Kenzaburo Oe: japanisches Drama

Kenzaburo-Oe

Ich vertrage japanische Literatur nicht. Dieser endlos weitreichende Sinn für Niederlage, Erniedrigung, Demütigung und Dunkelheit ist einfach zu radikal-depressiv.
Jetzt habe ich trotzdem – weil Leopold Federmair das so nachdrücklich empfohlen hat – Kenzaburo Oes „Reißt die Knospen ab“ gelesen.
Es gibt kein Happy end.
Es gibt keine Helden.
Es gibt keine Lichtblicke.
Es gibt sogar in den wenigen Momenten, in denen es irgendwo Ansätze menschlicher Regungen geben könnte – der junge Ich-Erzähler verliebt sich, hat sogar Sex – immer nur eiskalte Distanz. Und nicht einmal für den Hund geht die Sache gut aus.

Japanische Literatur – egal ob Osamu Dazai, Ryu Murakami oder Kaneshiro Kazuki, um nur einige zu nennen, die ich in letzter Zeit gelesen habe – ist noch trauriger und düsterer als rumänische Literatur, dramatischer als Gabriel Garcia Marquez und hoffnungsloser als russische Vorrevolutionsprosa. Dabei ist japanische Literatur erschreckend schön zu lesen, zugleich aber eben so entsetzlich.

Es wäre wohl auch mal eine literaturwissenschaftliche Analyse wert, zu untersuchen, ob in Japan andere Erzählmuster wirken. In der westlichen Welt (als sehr weit gefasster Begriff, quasi schon gleichzusetzen mit „in der ganzen Welt) haben sich seit langem Schemata etabliert: Heldenfiguren, Heldenreisen funktionieren nach dem gleichen Prinzip; es darf durchaus Hindernisse, Tiefen und dramatische Wendungen geben – aber diese dienen der festeren Bindung mit den Figuren, jede Hürde, jedes Problem ist ein Emotionalisierungsmoment. In Japan nicht. Da sind nicht einmal Brutalität oder Entsetzlichkeit besonders emotionale Angelegenheiten. Ist halt so.

In Europa können wir uns sogar auf Grundzüge des Storytelling einigen und sie in Marketingkursen unterrichten. Und dann macht so eine japanische Story wieder alles ganz anders.
Aber das ist nur eine Anregung; das muss ich Expertinnen überlassen.
Mangas sind in ihrer Erzählweise im übrigen weit traditioneller als japanische Literatur oder Filme. Da bekommen – wie in Tokio Ghoul – auch mutierte Menschenfresser ihre Emotionen in den Griff und finden sogar Freunde. Bei Oe hätte es das nicht gegeben.

Das dämliche Kind bringt auch nichts

Das war wohltuend: „Mir ist das Kind immer am Keks gegangen. Das ist doch vollkommen hohler dummer Optimismus – da sagt das Kind was, ja und was soll dann passieren? Wir wissen es doch alle, wir sind nicht auf dieses Kind angewiesen.“
Alfred Pfabigan stellte diese Woche sein neues Buch „Kaiser, Kleider, Kind“ mit Paraphrasen und Anmerkungen rund um das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern vor. In seinen Anmerkungen zum Buch wendet er sich nicht nur gegen diese überbordende sinnlose Feelgood-Blindheit, die sich mit ergebnislosen Nettigkeiten amüsiert und sich darüber freut, dass sich das nett anfühlt (das sind ähnliche Mechanismen, wie hier sie hier am Beispiel von inhaltslosem Feelgood-Marketing beschrieben haben.)
Pfabigan wendet sich auch gegen das inflationäre Bild es Aufdeckers, Querdenkers oder Enthüllers, der oder die auf den Putz hat, endlich „die Wahrheit“ sagt, gegen „den Mainstream“ auftritt – und dabei das sagt, was ohnehin alle sagen und zum glattesten Opportunisten im dauernden Kampf um Aufmerksamkeit wird.

In „Kaiser, Kleider, Kind“ beschäftigt sich Pfabigan mit einem der berühmtesten Märchen von Hans Christian Andersen und zerlegt die Story in ihre Einzelteile. Die Grundfrage ist dabei nicht nur: Wie lässt sich dieser Betrug auflösen, wenn man nicht an das Wunder mit dem Kind glaubt? In Frage steht auch, warum die Kleider für den Kaiser gar so wichtig waren, und wie die Betrüger so erfolgreich sein konnten.

Eine der Varianten, die Pfabigan erzählt, verpasst dem Kaiser eine Vorgeschichte als in den Schweinestall verstoßener Erstgeborener, der erst nach langer Zeit, als der Betrug aufkam, wieder entdeckt, gewaschen, und auf den Thron gesetzt wurde. Die Einschätzung des Hofstaats dabei: „Wenn wir ihn saubermachen und gut anziehen, dann wird’s schon keiner merken“ – daher also die Konzentration auf die Kleider und die Angst davor, schon wieder als Lügner und Betrüger dazustehen.
In Pfabigans Variante ist es dann auch ein Fremder, der von all dem nichts weiß, der die Nacktheit ins Gespräch bringt – das spricht sich herum, und selbst wenn die Leute in der Menge, die den Festzug begleitet, den Kaiser gar nicht sehen, dann gefällt ihnen doch die Vorstellung der wäre nackt. Und es wird plötzlich möglich, das auszusprechen.

Damit zerfällt die Geschichte. Aber sie wird um einiges praktikabler. Die Moral von der (klassischen) Geschichte (Steh auf! Sag die Wahrheit! Es wird sich lohnen! Alles wird gut!) ist nett, aber überaus zweifelhaft. So passiert das nicht in unserer Welt, so hätten wir es gerne, aber die Praxis zeigt viel häufiger: Nichts dergleichen passiert, und statt uns durchzusetzen, resignieren wir viel häufiger.
Das ist jetzt gar nicht unbedingt ein abwertender Vorwurf. Die Feststellung ist einerseits praxisorientiert, andererseits drückt sie auch Bewunderung für das Geschick der Betrüger aus. Die Weber, sie unsichtbaren Stoff weben und verarbeiten, mit einer gut strukturierten Story eine ganze Stadt in Schach halten und ein schwer zu verlassendes Konstrukt in den Raum gestellt haben, haben gute Arbeit geleistet. Um dagegen aufzutreten, muss man sich schon sehr weit hinauslehnen – im wahrsten Sinn des Wortes eben, nämlich einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.
Die Geschichte der Weber („Unseren Stoff sieht nur, wer noch nie gelogen hat“) setzt die ganz einfache Waffe der Moralkeule ein. Es braucht einen aller Konvention nach unmoralischen Akt, um sich dagegenzustellen und eine andere Position einnehmen zu können. Und selbst die Einladung zur Entgegnung („Kritisiere mich!“, „Du siehst doch bestimmt nichts“) zwingt den Kritiker oder die Kritikerin ein moralisches Defizit einzugestehen oder eine der Konvention nach unmoralische Position einzunehmen.
In der politischen Diskussion von heute ist das die Wendung des „Für unsere Leute“; der Sicherheit und des Schutzes für die kleinen Menschen. Politik wird nicht mit rationalen Motiven gemacht, sondern mit moralischen. Populistische Politik hat das internalisiert und braucht gar nicht darüber nachdenken, wert- oder vernunftorientierte Politik hat damit meist ein großes Problem.

Der Kritiker oder die Kritikerin, die eine neue Perspektive auf das Problem ins Spiel bringen will, muss daher von ganz woanders kommen – oder die gleiche Sprache sprechen. Ein Kind, das das sagt, was sich ohnehin alle denken, es aber nicht auszusprechen wagen, ist da eine nette Allegorie, aber völlig realitätsfremd. Viel wahrscheinlicher als Anerkennung wären Unterdrückung und – zumindest zu Zeiten Andersens – eine prophylaktische Ohrfeige.
Die ganz von außen kommende Sichtweise könnte Fragen stellen, die so neu wären, dass man tatsächlich über eine Antwort nachdenken müsste, selbst wenn man es gar nicht wollte.
Und von innen kommende Kritik, die im gleichen System bleibt, müsste eine bessere Sprache sprechen, stärkere Bilder verwenden, eine griffigere Story haben als die Betrüger. Das ist in so einer perfekten Inszenierung überaus schwer.

Ähnlich verlaufend war dann auch die Diskussion im Publikum. Natürlich liegen Parallelen zwischen dem nackten Kaiser und dem Holocaust auf dem Tisch. Natürlich muss man nicht so weit ausholen und kann die Parallelen auch zur Tagespolitik ziehen (die dreifache Erwähnung des Kaiser-Märchens in drei verschiedenen Beiträgen in einer einzigen Spiegel-Ausgabe war für Pfabigan auch Anlass, seine Überlegungen niederzuschreiben).
Aber auch dabei ist die Lösung, der gelingende, zündende Einwand nicht greifbar. „Wir sollten die Politiker für 1,50 € pro Stunde arbeiten lassen“, war einer der Zurufe aus dem Publikum. „Aber mindestens ein halbes Jahr lang.“ – Netter kindlicher Einwand. Alle können zustimmen. Alle sehen das gleiche Bild. Nichts wird passieren.
Wir kennen dieses Prinzip schon lange, und wir haben noch immer keine Lösungen.
Ein bisschen Philosophie kann wenigstens die falschen Lösungen entlarven. Und man fühlt sich damit nicht so allein, wenn wieder mal das große gutgelaunte Rauschen nervt.

 

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Alfred Pfabigan
Kaiser, Kleider, Kind
Limbus Verlag