschlagewerk, oder in flachen Hierarchien organisierter aktueller, schnell wechselnder Content – oder hat sich einfach noch niemand Gedanken gemacht?
  • Es gibt kein Ziel. Zumindest sind wir nie dort. Der ständige Perspektivenwechsel zwischen Produkt und Werkzeug, Kanal und Marke, Ergebnis und Möglichkeit führt dazu, dass jeder Zustand nur ein vorübergehender ist. Oberflächliches Zeichen sind laufende Aktualisierungen, etwas tiefergehend ist die Einbeziehung unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten: Geht es um Publikation oder Diskussion, um Produktion oder Distribution, um Erzählen oder um Fragen? – Das sind die Anforderungen, denen Mediengestaltung mit generischen Lösungen gerecht werden muss – und die dann doch immer wieder mit einem konkreten Zweck verbunden werden müssen, um nicht nur Verwirrung zu stiften.
  • “Ich habs ja nicht so mit Technik, aber…” bedeutet dann vor allem eines: Halt doch die Klappe – oder lern was. Wer bei Mediengestaltung mitreden will, auf sich zur Gänze auf das Thema einlassen; punktuelle, nur aufs Design, auf Formulierungen, auf die Informatoinsarchitektur abzielende Einwürfe sind entbehrlich. Eine Dimension (Text, Design, Interaktion, …) wird immer im Vordergrund stehen, aber wir haben es immer mit dem ganzen Komplex der Userexperience zu tun.

Und schliesslich lässt sich sogar noch Plato bemühen: Medien, meinte er (also alles jenseits des aktuell gesprochenen Worts) haben das Problem, dass sie ohne ihren Autor in der Welt herumirren und sich dort behaupten müssen und fremder Rezeption und Interpretation ausgesetzt sind. Oder frei übersetzt: “Jedes Schriftl ist ein Giftl”, wie Lobbyisten und Verkäufer gern sagen – es kann sich immer gegen den einen oder den anderen wenden.
Für den Mediengestalter heisst das: Es gibt keine Selbstläuferkonzepte, die garantiert richtig ankommen. Für den Auftraggeber heisst das: Die laufende Begleitung und Steuerung in digitalen oder Online-Projekten ist nicht nur ein Verkaufsschmäh des Dienstleisters, sondern notwendig. Für den User heisst das: Es ist weniger vorgeschrieben, als manchen lieb wäre…