Strenger, aber nicht vernünftig

Strenger, aber nicht vernünftig

Carlo Strenger setzt seine Hoffnung für das Abendland auf Verachtung. Das ist plakativ, aber traurig und auch sehr weit zu kurz gegriffen.

Verachtung hat noch selten Probleme gelöst. Da ist schon eingerechnet, dass Verachtung mehr sein kann als bloßes Naserümpfen. Man kann Hindernissen oder Hürden mit Verachtung begegnen, um sich dann der eigentlichen Herausforderung stellen. Man kann (vor allem überlegenen) Gegnern mit Todesverachtung entgegentreten.
Verachtung kann überwunden werden, dann kann man sich produktiv mit etwas auseinandersetzen.

Da wundert es mich, wenn Carlo Strenger schon bei der Verachtung aufhören will. In seinem Essay „Zivilisierte Verachtung“ beschreibt Strenger ebendiese zivilisierte Verachtung als aufgeklärten Umgang mit nicht aufgeklärten Geisteshaltungen.
Eine Meinung „entspricht nicht dem aktuellen Wissensstand“, ist nicht durchargumentiert – Verachtung. Eine Tatsachenbehauptungen widerspricht anderen Tatsachen, die als – nach aktuellen Wissensstand – gesichert gelten – Verachtung. Jemand weiß nicht alles, was man zu einem Thema wissen könnte – Verachtung.

Jetzt bin ich selbst ein großer Freund umfassenden Wissens, ich bin auch sehr von der Idee angetan, Aussagen zu begründen und in argumentierbare, möglichst logische Zusammenhänge zu stellen, statt einfach nur Behauptungen aufzustellen.
Aber mir wäre Verachtung zu wenig.
Dazu muss man sagen: Man kann auch nicht aus jeder Position verachten. Verachten kann man, wenn man von einer Entscheidung, einer Behauptung nicht berührt ist, wenn man kopfschüttelnd weitergehen kann. Will man jedoch lernen, verstehen oder interagieren (was beispielsweise auch Bekämpfen) einschließt, dann kann man nicht verachten. Dann muss man sich mit der Sache auseinandersetzen, ihre Funktionsweise, ihre Logik analysieren, ihren sozialen oder historischen Kontext kennenlernen und lernen, wie man damit umgehen kann, um das Ergebnis doch noch in gewünschte Bahnen zu lenken.

Nichts anderes sagt ja schließlich auch der von Strenger kritisierte „postmoderne Relativismus“, den er als Vorgänger von politischer Korrektheit sieht. Dieser Relativismus betont die Möglichkeit, sich mit mehreren Perspektiven zu beschäftigen. Ich verstehe genau das als auch die Verpflichtung, solide Kriterien zu finden, Argumente zu analysieren und Informationen sorgfältig abzuwägen – alles Schritte, die Strenger als Elemente seiner zivilisierten Verachtung reklamieren möchte.

Auch diese disziplinierte sorgfältige Vorgangsweise ist aber nicht immer anwendbar. Nur ein kleiner Teil des Lebens gehorcht rationalen Gesetzmäßigkeiten. Und der Rest ist nicht nur Esoterik und Religion, sondern vielleicht auch Freude und Vergnügen. Es ist auch mit keiner sorgfältigen Abwägung zu erklären und entspricht nicht dem aktuellsten Wissensstand, sich als Binge-Watcher Streamingserien hinzugeben. Man kann das sogar verachten. Aber weder die Verachtung noch die Analyse dieses Verhaltens verändern oder verbessern hier etwas.

Strengers Lieblingsargument offenbart denn auch die Schwäche seiner Argumentation: Man müsse Meinungen bzw. Positionen zu Meinungen dem Ärztetest unterziehen. Von Ärzten erwarte man schließlich auch, dass sie fundierte rationale Entscheidungen auf dem neuesten Wissensstand treffen. – Das glaube ich nun nicht. Den meisten Menschen ist es egal, auf welchen Grundlagen Ärzte ihre Entscheidungen treffen, Hauptsache, sie heilen.

Politische Korrektheit, die eigentliche Gegenspielerin seiner Theorien, trifft Strenger so auch kaum. Was Verachtung gegenüber den Schwächen des Korrektheitskonzepts ausrichten könnte, lässt sich nicht sagen.
Und ich denke eher, dass wir in vielen Diskursen zu viel statt zu wenig Verachtung haben. Zweifellos oft aus zweifelhaften Motiven, die „richtige“, eben „zivilisierte“ Verachtung ist dann aber auch bloß eine weitere Form des Distinktionsgewinns – und steht vermeintlich allen Seiten offen. Da brauchen wir mehr.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

Sonst noch neu

Oswald Wiener, Probleme der Künstlichen Intelligenz

Maschinen gelten möglicherweise nur als intelligent, weil wir uns selbst für intelligent halten. Vielleicht ist auch menschliche Intelligenz aber nur ein flacher Formalismus. Ein Ausweg kann die Konzentration auf Emergenz statt Intelligenz sein. Aber auch die Frage, ob in einem Prozess Neues entsteht, ist nicht trivial.

Onur Erdur, Schule des Südens

Biografische Wurzeln in Nordafrika als prägende Elemente postmoderner Theorie – und als Ausgangspunkt zu einer Verteidigung von Postmoderne und Dekonstruktion gegen mutwillige Missverständnisse und akrobatische Fehlinterpretationen.

Medienfinanzierung: Last Exit Non Profit

Non Profit-Journalismus entwickelt sich als neuer Sektor auch in Österreich, Stiftungen unterstützen in der Finanzierung. Hört man den Protagonisten zu, ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass hier abgehobener, belehrender Journalismus gemacht wird, den man eben lieber macht, als ihn zu lesen.

Yuval Noah Harari, Nexus

Prinzip Wurstmaschine: Harari verarbeitet vieles in dem Bemühen, leichtfassliche und „originelle“ Einsichten zu formulieren und wirkt dabei fallweise wie ein geheimwissenschaftlicher Esoteriker. Auch bei Extrawurst weiß man nicht, was alles drin ist – aber das Ergebnis schmeckt vielen.

Meine Bücher