Abschied vom Beistrich

Ich bin jetzt offenbar wirklich alt. So alt, dass es bestimmte Formfehler gibt, die mich in der Sekunde dazu bringen, eine Zeitung zuzuschlagen, ein Magazin fallenzulassen, eine Webseite wegzuklicken oder einem Social Media Account zu entfolgen. Ich will mich nicht über diese Fehler ärgern müssen, ich empfinde es als Unverschämtheit, dass jemand, der oder die mir etwas erzählen oder erklären möchte, nicht einmal simple Grundregeln seines oder ihres Handwerks versteht.
Der Beistrich ist so ein Reizobjekt. Beistrichsetzung, die diese kleinen Zeichen als Dekorationsobjekte missbraucht, die sie willkürlich anstelle von Gedanken- oder Atempausen platziert, ist so ein KO-Kriterium in der Kommunikation.
Idiotenapostrophe, Deppenleerzeichen und andere Minimalia haben es bereits zu großer Berühmtheit gebracht. Idiotenbeistriche, die willkürlich in Satzfragmenten platziert werden, haben noch viel zu wenig Beachtung gefunden. Sie finden sich in Onlinezeitungen, deren Ergüsse offensichtlich von niemandem auch nur ein halbes Mal gelesen wurden, bevor sie veröffentlicht wurden, in Unternehmensfoldern und Imagebroschüren, die von Marketingabteilungen erstellt wurden, die anhand der Zahl der Beistriche wohl ausdrücken wollen, wie schwer es ihnen gefallen ist, diesen Text zusammenzustoppeln. Und sie haben eine besonders freundliche und sie willkommen heißende Heimat gefunden: politische Kommunikation.

Für Menschen mit einem Funken von Sprachgefühl sind vor allem die Social Media Accounts politischer Parteien ein beistrichtechnisches Drama. Politische Shareables sind ein entsetzliches Katastrophengebiet, in dem willkürlich gedroppte Beistriche für Unordnung sorgen wie quer über Straßen liegende Baumstämme nach dem Sturm, wie Treibholz, das sich in Brückenpfeilern verfangen hat, wie Elektroscooter, die achtlos auf engen Gehsteigen platziert werden.
Vielleicht simulieren die chaotischen Beistriche auch einen eigenartigen Sprechduktus des Kandidaten oder der Kandidatin, die hier beworben werden sollen, vielleicht sind sie auch das Ergebnis der von vielen Seiten auf den Text einprasselnden Kürzungs-, Änderungs- und Präzisierungswünsche. Oder sie sind ein Zeichen dafür, dass kurze Texte eben um ein Vielfaches schwerer zu verfassen sind als ausführliche Langversionen.
Sie sind jedenfalls auch ein Zeichen dafür, dass Texte und Inhalte von den Beistrichmissachtern kaum beachtet werden. Sinnlose Beistrichsetzung ist ein Zeichen dafür, dass Text und Inhalt achtlos eingestreutes Beiwerk einer Kommunikationsstrategie sind, die Geräusche erzeugen möchte, und dabei vergessen hat, dass dieser notwendige Lärm auch irgendwo entschlüsselt werden müsste. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Mission bereits für erfüllt gehalten wird, sobald ein paar vorgegebene Muster bunt ausgemalt sind.

Der Abschied vom sinnvoll eingesetzten Beistrich ist so auch ein Abschied vom Sinn in der Kommunikation, von verständlicher Sprache und von dem Respekt, den Kommunizierende ihrem Publikum erweisen sollten. Der Abschied vom Beistrich ist die Kapitulation vor Klickzahlen und anderen KPIs, denen Vorrang gegenüber Verständnis, Gespräch und Dialog eingeräumt wird. Und wer keine Kontrolle über seine Beistriche mehr hat, hat auch zum Teil die Kontrolle über sein Leben verloren.

Killerkasperl Dönmez

Efgani Dönmez ist Nationalratsabgeordneter, hat Ärger auf der Straße und zieht ein Messer. Ein paar Tage danach stellt sich heraus, dass er auch eine Pistole hatte und anscheinend öfter unterwegs bewaffnet unterwegs ist. Die Pistole wurde ihm in Urlaub geklaut – sie ist jetzt sicher in guten Händen bei einem anderen besorgten Bürger, der auch nur auf Recht und Ordnung achtet; vielen Dank für diesen Beitrag zu sehr Sicherheit in Europa.
Jetzt kann man natürlich mal die Nerven verlieren, gerade wenn man Kinder bedroht sieht. Es ist aber nicht besonders schlau, in deren Gegenwart eine bewaffnete Auseinandersetzung zu beginnen, vor allem, wenn man als erster eine Waffe zieht.
Ich weiß nicht, in welcher Welt Dönmez lebt. Das ist eher eine rhetorische Frage, die sich ein wenig auch auf seinen geistigen Zustand bezieht. Es ist eine Welt, in der es offenbar viele Bedrohungen gibt, eine Welt, in der erfolgreiche Frauen ihren Weg nach oben auf den Knien zurückgelegt haben, eine Welt, die ihm offensichtlich Angst macht.
Manchmal ist es verständlich, dass man sich nicht wohl fühlt, wenn die Umgebung ungewohnt ist. Manchen Menschen fehlen auch die Sensibilität und die Flexibilität, auf die Signale zu achten, die ihre Umgebung aussendet. Sie gehen nur von ihrem eigenen Bild aus. Das ist ein Zeichen von Unreife und ein persönliches Problem. Wenn solche Menschen zuviel Gehör bekommen, ist es auch ein soziales Problem.
Deshalb möchte ich dem Herrn Dönmez ein oder zwei Geschichten erzählen.

Mein Büro ist in Ottakring und ich habe gute Aussicht auf die Straße. Direkt vor meinen Fenstern gibt es ein paar Bäume und Bänke, dort sitzen oft Jugendliche und junge Männer, trinken manchmal was, glotzen im Sommer Frauen nach und reden oft zu laut.
In der Straßenbahnhaltestelle daneben saß vor einigen Tagen ein streitendes Pärchen. Ich habe sie nicht gesehen, nur gehört. Sie stritten ziemlich laut. Plötzlich wurde beide deutlich lauter, er dürfte auch ausgeholt und sie angegriffen haben. Die Jungs sind von ihrer Bank aufgesprungen und haben ein paar Schritte auf die beiden zu gemacht. Sie sind nicht weit gekommen, der Maurer von der Baustelle gegenüber war schneller. Er hatte passenderweise ein paar Minuten vorher das T-Shirt ausgezogen und ziemlich beeindruckende Schultern. Und er war auch bewaffnet nämlich mit einem Plastikkübel und einer kleinen Spachtel. Es war genug, dass er auf halbem Weg über die Straße kam.

Das streitende Pärchen trennte sich, die Frau konnte ihrer Wege gehen, er blieb zurück. Niemand musste ins Spital, nichts kam in die Zeitung.

Die zweite Geschichte hat mit meiner Frau zu tun. Die ist derzeit Bezirksrätin und (noch) keine Nationalratsabgeordnete, einen Kopf kleiner als ich und hat ungefähr 25 Kilo weniger. Auf dem Weg nach Hause hatte sie vor einigen Wochen auch Ärger: Vier Jungs habe einen auf dem Boden liegenden Junkie verprügelt. Sie hat ihnen freundlich erklärt, dass sie das nicht tun sollen, weil sie sonst die Polizei rufen muss. Nachdem die vier ihr gesagt haben, dass sie gerne auch verprügelt werden kann und weiter auf ihr Opfer eingedroschen haben, hat sie eben die Polizei gerufen.
Das bringt dann nur Auftritte bei der Polizei als Zeugin, nicht in Zeitungen. Killerkasperl Dönmez und sein Klappmesser hätten ja wahrscheinlich das Meidlinger Taschenfeitl-Massaker veranstaltet, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Vielleicht hätten sie sich aber auch im nächsten Bunker versteckt, und von dort aus die Kavallerie angefordert – denn hey, es ist gefährlich da draußen.
Es ist vor allem dann gefährlich, wenn Menschen jegliche Sensibilität dafür abgeht, was eigentlich rund um die passiert, was das bedeutet und wie man darauf reagieren sollte.

Da fällt mir noch eine dritte Geschichte ein, die uns wieder zurück nach Ottakring führt. Dort war ich vor über 25 Jahren eine Zeit lang Kickboxen. Damals gab es noch nicht so viele Tschetschenen in Wien, also hat man sich vor den serbischen Kids gefürchtet. Wenn die im Training darüber debattiert haben, wie sie sich gegenüber anderen, die sie blöd anschauen, am besten Respekt verschaffen können, hatte der Trainer einen Tipp für sie. „Wenn du glaubst, dass du Ärger kriegst, dann machst du das ganz einfach so: Du stellst deine Sporttasche ab und steckst deinen Zahnschutz in den Mund. Dann wird sich das der andere gut überlegen …“
Natürlich steckt da auch ein bisschen zu viel Drohung drin. Aber es ist wesentlich smarter als Nationalratsabgeordnete, die mit Waffen durch die Gegend laufen, wo sie eigentlich eine Angsttherapie machen sollten. Was sie schon gar nicht tun sollten, ist anderen zu erzählen, wie schlecht und gefährlich diese Welt ist.

Rick Veitch, Can’t Get No

Can’t Get No ist einer der seltenen Glücksfälle von Erzählungen, die man nicht wirklich genau versteht, auch nicht verstehen kann und nicht verstehen möchte – sie ziehen einen als Leser trotzdem ganz unwiderstehlich in ihren Bann.
Worum geht es? Der Protagonist hat den wirklich permanenten Permanent-Marker erfunden, der in alle Ewigkeit hält und dem man nicht beikommen kann; er widersteht allen Entfernungsversuchen. Das macht den Stift bei Graffiti-Artists beliebt, bei der Stadt New York, in der die Story ihren Lauf nimmt, allerdings äußerst unbeliebt.
Das Unternehmen wird verklagt und steuert auf den Ruin zu. Der Protagonist geht erst mal einen trinken, lernt dabei zwei Frauen kennen, die, als er dann stockbetrunken auf ihrer Couch liegt, die Stifte entdecken, die er als anständiger Firmenchef eingesteckt hat.
Sie bemalen ihn am ganzen Körper wie einen tätowierten Südsee-Bewohner, auch im Gesicht.
Das ist natürlich den Versuchen, seine Firma zu retten, nicht förderlich. Und das führt zu einer rasanten Erzählung quer durch die USA, die noch dazu damit beginnt, dass gerade zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center einschlagen.
Can’t Get No ist eine 9/11-Story, dann wieder doch nicht, eine Männer-auf-der -Suche-Story und ein surrealer Marsch durch amerikanische Geschichte, vor allem aber ein Buch, das man nicht aus der Hand legen möchte. Die Story ist zwar eine andere und auch ganz anders erzählt, aber beim Lesen erinnert Can’t Get No auch an Hector Oesterhelds Eternauta.
Dabei verzichtet Veitch eigentlich auf Text. Die Bilder werden zwar von einer Geschichte begleitet – es ist aber eher eine Art poetischer Fluss, der entlang der Zeichnungen läuft, manchmal dazu passt, manchmal weniger. Ich wollte das Buch in einem durchlesen und dann am liebsten gleich noch mal lesen, um auf die vielen anderen Ebenen zu achten, die mir beim ersten Mal entgangen sind.
Veitch veröffentlicht seine Comics im eigenen Sun Comics-Verlag; Can’t Get No wurde dann auch noch mal bei Vertigo Comics aufgelegt. In Österreich bekommt man Veitchs Bücher am besten bei Sebastian Broskwas Pictopia. Sebastian hat das Buch auch mir in die Hand gedrückt und wahrscheinlich werde ich jetzt noch viele weitere Veitch-Bücher kaufen müssen.

Literatur aus Afrika

Als ich begonnen habe, mich für die zeitgenössische Literatur Afrikas zu interessieren, hatte ich zuerst die Idee, Autorinnen und Autoren zu suchen, die in ihren Heimatländern leben. Ich wollte Bücher über den Alltag aus erster Hand lesen – nicht aus Erinnerungen oder Überlieferungen.
Nach einigen Reisen habe ich das etwas gelockert. Gar nicht so sehr, weil es so wenig Literatur gäbe, die diesem Kriterium entspräche, sondern weil die Bedingungen des Alltags in vielen Ländern Afrikas nicht wirklich schreibförderlich sind. Wenn du am Papier festklebst, gerade mal keinen Strom hast, um den Laptop zu laden, oder einfach mal nur möglichst gedankenlos in der Hitze ausharren willst, sind das nur ein paar von vielen Gründen, die nicht gerade Produktivität fördern.

Ich schreibe über die afrikanischen Autorinnen und Autoren, die ich lese. Nicht so sehr, um etwas über afrikanische Literatur zu erzählen, sondern um die Namen der SchriftstellerInnen im Gespräch zu halten. Manche sind bekannter, von vielen habe ich vorher noch nie gehört. Die Sammlung solle eine Quelle für alle werden, die auch mal am Anfang dieser Suche stehen.

Und zusätzlich möchte ich allen interessierten die jährlichen Sammelbände des Caine Prize oder die Veranstaltungen und Publikationen von Femrite ans Herz legen. Der Caine Prize ist ein jährlich stattfindender Literaturwettbewerb; Beiträge, die es auf die Shortlist schaffen, werden in eigenen Bänden veröffentlicht und sind auch recht leicht online zu bekommen.

Und die ständig wachsende Sammlung zu afrikanischer Gegenwartsliteratur gibt es hier.

Daneben wächst hier übrigens noch eine Sammlung afrikanischer Zeitungen.

Ich war der zweite Ewok von links

Manchmal steht man ratlos vor der Ankündigung, ist sich nicht sicher, ob man den Namen schon mal wo gehört hat, ob man ihn gehört haben sollte. Manchmal fragt man sich, ob das jetzt eine popkulturelle Bildungslücke ist oder erstes Anzeichen altersbedingter Vergesslichkeit.
Von vielen Stars, die auf Comic Cons unterschiedlicher Größenordnungen aufgeboten werden, haben auch Aficionados noch nie gehört. Ich habe in punkto Entertainment ziemlich viel verpasst und bin deshalb eher zurückhaltend, wenn ich jemanden nicht kenne. Seit ich Comics produziere, war ich auch als Verleger auf Cons, zu denen Chuck Norris, Carl Weathers (Apollo Crew) oder Robert Englund (zugegeben, musste ich schon googeln: Freddy Krueger) als Stargäste eingeladen waren. Die meisten Gäste waren aber Seriennebendarsteller, deren Charaktere vor kurzem gestorben waren und jetzt noch die Gelegenheit nutzen konnten, ihre Bekanntheit hochzuhalten. Für andere sind Con-Auftritte vielleicht der einzige Weg zur Berühmtheit (und auch der ist leider nicht nachhaltig). Ich habe mir seinen Namen nicht gemerkt, aber eine Zeitlang tingelte ein Nebendarsteller von “The Walking Dead“ durch die Cons. Seine Ansage: “Ich war 30 Zombies“ – 30 vielleicht zehnsekündige Auftritte, in denen seinem Alter Ego der Schädel gespalten, abgehackt oder von Werkzeug durchbohrt wurde, begründeten allerdings auch keine dauerhafte Karriere.

Bei kleineren Cons ist das Stargäste-Aufgebot manchmal regelrecht erstaunlich. Eine kleine Convention, die vergangenes Jahr zum ersten Mal stattfand, hatte gleich vier Stargäste aus Star Wars zu bieten. Pam Rose, Femi Taylor, Brian Wheeler und Alan Austen wirkten alle – in nun ja, kleineren Rollen – an dem großen Science Fiction Spektakel mit. Femi Taylor war eine Alien-Tänzerin, die von einem Monster gefressen wurde, Pam Rose war für einige Augenblicke als Alien in der Küche zu sehen. Alan Austen war einer der zahlreichen Stormtrooper und immerhin in einigen Szenen auch Körperdouble für Harrison Ford und der kleingewachsene Brian Wheeler verkörperte einen kleinwüchsigen Ewok im Ganzkörper-Plüschkostüm. Alle zusammen bringen es wohl auf eine Minute Leinwandzeit, von keinem war das Gesicht zu sehen. Auch danach war keinem eine größere Karriere beschieden.

Wer jetzt glaubt, dass hier ein hartnäckig historisch interessierter Fan Raritäten ausgegraben hat, der irrt. Alle vier werden, wie viele andere Kleindarsteller und Statisten großer Produktionen auch, von eigenen Agenturen vermarktet, die darauf spezialisiert sind, Stars verschiedener Preisklassen und Events verschiedener Größenklassen zu bringen.
Für die Stars ist das in der Regel ein Groschengeschäft, und manchmal braucht man wohl auch ein gesundes, gestärktes und geerdetes Selbstbewusstsein. An manchen Wochenenden bittet kein einziger Fan um ein Autogramm, während der andere, etwas teurere Stargast, von Fans und Groupies förmlich belagert wird.
Pam Rose und Alan Austen reden manchmal auch über ihr Stardasein – es klingt nach einer abwechslungsreichen Alternative zum ruhigen Großelterndasein, nach Freude an kostenlosen Reisen und nach durchaus immer noch ein wenig Lust, immer wieder mit neuen und jungen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Auch Stars haben also ihre eigene Klassengesellschaft. Sind sie dann nur sinnloser Aufputz, der niemanden interessiert? Mitnichten. Auch die kleinen Nebendarsteller waren schließlich einige Zeit am Set – und sind so begehrte Gäste in Panels, Talks und für Interviews. Auch wenn sie nur am Rande dabei waren, sind sie doch Zeitzeugen, auch wenn sie nicht alle Geschichten selbst erlebt haben, haben sie sie doch aus zweiter Hand gehört – und außerdem sind sie ein günstiger Weg, große Brands und Namen mit dem eigenen Event verbinden zu können.
Stargäste, die keine Stars sind, sind eine schöne Illustration für die Suche nach dem Echten, nach dem authentischen Touch, nach der bewegenden Story, nach etwas, das Autorität und Ausstrahlung verleiht. Dabei, das ist ein kleiner Widerspruch, muss und will man dann allerdings gar nicht viel tiefer graben. Es muss nicht der große Name sein – es reicht eine Verbindung zum großen Namen. Es zählt die große Geste – was auch immer sie eigentlich sagen wollte. Und es ist geradezu eine eigene Kunstsparte, ein stargerechtes Leben als unbekannter Star zu führen. UntergrundkünstlerInnen, die Zeug machen, das niemand kennt, würde ja wirklich niemand sehen wollen. – Wobei manche genau deshalb auf Cons gehen, um genau diese Menschen zu suchen ….

 

Behaupten ist eine journalistische Kunstform

Es ist ja nicht so, dass sie keine Argumente hätten. Argumente sind billige Massenware, man findet sie überall, wenn man sie nicht findet, dann erfindet man sie eben. Erfundene Argumente sind auch nicht unbedingt gelogen – es kommt ja immer darauf an, wie man sie verwendet. Und perfiderweise kommt es auch drauf an, wie der andere sie verstehen möchte, worauf er sie anwendet.
Die Rede ist von Meinungsmaschinen und journalistischen KommentatorInnen, die in der mißlichen Lage sind, immer wieder flächenfüllende Zeilen absondern zu müssen, die ihrem Habitat entsprechen, sich auf ein aktuelles Thema hin verbiegen lassen, und nicht gleich auf den ersten Blick als ganz dumm entlarvt werden können.
Ihre Kunst ist die des Behauptens.

Unverkennbare Anzeichen dieses ständig wiederkehrenden Dramas in den Kommentarspalten ist einerseits die Verwendung sich anbiedernder Sprachmuster (etwa von Begriffen, die sich vermeintlich an Jugendkulturen wenden) oder das Bemühen großer weltumspannender Ideen oder wissenschaftlicher Lehren (auch und vor allem dann, wenn die zu diesem spezifischen Punkt genau gar nichts zu sagen haben).

Zwei Beispiele dazu:
Martina Salomon greift für den Kurier in die Tasten, um Sebastian Kurz von seiner Seligsprechung freizusprechen. Es sei, sinngemäß, ein revolutionärer Akt gefestigter Identität, Individualität und Authentizität, seinen Glauben zu zeigen. Gerade in Zeiten, in denen es „urcool“ sei, im Rahmen von Pride-Veranstaltungen gegen Diskriminierung aufzutreten, und „urpeinlich“, in die Nähe der Kirche zu kommen. (Anmerkung: Christian Kerns Pride-Auftritt, weil der bei Salomon angesprochen wird, fällt eher unter die Kategorie urpeinlich, aber lassen wir das.)
Greta Thurnberg dagegen sei sakrosankt und überhaupt gibt es viele Toleranzprobleme.
Geschenkt. Nur lenkt diese Schwurbelei vom eigentlichen Thema ab: Kurz wurde nicht für Nähe zur Kirche kritisiert. Auch nicht mal für die Inszenierung dieser Nähe. Die meiste Kritik betraf die zweifelhafte Geschäftstüchtigkeit der Sekte, vor deren Karren sich ein ehemaliger Spitzenpolitiker spannen ließ. Andere Stimmen kritisierten Kurz’ Neigung zu sektenhaften Inszenierungen. Und wieder andere erinnerten an notwendige Trennungslinien zwischen Kirche und Staat. Kritik an persönlicher Religiosität habe ich nirgends gesehen.
Aber das macht ja nichts – man kann ja irgendwas behaupten. Dann werden die eigenen Argumente auch griffiger – oder sie werden überhaupt erst zu Argumenten.

Das zweite Beispiel:
Die „Welt“ stellt als Zeitung Blattlinie offensichtlich auch über schnöde Fakten. Das zieht sich in Zwischentönen, Themenauswahl und vielen anderen Details durch, und das macht Zeitungen ja auch aus.
Manchmal lässt es einen ander auch ein wenig Kopfschütteln.
Ich war jetzt ein paar Tage in München und die „Welt“ war die einzige Zeitung beim Frühstücksbüffet. In den letzten Tagen mutierte so ausgerechnet Ulf Poschardt zum Migrationsexperten und kommentierte aktuelle Zahlen zu Migration und Verteilung von Flüchtlinge. Nach absoluten Zahlen die Deutschland schließlich an fünfter Stelle jener Länder, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergen. Und Poschardt meinte tatsächlich, das seine eine tolle Leistungen deutschen Wirtschaft, die beweise, wie toll die deutsche Wirtschaft sei. Denn schließlich müsse erst verdient werden, damit etwas verteilt werden könne.
Klingt ja nicht unschlüssig. Wenn man allerdings weiterblätterte, war in der gleichen Zeitung noch eine nähere Analyse, die unter anderem die Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge in Beziehung zur Wirtschaftsleistung der aufnehmenden Länder setze. Da rangiert Deutschland nicht mehr unter den Top Ten. An der Spitze sind Länder wie Sudan, Uganda, von deren Wirtschaftssystem man bislang gar nicht wusste, dass sie so großartig funktioniert (Details über eine sehr wichtigen Wirtschaftszweig Ugandas, die Motorradtaxis, liest man übrigens in „The Big Boda Boda Book“).

Aber hey, nichts für ungut.
Zeitungen funktionieren so. Und mir liegt es fern, einzelne ProtagonistInnen herauszugreifen. Ich analysieren Argumentationsmuster und bin auf der Suche nach neuen Erklärungen für sich verändernde Kommunikationsverläufe. Eines der wichtigsten Muster ist eben das bloße Behaupten – das hat daran arbeitet, sich den Rang einer eigenen Kulturtechnik von der Art des Feuermachens zu erlaufen.

PS: Martina Salomon erzählt in ihrem Kommentar etwas von satanistischen Kulten bei Metal-Konzerten. Nachdem ich auch das so nicht nachvollziehen konnte, zieren stattdessen die Covers der entzückenden Monster-Dämonen-Zombie-Comics „Doom Metal Kit“ diesen Beitrag. Die Comics gibt es hier.

Erfahrener Sektenführer

Wer Religion jedweder Art vor sich herträgt, war für mich politisch immer schon im Abseits, gerne auch im Jenseits. Dabei ist mir egal, ob es um Gekreuzigte, Hellseher oder Spaghettimonster geht.
Ich habe auch nichts gegen Religion. Ich akzeptiere nur keine religiösen Argumente als Grundlage für politische Entscheidungen, ich akzeptiere keine religiösen Vorschriften als Grundlage sozialen Zusammenlebens und ich akzeptiere auch keine Religion als Ersatz für Vernunft.

Man muss als Politiker_in sicherlich nicht zwingend Abstand zu jeder Erscheinungsform von Religion halten. Im Gegenteil: Wenn für jemanden Religion wichtig ist, dann soll er oder sie das durchaus sagen – damit andere wissen, woran sie sind. Und warum auch nicht Kirchen für politische Propaganda einplanen? Andere machen das ja auch mit Gewerkschaften, Bünden oder Kammern.

Wäre es nicht Sebastian Kurz, dann fände ich es aber bestürzend, wenn sich jemand, der Kanzler_in werden möchte, von einer dubiosen fundamentalistischen Organisation für deren Propaganda einspannen lässt. Bei Kurz bestürzt mich das nicht, weil er ja schon mehrfach bewiesen hat, dass er keine Ahnung für Soziales, Historisches oder Feinstoffliches hat.
Zum anderen wundert es mich nicht, weil wir diese Bilder aus der Stadthalle ja schon kennen. Es war 2017, Wahlkampfauftakt der türkisen Sekte, als schon einmal zehntausende verzückte Jünger dem Messiasdarsteller zujubelten. Nur waren damals Lichtssetzung und Inszenierung noch besser.

Was mich vielmehr wundert, ist warum irgendjemand, der sich in Österreich realpolitische Entwicklung erhofft, in Kurz auch nur den Funken einer Hoffnung sehen kann. Ich nehme diesen Auftritt als ein weiteres Zeichen dafür, dass wir es mit einem Menschen zu tun haben, der schlicht zu wenig von der Welt außerhalb seiner eigenen Vereinskreise gesehen hat, an dessen ihm oft so hartnäckig nachgesagtes sagenhaftes politisches Talent ich auch nicht mehr glauben kann – dafür hat er schon zu oft das Gegenteil gezeigt.

Vergesst die Sektenführer, wählt Politikerinnen

Egal, Wahlen stehen an und es gibt Alternativen. Und da muss man auch ein bisschen direkt sein: Henrike Brandstötter bewirbt sich um ein Nationalratsmandat auf der Liste der NEOS. Dazu braucht sie eure Unterstützung, und warum sie nicht nur in Sektenfragen die bessere Kandidatin für das Parlament ist, lest ihr hier.

Henrike Brandstoetter Neos Kandidatin Nationalrat

Disclaimer: Henrike Brandstötter ist meine Frau. Andere und wichtigere Gründe für diese Empfehlung lest ihr hier, hier und hier.

Hannah Arendt, Vita activa: Es geht um Freiheit

Hannah Arendt Vita activa

Wozu die Anstrengung, könnten nicht zuletzt postmodern geschulte Relativieren und Nivellieren meinen. Ist es nicht gleich, mit Menschen ihre Zeit verbringen, sind nicht unterschiedliche Tätigkeiten gleich viel wert und gleichermaßen Ausdruck von Menschlichkeit? Geht es um die Herausarbeitung eines idealisierenden Menschenbildes? Welches Problem soll damit gelöst werden?

Möglicherweise verstellt dieser Zugang schon den Blick auf das Wesentliche. Hanna Arendt holt in „Vita activa“ weit aus und analysiert Ideale und Leitmotive menschlichen Lebens seit der Antike. Der rote Faden, der sich dabei von der Antike bis in die Gegenwart (der 50er Jahre) zieht, sind langsame Verschiebungen in der Wahrnehmung des, was als die eigentlich menschliche Tätigkeit gesehen wird.
Das kann in Sinn von Idealen verstanden werden. Dann ist die Frage, welche Art der Tätigkeit die menschlichste ist. Es kann beschreibend verstanden werden. Dann richtet sich der Blick darauf, was Menschen eigentlich tun, wenn sie der Meinung sind, tätig zu sein. Und es kann um Notwendigkeiten und Imperative gehen. Was muss der Mensch machen, was ist notwendig (um sich selbst zu erhalten, beispielsweise, oder um andere wünschenswerte Ergebnisse zu erreichen.)

Handeln, Herstellen, Arbeiten

Die Entwicklung geht in Arendt Darstellung dabei vom öffentlichen Handeln über das Herstellen zum Arbeiten. Öffentliches Handeln war in der Antike das Modell von Politik – und es war Luxus, der jenen vorbehalten war, die nicht arbeiten mussten. Arbeit war nieder Tätigkeit (praktisch egal welcher Art), und sogar ein armes kontemplatives Leben war souveräner als eines, das auf Arbeit angewiesen war.
Das Teleskop als Instrument, um neue Welten zu erkennen, als Symbol für das Ende des geozentristischen Weltbildes, läutet für Arendt den Übergang von der durch Handeln dominierten Ära zu einer Zeit des Herstellens ein. Mit dem Aufkommen von Wissenschaft und Technik wurde das Beherrschen dieser Tätigkeitsformen die dominierende Weise menschlicher Existenz.
Arbeit dagegen war nie um ihrer Selbst willen relevant. Ökonomisch interessierte Philosophen wie Smith und Locke sahen in Arbeit die Quelle von Eigentum und Reichtum – das verhalf ihr zu einem gewissen Stellenwert. Marx entdeckte die Arbeitskraft als etwas, das jeder und jede aufbringen kann. Der Stellenwert von Arbeit orientiert sich also vorrangig an Tatsachen und Chancen: jeder kann arbeiten, es braucht kein Talent und keine Mittel dazu.

Herstellen unterscheidet sich in Arendts Sicht auch dadurch von Arbeit, dass das Hergestellte unabhängig vom Hersteller und vom Herstellen existieren kann: Es ist irgendwann fertig und von da an allein in der Welt unterwegs. Arbeit dagegen schafft nichts; das Ergebnis von Arbeit ist die Möglichkeit des Konsums. Wer gearbeitet hat, kann konsumieren, und nachdem laufend konsumiert wird, muss auch laufend gearbeitet werden.

Glückskalkül schlägt Nutzen, Konsum sticht Produktivität

Es ist durchaus wertend, wenn Arendt den Homo faber vom Animal laborans unterscheidet. Das ist es auch, wenn sie festhält, dass Arbeitskraft keine Naturkonstante sei und eben nur in der Arbeit existiere – weshalb die Befreiung der Menschen von Arbeit auch keine Befreiung der Produktivität mit sich bringen werde, „die überschüssige Zeit des Animal Laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit.“

Arendt hält den Homo Faber für gescheitert. Nützlichkeit, eines der Ideale des Homo faber, habe lange dominiert, jetzt sei aber ein Glückskalkül vorherrschend. Und dem entspricht die Einfachheit der Arbeit, zusammen mit dem Versprechen, möglicherweise Reichtum zu produzieren, viel besser und müheloser.

Hanna Arendt gibt in Vita activa keine Handlungsanweisungen; auch direkte Wertungen fehlen großteils. Es ist allerdings eine klare Präferenz für das Aktive zu erkennen. Entscheidungsspielräume, argumentierte, nachvollziehbare Entscheidungen, Handlungsmöglichkeiten – all das sind erstrebenswerte Alltagselemente. Tätig und menschlich wird es für Hannah Arendt offensichtlich auch dort, wo Kommunikation unverzichtbar ist. Arbeiten kann man auch allein, Handeln und Sprechen nicht. Es ist aber weniger der Wert des Sozialen, der den großen Unterschied macht, sondern die Möglichkeit der Verständigung. Durch diese schaffen wir Beziehungen, bewegen wir etwas, sind wir eigentlich menschlich.

Freiheit, Verständigung, Beziehungen und Klarheit

Man kann Hannah Arendt kulturkritisch lesen und eine Klage über den Verfall von Fertigkeiten lesen. Man kann sie politisch lesen (wobei mich die zumindest zuletzt tendenziell stark linke Rezeption recht verwundert; Arendt hat schließlich schon vor 50 Jahren den Übergang von einer Klassen- zu einer Massengesellschaft diagnostiziert).
Ich sehe die für heute am meisten weiterdenkenswerten Gedanken vor allem dort, wo Arendt über Verständigung, Macht, Entwicklung und Herrschaft schreibt. Dort lässt sich auf mehreren Ebenen erkennen, dass das Fehlen von Bewegungsfreiheit, von der Freiheit, in Dialog zu treten (sei es durch Zwang wegen des Drangs, ausschließlich eigene Agenden durchzusetzen), von Sinn (weil kein Wert mehr auf Verständigung gelegt wird) und von der Möglichkeit (und Fähigkeit), frei und jederzeit zwischen Privatheit und Öffentlichkeit unterscheiden zu können, die eigentlichen Trennlinien sind, entlang derer sich tätiges und untätiges Leben unterscheiden.
Ich denke, dass in dieser Frage in unserer Zeit der Analyse von Kommunikations- und Verständigungsformen dabei die höchste Bedeutung zukommt. Auch dabei, im Gespräch, in der öffentlichen Unterhaltung, bewegen wir uns nämlich vom Herstellenden, Sinn stiftenden, zum bloß Platz Besetzenden und Geräusche Machenden.
Das Behaupten ersetzt Dialog und Diskurs und stellt und unterstützt Herrschaftsansprüche, von denen man sich später schwer wieder befreien kann.
Das ist noch kein ganz runder Gedanke und einer, der sich weniger auf Hannah Arendt als auf ein zeitgemäßes Equivalent zur ihrer Arbeit ausrichtet. Aber ich komme darauf zurück.