Bubi braucht Beachtung

Manche Menschen bekommen Aufmerksamkeit. Das ist manchmal schön, kann auch lästig werden. Andere Menschen hätten gern Beachtung, Und hängen sich dann gern an die, die sie haben, und belästigen sie.
Die meiste Zeit im Jahr sind das Paparazzi (sind die nicht eigentlich schon aus der Mode gekommen?), Autogrammjäger und Stalker. Rund um Wahlen sind es dann Leute aus dem politischen Ausgedinge, die mit möglichst dummen und an den Haaren herbeigezogenen Aussagen Aufmerksamkeit suchen.
Deren Profile sind einander oft erstaunlich ähnlich:

  • Sie haben es bei Organisationen praktisch aller politischen Couleurs probiert, aber nichts erreicht.
  • Sie sind überall im Streit geschieden und versuchen, die schlechte Nachrede über ihre ehemaligen (Partei)Freunde als Publicity-Motor zu nutzen.
  • Sie betreiben irgendwelche selbstinitiierten Initiativen zu NoNa-Themen, hinter deren Fassade sie sich zurückziehen, um sich einen Hauch von Relevanz zu retten.
  • Sie verdingen sich im Kloaken-Journalismus und verrohen dort vollends.
  • Sie betreiben irgendwelche Consulting- und Coaching-Buden und schaffen es manchmal vorübergehend, die Verachtung, die ihnen entgegenschlägt, als Beachtung und Bedeutsamkeit auszugeben.
  • Ihre Meinungen wechseln sie wie Fähnchen im Wind.

Das Erstaunliche daran: Solche Leute finden in Österreich lange Zeit immer wieder irgendwo ein Aus- und Unterkommen. Gerad in einem kleinen Land sollte man ja davon ausgehen, dass sich Idiotie und Wadlbeisserei als einzige Referenzen schnell herumsprechen und man zu solchen Leuten auf Distanz geht. Aber wahrscheinlich trägt genau diese Enge auch dazu bei, dass man solche Leute eh ganz gut unter Kontrolle hat und sich über ihre Kapriolen amüsiert, solange man damit auch noch ein paar Cent verdienen kann.

Die ethische Frage, wie man damit lebt, wenn man seine Reputation auf Lügen, Unterstellungen und Untegriffen aufbaut, interessiert mich dabei weniger.
Ich finde die logisch-strukturelle Perspektive interessanter. Ich betrachte dieses Verhalten als beispielhafte Ausprägung einer neuen Kulturtechnik, die im Entstehen ist.
Kulturtechniken sind Methoden, mit denen sich Herausforderungen der Umwelt besser bewältigen lassen. Je na Perspektive kann das etwa Ackerbau sein, es kann aber auch der Umgang mit Reittieren oder Fahrzeugen sein, auch Disziplinen der Informatik lassen sich als relevante Kulturtechniken der Gegenwart interpretieren.
Die Technik, die ich hier im Auge habe, ist das Behaupten. Die These ist: Es ist eine eigene Kulturtechnik, Dinge in den Raum zu stellen, Zusammenhänge zu suggerieren, andere Menschen und deren Handlungen in ein bestimmtes Licht zu rücken, sich selbst Relevanz zu erstreiten – ohne dabei auch nur ein einziges Argument vorzubringen, das diesen Namen auch verdient hätte.
Nichts Neues, könnte man einwenden, die Revolverpresse beherrscht diese Technik im großen Stil schon seit gut 100 Jahren. Dem halte ich entgegen: Der Revolverpresse standen Geschäftsinteressen im Vordergrund; die Behauptungen waren Rufmord, Verleumdungen und Erpressungen, nicht viel anders als klassische Intrigen die sich noch viel weiter zurückverfolgen lassen. Dem Kulturtechniker der Gegenwart dagegen geht es in erster Linie um Aufmerksamkeit, Beachtung und soziales Kapital. Er instrumentalisiert, attackiert und denunziert andere nicht um derentwillen oder um einen Streit auszutragen – er tut es, um sie, um seine Umgebung, um alle anderen Lebenszeichen, die etwas von seinem Lebenselixier, der auf ihn gerichteten Aufmerksamkeit absaugen könnten, übertönen und kontrollieren zu können. Es darf in dieser Welt keine zweite Meinung geben, Ambivalenzen dürfen nicht toleriert werden. Ambivalenzen stören das Geschäft, damit sind sie Zeitverschwendung.
Diese Form des Behauptens vollzieht sich manchmal explizit, manchmal ist sie den Akteuren gar nicht bewusst. Die Kulturtechnik des Behauptens ist damit Nachfolgerin und Erweiterung der schlichten Ignoranz – wo Ignoranz nur reduzierte, ist stures Behaupten ein expansiver und aggressiver Vorgang, der sich gerne in Harmlosigkeit tarnt. Man sagt ja nix, man redet ja nur, sagen ihre Protagonisten, wenn man sie auf ihre Unsinnigkeiten anspricht.
Im Gegensatz dazu kann Behaupten allerdings auch eine sehr produktive Technik sein – für die vorhin beschriebenen Problemjungs gilt das aber nicht, produktive Beispiele finden sich eher in Kunst und Kultur.

Steile These? Dem widme ich gerade eine etwas größere Arbeit, mehr zu “Das große Behaupten“ gibt es immer wieder auf diesem Kanal.

Robert Pfaller, Erwachsenensprache

Es ist schwer, in den Nebeln von Neoliberalismus und Postmoderne bei Laune zu bleiben. Wo diese Begriffe als Kampfbegriffe eingesetzt werden, um eine gefällige Abwehrhaltung als Vorbedingung zu suggerieren, fällt es mir schon sehr schwer, weitere Argumente noch ernstzunehmen. Robert Pfaller mischt in „Erwachsenensprache“ gekonnt einen dampfenden Giftcocktail, den er dann mit den dümmsten Klischees der von ihm kritisierten Sachverhalte garniert und genüsslich fragend, ob man das wirklich trinken wolle, serviert.
Es ist ein bisschen langweilig, Sachverhalte zu kritisieren, indem man die schlechtesten Argumente für sie hernimmt, auseinandernimmt und die Sache dann anhand der Kritik an den schlechten Argumenten durch den Kakao zieht.
Es ist ebenso wenig spannend, allgemein gehaltene Tiraden ohne konkrete Akteure zu lesen. Wenn Pfaller über political correctness schreibt, ist der Weg zur Verschwörungstheorie nicht weit: Nie wird klar, wer was gemacht haben soll, wo Ursachen oder Gründe zu sehen sind, oder gar, was eine angemessene Reaktion wäre; es bleibt stets beim nebulösen „die“, manchmal auch „wir“. Eines meiner K.O.-Kriterien bei Texten über political correctness ist der Verweis auf nicht näher genannte „amerikanische Universitäten“ und nicht näher beschriebene Auswüchse, die sich an diesen abspielen sollen. Pfaller braucht nur wenige Seiten, um darauf zu sprechen zu kommen.

Was möchte er eigentlich darstellen?
Neoliberale Identitätspolitik, die in Verbindung mit political correctness individuelle Schwächen und Vorlieben in den Vordergrund stellt, ist eine Verschleierungstaktik, die davon ablenken soll, dass die Verhältnisse rauer und das gesellschaftliche Klima unsozialer wird. – Das ist eine These, die man aus dem Buch herausdestillieren könne. Das könnte jetzt eine gesteuerte Aktion irgendwelcher Eliten sein. Es könnte aber auch eine Reaktion zur Selbsttröstung der zu kurz gekommenen sein – schließlich argumentiert Pfaller sehr gerne in der psychoanalytisch dominierten Nietzsche-Lacan-Žižek-Schiene.

Die psychoanalytische Version wäre mir da immer noch lieber als die verschwörungstheoretische; beide sind auch durchaus amüsant zu lesen. Abstrus wird es allerdings anhand der Beispiele, Zitate und Anspielungen, mit denen Pfaller seine Überlegungen illustriert.
So führt er etwa Ali G, die Kunstfigur des Comedians Sacha Baron Cohen, als Paradebeispiel für den Postmodernen Nichtskönner an, der auch für das Nichtskönnen Respekt einfordert. Ali G sagt jetzt zwar tatsächlich oft „Respect!“ – allerdings in den seltensten Fällen als Forderung für sich selbst, sondern als Äußerung des Erstaunens, der Bewunderung oder der Ratlosigkeit gegenüber anderen.
Auch für Mansplaining hat Pfaller eine eigene Theorie: Der Erklärreflex älterer Männer (die nicht immer biologisch alt sein müssen), sei Teil eines Spiels, einer Inszenierung von gepflegter amüsanter Konversation, in dem die Frau, der erklärt wird, die Kontrolle behalte – ähnlich wie der dominierte Part in SM-Beziehungen. Das ist sicher in gewisser Weise so – nur ist eben nicht das ganze Leben eine Cocktailparty, auf der man belanglose amüsante Konversation sucht. Manchmal müssen Entscheidungen getroffen, Budgets verplant oder Jobs vergeben werden. Schrecklich banale Dinge, aber leider oft wichtiger.
Keinen großen Bezug zur alltäglichen Praxis beweist Pfaller auch, wenn er sich über die Hochkonjunktur des Begriffs „Teamfähigkeit“ mokiert. Ich habe einige banal-wirtschaftliche Vorstellungsgespräche hinter mir, sowohl als Bewerber als auch als Vergebender, und noch nie, niemals ist dabei eine ähnliche Frage gefallen wie: „Und sind Sie auch teamfähig?“ Natürlich überschwemmt dieses Wort Stellenanzeigen, natürlich wissen alle, dass dieses Wort nichts bedeutet und natürlich steckt hier der unbezwingbare Widerspruch drin, dass das Teammitglied hervorragende Einzelleistungen bringen soll, um dann, wenn die nicht mehr gebraucht werden, widerspruchslos zurückzustecken – aber das ist Politik. Politik, die jedem, der mal gearbeitet hat, klar ist – kein geheimer Code, der die Unterdrückung der Massen im Mittelmaß befeuert. „Teams“ wie sie die Kooperationsforscher in der Verhaltensökonomie untersuchen, gibt es im übrigen abseits der klassischen Fließbandarbeit kaum.

Pfallers Überlegungen führen den Leser oder die Leserin immer wieder an den Punkt, an dem man unweigerlich schmerzlich-peinlich berührt denkt: „Ohje, was für ein Unsinn!“. Es ist ein Gefühl wie der grundsätzlich nette Wirtshausabend, an dem die grundsätzlich nette Bekanntschaft dann doch etwas zu weit ausholt, dahinschwadroniert und sich in Sackgassen redet, aus denen nur ein Weg mit sehr viel Selbstkritik und überraschenden Wendungen hinausführt.
Das bietet das Buch allerdings nicht.

Das ist schade, umso mehr wenn man der Diagnose der Überempfindlichkeit, der Konzentration auf Nebenschauplätze und des Verlusts von kulturellem Repertoire zustimmen würde. Das Problem ist aber, dass Pfaller kulturelle mit politischen und psychoanalytischen Schauplätzen mischt und daraus Argumente strickt, die eher Vorwürfe als Erklärungen sind.
Auch die Überlegung, dass Menschen möglicherweise vielmehr Haustiere als selbständige, selbstbestimmte, wilde und gefährliche Menschenraubtiere sind, ist eine nette Allegorie, die aber auch nur dann erhellend, anregend oder aufrüttelnd ist, wenn man innerhalb der engen Grenzen bleibt, innerhalb derer solche Altherrenwitze eben funktionieren. Es gibt schließlich auch andere Haustiere als Hamster. Ein ordentlicher Problemhund wäre da wohl schon viel eher nach Pfallers Geschmack – wild, gefährlich, ein unberechenbarer Troublemaker. Tragischerweise ziehen gerade solche Problemhunde noch viel mehr fürsorgliche Vorschriften und Vorsichtsmaßnahmen auf sich, wie Pfaller sie beklagt. Die Bilder hinken aber an allen Enden.

Schade, wie gesagt. Das Buch bleibt merkwürdig zusammenhanglos, eine mittelmäßig zusammengeschusterte Polemik, deren Prämissen bereits großteils so unglücklich argumentiert sind, dass man den Folgerungen kaum Beachtung schenken mag. Das ist die Krankheit der meisten Bücher rund um die Empfindlichkeit der Gegenwart.

Geoffroy de Lagasnerie, Verurteilen

Nach seinen Überlegungen zur Möglichkeit der Revolte beschäftigt sich Geoffroy de Lagasnerie mit den Grundlagen des Rechtsstaates, aus denen die Möglichkeiten des Verurteilens und Bestrafens entstehen.
Zwei Grundideen ziehen sich durch das Buch: Die eine ist die Unterscheidung zwischen institutionalisierter und dadurch legalisierter Gewalt gegenüber jener Gewalt, die zu bestrafen ist. Die andere kommt immer wieder auf den Punkt der Unterscheidung zwischen struktureller und individualisierter Perspektive: Wo machen wir das Individuum verantwortlich, wo die Umstände, die Gesellschaft, das System.
Lagasnerie verbrachte einige Zeit als Zuseher bei Strafprozessen in französischen Gerichten und bezieht sich in seinen Überlegungen immer wieder auf den recht stereotypen Ablauf von Strafprozessen: Eine Handlung wird so genau beschrieben, wie sie in der Genauigkeit wohl nie stattgefunden hat – es braucht immer nachträgliche Interpretation für diese Präzision. Ankläger_innen erzählen biographische Details der Angeklagten, die deren Neigung zum Verbrechen erklären sollen. Verteidiger_innen erzählen Details, die sie von dieser Schuld entlasten sollen. Beides bleibt immer an der Oberfläche.
Daraus bezieht er Material für seine Argumente, dass der Rechtsstaat Individuen sehen wolle, wo noch gar keine Individuen sichtbar wären. Es ist nicht möglich, einen Menschen, seine Motive und die Folgen seiner Taten innerhalb des kurzen Zeitraums einer Gerichtsverhandlung individuell zu begreifen. Zudem sind die Angeklagten und Verurteilten soziologisch betrachtet eine eher homogene Gruppe; Herkunft, Bildungsgrad und sozialer Status sind hier meist die verbindendsten Elemente.

Der Rechtsstaat konstruiert Individuen, um sie bestrafen zu können …

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte Lagasnerie darauf hinaus, strukturell Perspektiven auf Gewalt einander gegenüberzustellen: Der Staat hat das Gewaltmonopol, weil er es sich gegeben hat. Verbrechen ist nicht nur deshalb bestrafenswert, weil es etwas nicht Wünschenswertes tut, sondern weil es sich gegen die Ordnung und das Gewaltmonopol richtet. Zudem richten sich die Fragen von Schuld und Bestrafung auf das Individuum, weil sie sonst die herrschende Ordnung in Frage stellen müssten.
Lagasnerie führt hier auch die unterschiedlichen Ausrichtungen zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat an. Der Sozialstaat betont das Kollektiv, den Zusammenhalt, gegenseitige Abhängigkeiten. Die individuelle Perspektive ist zwar auch hier möglich: Der Sozialstaat ermöglicht durch die Absicherung, die er bietet, Individualität und Entfaltung, aber es sind die Struktur, das Kollektiv, die das ermöglichen und die hier Mittel für diese Entfaltung zur Vefügung stellen und sie auch begründen.
Ganz anders beim Rechtsstaat: Der begründet eine abstrakte Ordnung, gegen die einzelne in eigener Verantwortung verstoßen. Ein (Kausal)Zusammenhang zwischen Rechtsstaat, Gewalt und Verbrechen erscheint vielen absurd. Die Analogie zum Sozialstaat ermöglicht es allerdings, eine andere Perspektive verstehen zu lernen.

… oder doch, um sie achten zu können?

So weit kann man problemlos mit. Probleme bekomme ich zumindest, wenn Lagasnerie seine Theorien auch in philosophiehistorische Zusammenhänge stellt. So unterstellt er beispielsweise, Jürgen Habermas und Hanna Arendt hätten unterstellt, dass Staaten grundsätzlich nicht gewalttätig sein können. Mir ist klar, worauf er sich bezieht; ich sehe diese Passagen aber eher als einen Versuch, Definitionen zu schaffen – nicht als Argument, den Staat von seiner Verantwortung im Umgang mit Gewalt zu befreien.
Hannah Arendt unterscheidet sehr deutlich zwischen Stärke, Macht und Gewalt und positioniert Gewalt als das einzig probate Mittel gegen Macht. Genau das sehe ich eben nicht als eine Positionierung von Macht als „gut“, die nur durch „böse“ Gewalt infragegestellt werden kann. Ich habe das im Gegenteil immer als eine der treffendsten Beschreibungen von Macht verstanden, die deutlich macht, im umfassend und weitreichend Macht ist, zumal wenn sie institutionell abgesichert ist (was sie ja auch von Stärke unterscheidet).
Ich finde auch, dass Arendt einen sehr guten Punkt darin hat, den Fokus des Justizsystems auf das Individuum gutzuheißen. Kollektive Verantwortung hat nämlich auch eine Schattenseite: Damit kommen nicht nur Erklärmechanismen ins Spiel, die Einzelne von ihrer Verantwortung befreien, es kommen auch Pauschalierungen ins Spiel, die Einzelne und deren Verantwortung gar nicht mehr sehen wollen. Arendt, die die Nazi-„Justiz“ genau beobachtet hat und sich auch im Rahmen des Eichmann-Prozesses mit dem Verhältnis von persönlicher und struktureller Verantwortung beschäftigt hat, hat hier eine deutlich andere Position als Lagasnerie.

Ohne Identität geht es nicht, und die ist individuell konkreter

Lagasneries Versuche, eine soziologische Perspektive in die Justiz zu bringen, lassen wie viele moderne linke Konzepte die Frage der Konsequenzen und Alternativen offen. Das ist vor allem deshalb schade, weil das Revoltenbuch vielversprechend konkret war. Dort untersuchte Lagasnerie auch Möglichkeiten, sich dem identifizierenden Zugriff zu entziehen, um politisch aktiv sein zu können, ohne sofort greifbar zu sein. Wirksam sind diese Entzugsstrategien allerdings nur dann, wenn neue Postionen beziehen und Identitäten geschaffen werden, die nicht einfach ignoriert und als bloß anonym abgetan werden können. Das zeigt Lagasnerie vor allem am Beispiel von Wikileaks oder Edward Snowden.
Das Recht verfolgt nun ähnliche Konstruktionsmechanismen – damit werden Individuen greifbar und strafbar, aber sie bekommen auch Autorität und Rechte. Ich bin sehr skeptisch gegenüber jeden Ideen, das ändern zu wollen. Ich verstehe Lagasneries Bedenken auch – aber den Ansatz aus dem Revoltenbuch (zusammengefasst und vereinfacht: anonyme Identitäten oder kollektivierte Individuen zu schaffen) war deutlich produktiver.

Markus Gabriel, Der Sinn des Denkens

Markus Gabriel redet schnell und zackig; „exakt!“ Ist offenbar eines seiner Lieblingsworte im Gespräch. Man merkt: Der Mann har eine Mission. Der Philosoph ist einer der jüngeren Universitätsprofessoren seines Fachs und liefert gekonnt markige Ansagen. Sein Thema ist der Neue Realismus, zu denen Verbreitung er eine populärphilosophisch angelegte Trilogie zur Wirklichkeit verfasst hat.
Der Sinn des Denkens ist der dritte und letzte Teil, der Denken als Sinn im Wortsinn – so wie Geruchssinn oder Tastsinn – etablieren will. Das ist Teil des Unterfangens, zu zeigen, dass Denken etwas wirkliches ist – so wirklich wie Berge, Autos oder Geldprobleme. Letztere haben ja auch kein eindeutiges physisch greifbares Erscheinungsbild.
Für Nichtphilosophen mag das verwunderlich sein. Was soll denn am Denken unwirklich sein? Die Philosophiegeschichte und die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin haben allerdings viel Energie darauf angewendet, zu erklären, wie wir erkennen, in welchem Verhältnis die Außenwelt zu unserem Innenleben steht, und wie das denn eigentlich zusammenpasst. Im Schnelldurchgang: Protagoras sah den Mensch als „Maß aller Dinge“, was auch bedeutete, dass (nur) das existiert, was wir wahrnehmen – auch wenn das noch so falsch und eingeschränkt sei Für Plato saßen Menschen in der Höhle und sahen nur Schattenspiele des Wesentlichen, die an ihre Höhlenwand projiziert wurden. Descartes ist heute noch beliebtes Orakel. Kant erfand ein Ding an sich, das sich ähnlich wie Platos Idee, unserer Wahrnehmung entzieht. Und auch hyperrationale Positivisten hatten noch ihre Probleme, Erkenntnis in Worte zu fassen: Rudolf Carnap und Jehoschua Bar-Hillel beschrieben das Paradoxon, dass wir eigentlich nichts neues erkennen können – entweder es ist neu und steht in keiner Beziehung zu Dagewesenem (dann können wir es nicht einordnen), oder es ist eine Facette dessen, was wir kennen (dann ist es nicht neu).
Es war also durchaus in gewisser Weise strittig, wie real Denken als Bindeglied zwischen innen und außen ist.
Weil das alleine aber och zu wenig sein könnte, um eine aktuelle Debatte anzuheizen, bezieht Gabriel auch Künstliche Intelligenz in seine Überlegungen zu Denken und Wirklichkeit ein. Sein Fazit: Künstliche Intelligenz ist nicht intelligent, weil sie nicht denkt. Deshalb müsse man sich nicht vor ihr fürchten.
Gabriel erklärt anhand vieler Beispiele, Gedankenexperimente und Begriffe von Denken, warum er bei dieser These bleibt. Dem ist wenig entgegenzusetzen. Allerdings teile ich die Schlussfolgerung, dass KI deshalb kein Problem sei, nicht. Ich glaube auch nicht, dass KI eines Tages selbstständig Pläne fassen, Entscheidungen treffen und die Menschheit vernichten möchte. Ich weiß allerdings, dass auch die simpelste KI, die heute schon als Massenware online verfügbar ist, ausreicht, um unliebsame Probleme zu bereiten. Ist euch denn noch nie Onlinewerbung, die glaubt, sich nach euren Surfgewohnheiten zu richten, auf die Nerven gegangen? Habt ihr noch nie Autocomplete verfügt? Und habt ihr euch noch nie gewundert, was Social Media Algorithmen über euch zu wissen glauben? Vielleicht sind es nicht die Künstlichen Intelligenzen selbst sie „Schlüsse ziehen“ oder „Handlungen ableiten“, was denkenden Individuen vorbehalten ist. Aber sie kombinieren und funktionieren einfach und haben damit Einfluss auf unser Leben. Auch viele Menschen als grundsätzlich denkende Individuen, nehmen oft ohne zu denken negativen Einfluss auf unser Leben. Insofern halte ich diese Fragestellung für etwas verfehlt und wenig relevant.

In einem zweiten aktuellen Bezugspunkt bezieht Gabrie eine etwas andere Position. Er beschäftigt sich auch mit Fake News und anderen digitalen Scheinwelten und kommt zu dem Schluss, dass Filterblasen und Echokammern Erfindungen seien um sich nicht der Wirklichkeit stellen zu müssen. Er sieht Diskurse über Echokammern und Filterblasen als Entfremdung von der Wirklichkeit, als Ausrede, sich nicht der Wirklichkeit zu stellen, dass die Öffentlichkeit einen vielschichtigen Strukturwandel durchlaufen hat. Das bleibt im Gegensatz zu Gabriels sonstigen Ausführungen ein wenig oberflächlich; ich denke auch, dass kaum jemand die Realität und Wirkkraft von Echokammern bestreitet – immerhin haben sie Trump ins Präsidentenamt gehievt (genauso wie Obama). Ihre Bewertung ist eher eine moralische Frage als eine erkenntnistheoretische. Markus Gabriel ist übrigens nicht nennenswert auf Social Media aktiv, was auch hilft, seine Meinung hier einzuschätzen.

Neben den digitalen Debatten, die in Der Sinn des Denkens neu sind, zieht sich die Kritik an jeglicher Form von Konstruktivismus als roter Faden durch Gabriels Überlegungen. Konstruktivismus, der jetzt nicht gerade auf vorsokratischem Niveau dahinspekuliert, ob man möglicherweise allen auf der Welt ist, ist allerdings oft nur eine Methode, in kontingenten Situationen Entscheidungen zu treffen. Es gibt keinen zwingenden, von sozialen Aspekten und anderen Konstrukten unabhängigen Grund, warum etwas so sein soll, wie es ist, oder warum man etwas bestimmtes tun und etwas anderes lassen muss, also muss man eben erklären, warum man der Meinung ist, dass etwas so ist oder dass man so handeln sollte. Und schon hat man etwas konstruiert. – Konstruktivismus ist nicht immer Realitätsfeindlich, sondern oft eine Krücke, mit der sich Realität greifbar machen lässt.

Diese Punkte beschreiben die Schwächen des Neuen Realismus ganz gut. Er bekämpft viele Phantomprobleme, die er es schaffen muss, um sie lösen zu können und dann eben recht zu haben. Noch deutlicher als in der Wirklichkeitstrilogie wird das in dem von Gabriel herausgegebenen Tagungsband „Neuer Realismus“, der sich auf philosophiewissenschaftlicher Ebene mit der Sache befasst.
Das ist beim Lesen manchmal ein wenig ärgerlich – so wie diese Schulterklopfer oder freundschaftlichen Ellbogenrempler, die im Smalltalk Zustimmung heischen wollen, bevor sie eigentlich noch etwas gesagt haben.
Das ist schade, denn die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Gedankenwelt als Gegenstück zum reinen Naturalismus, der nur anerkennen will, was greifbar und messbar ist, ist eine wichtige. Spiritualität und ähnliches ist natürlich kein Thema für Gabriel, und auch politische oder soziale Konsequenzen sind nicht sein Ding. In diesen Sphären wird der sonst wo wortreiche Philosoph etwas einsilbig. Dabei gäbe es sicher viele dankbare Abnehmer für leichtfassliche Philosophien zur Macht der Gedanken. Aber mal sehen, was als nächstes kommt.

Sin City München: Frank Schmolke, Nachts im Paradies

Ein großformatiger Ziegel mit geprägter und lackierter Schrift auf dem Cover, zielgruppenspezifische Pressearbeit, in der für jeden Geschmack eine Story dabei ist – da sieht man, dass es ein Verlag ernst meint mit einem Buch.
Die Edition Moderne setzt dieses Sommer auf Frank Schmolkes „Nachts i Paradies“. Und das völlig zu Recht: Es ist eine toll erzählte Story mit einigen packenden Bildern, erzählt etwas über München, über alternde Männer, über Taxifahrer, Unterwelt und das Oktoberfest.

Das macht Freude beim Lesen, die Story zieht den Leser direkt ins Buch, man frisst sich durch mehr als 300 Seiten – und dann ist es plötzlich vorbei.
Ich habe bei praktisch allen Graphic Novels das Gefühl, dass es gerade erst angefangen hat, sie hinterlassen einen unvollständigen Nachgeschmack als hätte man gerade nur an der Oberfläche gekratzt.
Manche sind schlecht erzählt, manche treten ein Thema breit, zu dem sie keinen Zugang finden, der mehr als fünf Seiten Story rechtfertigen würde, andere erzählen gar nichts, sondern verstecken sich hinter einem Thema oder einem Namen, das oder der sich gut verkaufen lässt, und manche sind eben wirklich toll erzählt und fühlen sich trotzdem an wie nur ein kurzes Streiflicht.

Bei Erzählern wie Frank Schmolke liegt das nicht an erzählerischen oder dramaturgischen Schwächen. Ich frage mich eher, ob das nicht eine Angelegenheit des Formats ist. Die erfolgreichsten Comics sind schließlich nicht von ungefähr Endlosserien, die Generationen begleiten. Comics erzählen nicht nur auf der Textebene eine Story, sie entwickeln Bilderwelten, oft auch noch eigene Universen mit eigenen mehr oder minder fantastischen Gesetzen – das braucht Zeit und Raum und ist Arbeit. „Nachts im Paradies“ hat über 300 Seiten, das zeichnet sich auch nicht in zwei Wochen (oder Monaten).

Wen die Story anspricht – unbedingt lesen, ist jeden Euro und jede Minute wert. Aber auch Sin City hatte dann nicht umsonst mehrere Teile …

Abschied vom Beistrich

Ich bin jetzt offenbar wirklich alt. So alt, dass es bestimmte Formfehler gibt, die mich in der Sekunde dazu bringen, eine Zeitung zuzuschlagen, ein Magazin fallenzulassen, eine Webseite wegzuklicken oder einem Social Media Account zu entfolgen. Ich will mich nicht über diese Fehler ärgern müssen, ich empfinde es als Unverschämtheit, dass jemand, der oder die mir etwas erzählen oder erklären möchte, nicht einmal simple Grundregeln seines oder ihres Handwerks versteht.
Der Beistrich ist so ein Reizobjekt. Beistrichsetzung, die diese kleinen Zeichen als Dekorationsobjekte missbraucht, die sie willkürlich anstelle von Gedanken- oder Atempausen platziert, ist so ein KO-Kriterium in der Kommunikation.
Idiotenapostrophe, Deppenleerzeichen und andere Minimalia haben es bereits zu großer Berühmtheit gebracht. Idiotenbeistriche, die willkürlich in Satzfragmenten platziert werden, haben noch viel zu wenig Beachtung gefunden. Sie finden sich in Onlinezeitungen, deren Ergüsse offensichtlich von niemandem auch nur ein halbes Mal gelesen wurden, bevor sie veröffentlicht wurden, in Unternehmensfoldern und Imagebroschüren, die von Marketingabteilungen erstellt wurden, die anhand der Zahl der Beistriche wohl ausdrücken wollen, wie schwer es ihnen gefallen ist, diesen Text zusammenzustoppeln. Und sie haben eine besonders freundliche und sie willkommen heißende Heimat gefunden: politische Kommunikation.

Für Menschen mit einem Funken von Sprachgefühl sind vor allem die Social Media Accounts politischer Parteien ein beistrichtechnisches Drama. Politische Shareables sind ein entsetzliches Katastrophengebiet, in dem willkürlich gedroppte Beistriche für Unordnung sorgen wie quer über Straßen liegende Baumstämme nach dem Sturm, wie Treibholz, das sich in Brückenpfeilern verfangen hat, wie Elektroscooter, die achtlos auf engen Gehsteigen platziert werden.
Vielleicht simulieren die chaotischen Beistriche auch einen eigenartigen Sprechduktus des Kandidaten oder der Kandidatin, die hier beworben werden sollen, vielleicht sind sie auch das Ergebnis der von vielen Seiten auf den Text einprasselnden Kürzungs-, Änderungs- und Präzisierungswünsche. Oder sie sind ein Zeichen dafür, dass kurze Texte eben um ein Vielfaches schwerer zu verfassen sind als ausführliche Langversionen.
Sie sind jedenfalls auch ein Zeichen dafür, dass Texte und Inhalte von den Beistrichmissachtern kaum beachtet werden. Sinnlose Beistrichsetzung ist ein Zeichen dafür, dass Text und Inhalt achtlos eingestreutes Beiwerk einer Kommunikationsstrategie sind, die Geräusche erzeugen möchte, und dabei vergessen hat, dass dieser notwendige Lärm auch irgendwo entschlüsselt werden müsste. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Mission bereits für erfüllt gehalten wird, sobald ein paar vorgegebene Muster bunt ausgemalt sind.

Der Abschied vom sinnvoll eingesetzten Beistrich ist so auch ein Abschied vom Sinn in der Kommunikation, von verständlicher Sprache und von dem Respekt, den Kommunizierende ihrem Publikum erweisen sollten. Der Abschied vom Beistrich ist die Kapitulation vor Klickzahlen und anderen KPIs, denen Vorrang gegenüber Verständnis, Gespräch und Dialog eingeräumt wird. Und wer keine Kontrolle über seine Beistriche mehr hat, hat auch zum Teil die Kontrolle über sein Leben verloren.

Killerkasperl Dönmez

Efgani Dönmez ist Nationalratsabgeordneter, hat Ärger auf der Straße und zieht ein Messer. Ein paar Tage danach stellt sich heraus, dass er auch eine Pistole hatte und anscheinend öfter unterwegs bewaffnet unterwegs ist. Die Pistole wurde ihm in Urlaub geklaut – sie ist jetzt sicher in guten Händen bei einem anderen besorgten Bürger, der auch nur auf Recht und Ordnung achtet; vielen Dank für diesen Beitrag zu sehr Sicherheit in Europa.
Jetzt kann man natürlich mal die Nerven verlieren, gerade wenn man Kinder bedroht sieht. Es ist aber nicht besonders schlau, in deren Gegenwart eine bewaffnete Auseinandersetzung zu beginnen, vor allem, wenn man als erster eine Waffe zieht.
Ich weiß nicht, in welcher Welt Dönmez lebt. Das ist eher eine rhetorische Frage, die sich ein wenig auch auf seinen geistigen Zustand bezieht. Es ist eine Welt, in der es offenbar viele Bedrohungen gibt, eine Welt, in der erfolgreiche Frauen ihren Weg nach oben auf den Knien zurückgelegt haben, eine Welt, die ihm offensichtlich Angst macht.
Manchmal ist es verständlich, dass man sich nicht wohl fühlt, wenn die Umgebung ungewohnt ist. Manchen Menschen fehlen auch die Sensibilität und die Flexibilität, auf die Signale zu achten, die ihre Umgebung aussendet. Sie gehen nur von ihrem eigenen Bild aus. Das ist ein Zeichen von Unreife und ein persönliches Problem. Wenn solche Menschen zuviel Gehör bekommen, ist es auch ein soziales Problem.
Deshalb möchte ich dem Herrn Dönmez ein oder zwei Geschichten erzählen.

Mein Büro ist in Ottakring und ich habe gute Aussicht auf die Straße. Direkt vor meinen Fenstern gibt es ein paar Bäume und Bänke, dort sitzen oft Jugendliche und junge Männer, trinken manchmal was, glotzen im Sommer Frauen nach und reden oft zu laut.
In der Straßenbahnhaltestelle daneben saß vor einigen Tagen ein streitendes Pärchen. Ich habe sie nicht gesehen, nur gehört. Sie stritten ziemlich laut. Plötzlich wurde beide deutlich lauter, er dürfte auch ausgeholt und sie angegriffen haben. Die Jungs sind von ihrer Bank aufgesprungen und haben ein paar Schritte auf die beiden zu gemacht. Sie sind nicht weit gekommen, der Maurer von der Baustelle gegenüber war schneller. Er hatte passenderweise ein paar Minuten vorher das T-Shirt ausgezogen und ziemlich beeindruckende Schultern. Und er war auch bewaffnet nämlich mit einem Plastikkübel und einer kleinen Spachtel. Es war genug, dass er auf halbem Weg über die Straße kam.

Das streitende Pärchen trennte sich, die Frau konnte ihrer Wege gehen, er blieb zurück. Niemand musste ins Spital, nichts kam in die Zeitung.

Die zweite Geschichte hat mit meiner Frau zu tun. Die ist derzeit Bezirksrätin und (noch) keine Nationalratsabgeordnete, einen Kopf kleiner als ich und hat ungefähr 25 Kilo weniger. Auf dem Weg nach Hause hatte sie vor einigen Wochen auch Ärger: Vier Jungs habe einen auf dem Boden liegenden Junkie verprügelt. Sie hat ihnen freundlich erklärt, dass sie das nicht tun sollen, weil sie sonst die Polizei rufen muss. Nachdem die vier ihr gesagt haben, dass sie gerne auch verprügelt werden kann und weiter auf ihr Opfer eingedroschen haben, hat sie eben die Polizei gerufen.
Das bringt dann nur Auftritte bei der Polizei als Zeugin, nicht in Zeitungen. Killerkasperl Dönmez und sein Klappmesser hätten ja wahrscheinlich das Meidlinger Taschenfeitl-Massaker veranstaltet, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Vielleicht hätten sie sich aber auch im nächsten Bunker versteckt, und von dort aus die Kavallerie angefordert – denn hey, es ist gefährlich da draußen.
Es ist vor allem dann gefährlich, wenn Menschen jegliche Sensibilität dafür abgeht, was eigentlich rund um die passiert, was das bedeutet und wie man darauf reagieren sollte.

Da fällt mir noch eine dritte Geschichte ein, die uns wieder zurück nach Ottakring führt. Dort war ich vor über 25 Jahren eine Zeit lang Kickboxen. Damals gab es noch nicht so viele Tschetschenen in Wien, also hat man sich vor den serbischen Kids gefürchtet. Wenn die im Training darüber debattiert haben, wie sie sich gegenüber anderen, die sie blöd anschauen, am besten Respekt verschaffen können, hatte der Trainer einen Tipp für sie. „Wenn du glaubst, dass du Ärger kriegst, dann machst du das ganz einfach so: Du stellst deine Sporttasche ab und steckst deinen Zahnschutz in den Mund. Dann wird sich das der andere gut überlegen …“
Natürlich steckt da auch ein bisschen zu viel Drohung drin. Aber es ist wesentlich smarter als Nationalratsabgeordnete, die mit Waffen durch die Gegend laufen, wo sie eigentlich eine Angsttherapie machen sollten. Was sie schon gar nicht tun sollten, ist anderen zu erzählen, wie schlecht und gefährlich diese Welt ist.

Rick Veitch, Can’t Get No

Can’t Get No ist einer der seltenen Glücksfälle von Erzählungen, die man nicht wirklich genau versteht, auch nicht verstehen kann und nicht verstehen möchte – sie ziehen einen als Leser trotzdem ganz unwiderstehlich in ihren Bann.
Worum geht es? Der Protagonist hat den wirklich permanenten Permanent-Marker erfunden, der in alle Ewigkeit hält und dem man nicht beikommen kann; er widersteht allen Entfernungsversuchen. Das macht den Stift bei Graffiti-Artists beliebt, bei der Stadt New York, in der die Story ihren Lauf nimmt, allerdings äußerst unbeliebt.
Das Unternehmen wird verklagt und steuert auf den Ruin zu. Der Protagonist geht erst mal einen trinken, lernt dabei zwei Frauen kennen, die, als er dann stockbetrunken auf ihrer Couch liegt, die Stifte entdecken, die er als anständiger Firmenchef eingesteckt hat.
Sie bemalen ihn am ganzen Körper wie einen tätowierten Südsee-Bewohner, auch im Gesicht.
Das ist natürlich den Versuchen, seine Firma zu retten, nicht förderlich. Und das führt zu einer rasanten Erzählung quer durch die USA, die noch dazu damit beginnt, dass gerade zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center einschlagen.
Can’t Get No ist eine 9/11-Story, dann wieder doch nicht, eine Männer-auf-der -Suche-Story und ein surrealer Marsch durch amerikanische Geschichte, vor allem aber ein Buch, das man nicht aus der Hand legen möchte. Die Story ist zwar eine andere und auch ganz anders erzählt, aber beim Lesen erinnert Can’t Get No auch an Hector Oesterhelds Eternauta.
Dabei verzichtet Veitch eigentlich auf Text. Die Bilder werden zwar von einer Geschichte begleitet – es ist aber eher eine Art poetischer Fluss, der entlang der Zeichnungen läuft, manchmal dazu passt, manchmal weniger. Ich wollte das Buch in einem durchlesen und dann am liebsten gleich noch mal lesen, um auf die vielen anderen Ebenen zu achten, die mir beim ersten Mal entgangen sind.
Veitch veröffentlicht seine Comics im eigenen Sun Comics-Verlag; Can’t Get No wurde dann auch noch mal bei Vertigo Comics aufgelegt. In Österreich bekommt man Veitchs Bücher am besten bei Sebastian Broskwas Pictopia. Sebastian hat das Buch auch mir in die Hand gedrückt und wahrscheinlich werde ich jetzt noch viele weitere Veitch-Bücher kaufen müssen.