Geoffroy de Lagasnerie, Die Kunst der Revolte

Wenn wir etwas kritisieren, bestätigen wir es. Wenn wir etwas bekämpfen, erkennen wir dessen Macht an. Wenn wir nach den Regeln spielen, dann können wir zwar gewinnen, aber wir können die Regeln nicht ändern. Also müssen wir uns, wenn wir dagegen sein wollen, eine neue Position suchen, von der aus wir handeln können. Das ist, im verkürzten Schnelldurchgang, der Gedankengang in Geoffrey de Lagasneries „Revolte“.

Revolutionen sind mit Anführern verknüpft mit Heldenfiguren, denen man Denkmäler setzen kann. Das macht es leichter, Geschichte zu erzählen. Das macht es aber auch schwieriger, eine gemeinsame Sache zu finden – überall spielen persönliche Interessen eine Rolle. Und es macht die Polizeiarbeit leichter: Der personifizierte, identifizierte Revolutionär ist leichte Beute.

Aufstehen, für etwas einstehen – das verändert den Rahmen nicht. Und es macht haftbar.

Der mündige Bürger oder die demokratische Citoyenne sind ebenfalls an konkrete Identitäten und damit verbundene Rechte geknüpft: Sie dürfen wählen, Volksbegehren starten, sich anderer demokratischer Institutionen bedienen, weil sie identifiziert sind, weil sie Staatsbürgerin und Staatsbürger sind. Das verschafft ihnen Rechte, aber nicht zuviele. Rechte zu haben, bedeutet zugleich, diesen gehorchen zu müssen – denn sonst sehen eben diese Rechte auch Konsequenzen vor.

Und selbst wer sich außerhalb dieses Rahmens stellen möchte, akzeptiert diesen damit. Ziviler Ungehorsam als Form der politischen Äußerung bezeichnet sich als Ungehorsam und anerkennt also, dass das, was er gerade tut nicht rechtens ist. Damit sind die Ungehorsamen auf die Duldung der Gehorsamen und jener, die Gehorsam verlangen, angewiesen. Denn das Recht, sich außerhalb des Rechts zu positionieren oder gar das Recht zu ändern, behält sich der Staat vor.

Politik, schreibt Lagasnerie, “ist Sache der Besetzung eines Medien- oder eines physischen Raumes. Dieses Einbringen des Selbst, des eigenen Namens, der eigenen Stimme, des eigenen Körpers, diese „Veröffentlichung“ seiner selbst als kämpfendes Subjekt fungiert als Definition der politischen Handlung. Der Figur des Staatsbürgers, der sich ausdrückt, der Forderungen stellt, der demonstriert, der sich schämt, wird so stillschweigend die Figur des Individuums entgegengesetzt, das flieht oder schweigt, das schweigend die Ordnung der Dinge akzeptiert, das heimlich das Gesetz übertritt.“
Dieses Grundprinzip von Politik macht Menschen haft- und angreifbar, und das ums-mehr, je weniger sie in der formellen Politik verankert sind. Und es schiebt andere Formen des Protests aus dem Bereich des Politischen, es grenzt sie aus und unterminiert so ihre Legitimität und Wirksamkeit.

Nachhaltige und aktive Anonymität als Revolutionspotenzial

Protest braucht also auch Mittel, andere Positionen einzunehmen, am Beispiel von Protest lässt sich zeigen, dass auch die Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften in Frage gestellt werden muss. Allerdings nicht etwa, um einzelne ausschließen und ihnen dadurch Rechte absprechen zu können, sondern um dem, wogegen revoltiert wird, auf Augenhöhe entgegentreten zu können.
Lagasnerie zieht zur Illustration seiner Überlegungen Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning heran. Allen dreien wird Hochverrat vorgeworfen. Und alle drei haben ganz deutlich Machenschaften aufgezeigt, die nicht in Ordnung sind, die aber nach den Gesetzen des Staates, der sie begangen hat, nicht hätten enthüllt werden dürfen.
Alle drei haben ursprünglich Anonymität genutzt, um sich der Verfolgung zu entziehen, mussten dann aus unterschiedlichen Gründen in die Öffentlichkeit.
In diesen Formen des Protests sieht Lagasnerie neue Möglichkeiten der Revolte. Es sind Wege, die an Herrschaftsverhältnissen und Hürden vorbei Probleme thematisieren und Widerstand ausüben können. Anonymität, erklärt Lagasnerie, demokratisiert die Zugangsbedingungen zur Demokratie, und sie ist eine Technik zur Aufhebung von Unterwerfung.

Noch haben wir damit aber kein neues Konzept, dass Formen der Revolte effizient ersetzt. Anonymität ist oft unwirksam, weil der Kontext und die dadurch vermittelte Autorität fehlen. Anonymität muss Energie aufwenden um anonym zu bleiben und kann nicht alle Kommunikationsgelegenheiten nutzen. Netzwerke wie Wikileaks deuten erste neue Möglichkeiten an – aber sie sind noch kein reproduzierbares und unstrittiges Konzept.
Vielleicht ist auch Anonymität nicht der entscheidende Punkt. Lagasnerie führt auch Thoreau an, der nachdem er mit seiner Gesellschaft unzufrieden war, Wege suchte, einer Gemeinschaft, der er nicht ausdrücklich beigetreten war, wieder auszutreten. Da half es aber weder, sich loszusagen oder Steuern zu verweigern – Thoreau konnte ein paar Nächte im Gefängnis verbringen, aber er blieb ein Bürger seiner Welt …

Afrikanische Zeitungen

Adrien hatte alles im Griff. Während der knapp zwei Wochen, die er uns unterwegs in Benin begleitete, konnte ihn nichts überraschen oder nervös machen. Bis ich ihn nach Zeitungen fragte …

Wo auch immer ich reise, kaufe ich auch Zeitungen. Recht viele davon kann ich lesen, manche kaufe ich der Gestaltung halber.
Und gerade in den Ländern Afrikas sind die Zeitungsmärkte oft sehr unterschiedlich ausgeprägt. Benin war lange eine Zeit Vorzeigedemokratie (bis zuletzt die Wahlen mit finanziellen Hürden für kleine Parteien erschwert wurden; mehr dazu gibt es im Podcast auf Brandrede). Im Zeitungsmarkt hat sich das nicht niedergeschlagen.
Wir haben drei Tage lang auf Märkten, bei kleinen Händlern und in Shops nachgefragt, wurden immer weitergeschickt und ich war bereit, aufzugeben. Die Zeitung, die Adrien mir dann stolz in die Hand drückte, war knapp eine Woche alt, was Adrien nicht störte (mich auch nicht), fühlte sich an wie hektographierte Unterlagen, die in den 70er Jahren an Volksschulkinder verteilt wurden, hatte ein sehr aktionistisches Layout – und enthielt unter anderem wortwörtlich von Russia Today übernommene Meldungen zu Putins Neujahrspressekonferenz. (Benin hatte mal eine sozialistische Phase, die allerdings mit Ende der 8ßer Jahre auch zu Ende war.)

Benin

Ganz anders in Uganda. Hier sind Zeitungen präsent, werden von fliegenden Händlern in Verkehrsstaus verkauft, gehören zum Angebot von Straßenhändlern und werden gelesen und diskutiert.
Journalisten sind bekannt und schreiben Bücher – und auch die findet man bei Händlern oder sogar in Tankstellenshops.
Uganda wird zwar seit über dreißig Jahren vom gleichen Präsidenten regiert, der manchmal sehr beleidigt auf Zeitungskritik reagiert und die Redaktionen angriffiger Boulevardblätter auch fallweise von der Polizei einschüchtern lässt. Zeitungen sind aber keineswegs verstummt.

Uganda

Nochmal anders im benachbarten Ruanda. Dort spielen Zeitungen wieder kaum eine Rolle im öffentlichen Leben. Die einzige, die man gelegentlich zu Gesicht bekommt, ist ein Regierungsblatt – und interessiert niemanden. Sie wird eher als Verpackungsmaterial benutzt.

In Togo, das nicht gerade demokratisches Musterland ist, blüht ein bunter Boulevard, in Ghana sind Politik und Medienlandschaft sehr lebendig.

Togo

Ghana

Ich arbeite noch an dieser Sammlung …

Und hier gibt es eine Sammlung zu afrikanischer Gegenwartsliteratur.

Europa? Nein danke – Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde

Heute wissen wir, dass auch die algerischen Bauern nicht revoltiert haben. Ebensowenig wie die europäischen Industriearbeiter, auf die Trotzki dreißig Jahre zuvor seine Hoffnungen gesetzt hatte, oder wie die russischen Bauern, die im Zwangskorsett des Stalinismus gelandet waren, bevor die meisten noch verstanden hatten, dass sie eigentlich Revolutionäre waren.
Zu etwa der gleichen Zeit, in der Frantz Fanon in Algerien noch das revolutionäre Subjekt suchte, verabschiedete sich Hannah Arendt in New York von der Arbeiterklasse und sah die Klassengesellschaft durch eine Massengesellschaft abgelöst.

Frantz Fanon kannte linke revolutionäre Ideen, wurde von Sartre geschätzt und suchte nach neuen Wegen für postkoloniale afrikanische Gesellschaften. „Wenn wir den Wind gesät haben, wird er der Sturm sein“ schrieb Sartre in seinem Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“.
Fanon starb allerdings nur einen Monat nach der Veröffentlichung seines Buches im Alter von nur 36 Jahren an Leukämie.

„Die Verdammten dieser Erde“ ist ein von vielen dramatischen Ereignissen geprägter Text. Fanon hat Kolonialismus und Rassismus erlebt, einen Kolonialismus, der in Schwarzen noch immer sklavenähnlich Entrechtete sah, Menschen niederer Klassen, die Kolonialherren als Manövriermasse zur Verfügung stehen – ebenso wie die Rohstoffe der Kolonien.
Er hat den Niedergang des Kolonialismus erlebt; Ende der fünfziger Jahre waren bereits einige afrikanische Länder wieder unabhängig. Die Befreiung brachte vielerorts neue Abhängigkeitsformen hervor, anstelle der Freiheit für alle sicherte sich eine neue afrikanische Bourgeoisie Reichtum für wenige.
Was er nicht mehr erlebt hat, waren das Ende des Algerienkrieges und die Unabhängigkeit Algeriens – so weit war es erst 1962, ein Jahr nach seinem Tod.

Fanon schreibt voll revolutionären Elans, beschäftigt sich mit möglichen Entwicklungsstufen der Gesellschaft und stellt die Frage, ob die bourgeoise Phase denn wirklich notwendig sei. Neue Herrschende sind in Fanons Darstellung die direkten Nachfolger alter Unterdrücker; die gewonnene Freiheit ist für ihn nutzlos, zuerst sei es notwendig, dem „Volk und zunächst sich selbst die Dimension des Menschen wieder zu erschließen, man muss die Wege der Geschichte zurückgehen, der Geschichte des von den Menschen verdammten Menschen, und die Begegnung seines Volkes mit den anderen Menschen wieder möglich machen.“ – Kolonialismus hat Kolonialisierten die Selbstwahrnehmung als Menschen geraubt; sie sehen sich auch nach der Unabhängigkeit nicht als diejenigen, die Dinge selbst in die Hand nehmen können (eine kleine Minderheit ausgenommen), die selbst gestalten sollen.
Eines der Gegenmittel, auf die Fanon dazu setzt, ist Nationalismus. Dieser Nationalismus ist ein Gegenmittel gegen Kolonialismus, ein Weg, fremden Herrschaftsansprüchen souveräne Staaten entgegenzusetzen. Diese Konzept von Nationalismus hat nichts mit rassistisch motiviertem Nationalismus zu tun; ganz im Gegenteil, Fanon verwehrt sich ausdrücklich gegen ethnische Interpretationen von Nationalismus.
Trotz der Entschlossenheit findet Fanon keinen gangbaren Ausweg. Die Prognosen sind schlecht: „Das Volk versteht, dass Reichtum nicht die Frucht der Arbeit ist, sondern das Resultat eines organisierten und protegierten Diebstahls. Die Reichen hören auf, achtenswerte Männer zu sein, sie sind nur noch Raubtier, Schakale und Geier, die sich vom Blut des Volkes nähren.“

Europa? Nein danke.

Was Fanons Schrift zu einem tatsächlich radikalen Monument macht, ist weniger der revolutionäre Esprit. Lesens- und bedenkenswert ist heute noch vor allem die damals schon ganz klare Ablehnung Europas. Europäischer Geist, europäische Maßstäbe – das sind für Fanon keine Kriterien für den afrikanischen Kontinent. Darin steckt keine Rache, es sind nicht einmal Schmerzen oder leidvolle Erfahrungen, die diese Abkehr von Europa motivieren. Fanon hat, stellvertretend für viele Kolonialisierte, Europa kennengelernt, die Handlungen und Werte Europas gesehen und verstanden, vor allem jene Facetten gesehen, die Europa gerne vor sich selbst versteckt. Europa als Hort der Menschenrechte, Freiheit und Demokratie? Mancherorts sicher. Aber global betrachtet? „Genossen, haben wir nichts Besseres zu tun, als ein drittes Europa zu schaffen? Der Okzident hat ein Abenteuer des Geistes sein wollen, Im Namen des Geistes, des Europäischen Geistes, versteht sich, hat Europa seine Verbrechen gerechtfertigt und die Versklavung legitimiert, welcher es vier Fünftel der Menschheit unterworfen hatte.“

Europa und der europäische Geist haben sicherlich dazugelernt. Gedanken wie diese musste trotzdem zuerst Fanon entwickeln: „Vor kurzem hat der Nazismus ganz Europa in eine Kolonie verwandelt“ … Reparationszahlungen, Rückgabe von Raubgütern, Entschuldigungen und weltweite Anstrengungen, derartiges möglichst vermeiden zu können, waren die Folge. „Schwarze aber bleiben Animalisch.“

Der Therapeut der Mörder

Der erschreckendste Teil von Fanons Buch sind Passagen, in denen er nicht argumentiert, keine flammenden Reden hält, keine Missstände rund um Korruption und Machtmissbrauch analysiert. Der erschreckendste Teil sind seine Notizen zu Therapiegesprächen aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg. Fanon arbeitete als Psychiater in Algerien und behandelte Kriegsopfer, Folteropfer – und genauso Polizisten, Folterer und sogar deren Angehörige. Entführungen von Widerstandskämpfern, deren Angehörigen oder auch nur Verdächtigen waren an der Tagesordnung. Es war Aufgabe der Polizei, irgendeine Art von Information aus den Verhafteten rauszuprügeln oder sie mit Stromschlägen zu foltern. Manche Polizisten wurden diese Bilder nicht mehr los; Fanon berichtet auch von der Frau eines Polizeikommandanten, die wegen Schlafstörungen bei ihm in Behandlung war – es waren die Schreie von Gefangenen, die diese Frau beim Schlafen störten.
Das waren keine Einzelfälle, das waren keine selbstständigen Aktionen verwilderter Militärs oder Polizeieinheiten. Das war verordnete und kontrollierte Kriegsführung Frankreichs, einer Nation, die sich gerade zehn Jahre zuvor zu den Befreiern Europas hatte zählen lassen, die erlebt hatte, was Verfolgung und Folter bedeuten, und die offenbar keinen Grund sah, sich hier im eigenen Kriegsgebiet anders zu verhalten.

Diese Notizen sind der abseits aller historischen Interessen und politischen Meinungen immer noch wichtigste und eindringlichste Teil in Fanons Werk. Sie machen sprachlos. Und sie sind notwendig, um zu verstehen, wovon Fanon erzählt, vor welchem Hintergrund Kolonialismuskritik arbeitet. Und das auch heute noch.

Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein

HAnnah Arendt Freiheit

Revolution, keine Frage, klar doch.
Revolution ist der Popstar, der auf keiner Party fehlen darf. Stromlinienförmige Businessmenschen preisen Revolutionen an, perlenkettentragende Politjugend inszeniert Mitarbeit in der Partei als friedliche Revolution, nur Linke tun sich manchmal schwer mit der Revolution und dem revolutionären Subjekt, denn warum brennt noch nicht alles?
Revolution war ursprünglich die Bewegung der Himmelskörper. Seine politische Taufe erlebte der Begriff als Bezeichnung für die Restitution des englischen Königshauses nach Oliver Cromwell.

Mit diesen historischen Anmerkungen rückt Hannah Arendt in „Die Freiheit, frei zu sein“ das Revolutionspathos erst einmal zurecht. Revolutionen sind ein fragwürdiger Weg zu Veränderung. Das sagt eine Denkerin, die keineswegs bewahrend oder konsensorientiert war, die sich eher wenig Gedanken darüber machte, ob sie wo aneckte. Revolutionen sind ein schlechtes Mittel, Freiheit herzustellen, weil sie auf Gewalt beruhen. Gewalt ist, im Gegensatz zu Stärke (wie Arendt in „Vita Aktiva“ ausführt) ein probates Mittel gegen Macht. Gewalt ist aber Terror, und der „weiht Revolutionen dem Untergang oder deformiert sie so entscheidend, dass sie in Tyrannei und Despotismus abgleiten“. Die Macht zu übernehmen, ist nicht schwer. Eine alternative Ordnung aufzubauen, die Freiheit gewährleistet, dagegen sehr wohl.

Wie weit Revolutionen trotzdem gelingen, hängt unter anderem davon ab, wieviuel Freiheit auf dem Spiel steht und um welche Arten von Freiheit es geht. Arendt unterscheidet dabei die französische Revolution (die zu Terror führte) von der amerikanischen, die besser gelang. Die französischen Revolutionäre konnten dem König zwar den Kopf abschlagen, hatten danach aber noch immer nichts zu essen – oder einen Grundbesitzer, der sie strenger regierte, als es der König jemals gekonnt hätte.
Die politische Freiheit änderte nichts an der ökonomischen Unfreiheit.
Die amerikanische Revolution verlief im Gegensatz dazu geradezu erfolgreich – allerdings nicht etwa, weil die amerikanische Gesellschaft so viel freier und fairer gewesen wäre. Die ökonomisch Unfreien waren nur versteckter. Sie waren nicht Teil der Revolution. Es waren Sklaven.

Politische Freiheit, sogar vorher schon politisches Interesse brauchen wirtschaftliche Grundlagen. Wo Freiheit scheinbar leicht vonstatten geht, das ist zumindest der Gedanke, den ich aus diesem Vortrag mitnehme, müssen wir die Sklaven suchen, die Ausgeschlossenen. Das sind möglicherweise die, auf deren Kosten Freiheit geht, möglicherweise die, die Freiheit ermöglichen und immer die, um die es trotz allem in der Revolution gar nicht geht. Sie sind beispielsweise die Ordnung, die den Alltag am laufend hält, während irgendwelche Dynamiker fröhlich von Revolutionen phantasieren.

Moses Isegawa, Schlangengrube

Die ersten Jahre sind eine Idylle. Isegawa beschreibt das Uganda der frühen 70er Jahre, einer Zeit nach der Unabhängigkeit, nach ersten Umstürzen – die Zeit der ersten Herrschaftsjahre von Idi Amin.
Ein wenig dieser Idylle ist heute in Entebbe, der ehemaligen Hauptstadt Ugandas noch spürbar – in Entebbe ist der Flughafen Ugandas, der Äquator ist nicht weit weg, es gibt noch den ältesten Golfclub Ostafrikas und einige Strandbars am Viktoria-See, dessen Ufer den Blick auf eine endlose Weite preisgeben, die den Betrachter das Meer nicht vermissen lässt. Manche dieser Strandbars sind neben ärmlichen Fischerhäfen, in denen einst bunt bemalte Holzboote, die fast alle Spuren von Lack verloren haben, noch immer täglich auf den See fahren, manche gehören zu leidlich renovierten Hotels aus den sechziger Jahren, in denen die reicheren Ugander Wochenende verbringen, manche zu Luxusresorts, in denen Expats unter sich bleiben. Nichts ist so vergänglich wie Luxusarchitektur in den Tropen.

Die Idylle ist nicht das Thema von Isegawa. Sein Protagonist kehrt nach dem Studium in England nach Uganda zurück und möchte etwas aus sich machen. Bat Katanga bekommt einen Job in einem der unzähligen Ministerien in der Verwaltung Amins und steigt stetig nach oben. Sein schneller Aufstieg ist allerdings nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass viele seiner Vorgänger bei Diktator in Ungnade fallen, zerstückelt werden, Krokodilen zum Fraß vorgeworfen werden oder in den berüchtigten Folterkammern beim alten Königspalast in Kampala landen, die man heute noch besichtigen kann.

Der Weg geht lange gut – bis Katanga eben selbst in der Schlangengrube verstrickt ist, erst als bestechlicher, korrumpierter Beamte, der sich tolle Autos und Geliebte leistet, dann als erpressbares Opfer, als jemand, der zu weit in die Näher des Diktators gekommen ist – und jetzt dessen Misstrauen und Angst spürt, die sich immer in gewaltigen Drohungen entladen.

Isegawa schafft es, Gewalt in knappen und fast wortkargen Szenen sehr eindrücklich wirken zu lassen. Er inszeniert keine Dramen, Schilder keine Gräueltaten – es geschieht ganz selbstverständlich. Und die Entwicklung ist ausweglos.
So ist Schlangengrube ein sehr bedrückendes Buch – aber eines, das die Geschichte Ugandas sehr gut erfahren lässt.

Idi Amins Terror – State of Blood

Wer mehr über die Diktatur Idi Amins von jenen wissen will, die direkt dabei waren, kann gleich noch Henry Kyembas “State of Blood“ lesen. Kyemba könnte eine Vorlage für die Charaktere Isegawa gewesen sein. Auch er war Beamter in der Verwaltung Amins, stieg ständig nach oben und musste schließlich unter Lebensgefahr den Fluchtweg nach England suchen. Kyemba beschreibt Amins Agieren in der Welt, das taten- und ahnungslose Zusehen der Weltgemeinschaft (im Buch ist auch ein Foto vom Shakehands zwischen Kurt Waldheim – damals UN-Generalsekretär – mit Amin) und das paranoide Regieren Amins.
Amin machte Stimmung mit zahlreichen Versprechungen – Krankenhäuser hier, Schulen dort – setzte dann seine Minister unter Druck, das entgegen aller Budgetpläne umzusetzen, und zog sie dann eiskalt zur Rechenschaft, wenn das Geld, das sie dafür abzogen, dann anderswo fehlte.
Bevor jemand Kritik äußern konnte, wurde er oder sie getötet; in den späteren Jahren seiner Diktatur wurde überhaupt jeder beseitigt, der potenziell Kritik üben konnte – das betraf Gebildete, Geschäftsleute, Intellektuelle und eben die eigenen Regierungsmitglieder.
Kyemba konnte sich 1978 absetzen und seine Familie nachholen, obwohl er auch auf diplomatischen Auslandsreisen stets vom Geheimdienst begleitet wurde. „State of Blood“ erschien 1979 als Amin noch an der Macht war – es ist also keine komplette historische Aufarbeitung, aber ein direkter Augenzeugenbericht.
Einer, der nicht vergessen werden sollte. Auch in Uganda kokettieren manche jungen Leute noch oder wieder mit Idi Amin, mit dem Bild eines starken Mannes, der tatkräftig durchgreift.

Wären es doch nur Geheimdienste gewesen, seufzt die Presse

Erst waren es Geheimdienste, vielleicht aber auch Komiker, dann Künstler, und jetzt schnöde Anwälte. Dieser Hintergrund des legendären Ibiza-Party der ehemaligen FPÖ-Granden Heinz Christian Sprache und Johann Gudenus empört anscheinend manche noch mehr.
Wären es doch bloß Geheimdienste gewesen, die ein tragfähiges Komplott geschmiedet hätten, um ein Land ins Chaos zu stürzen. Oder wenigstens Künstler, die von der Dynamik ihres Werks ein wenig überholt worden sind.
Aber Anwälte und Detektive, die versuchen, belastendes Material gegen jemanden zu sammeln? – Davon distanzieren sich Journalistinnen und Journalisten, das sind keine journalistischen Methoden, klingt es aus ziemlich vielen Redaktionen.
Warum eigentlich?
Ich kann aus zwei Gründen nicht ganz nachvollziehen, warum Journalisten jetzt das Gefühl haben, auf Distanz gehen zu müssen.
Zum einen ist hier jemand Dingen auf den Grund gegangen, hat den gewohnten Rahmen verlassen und die Szene gesucht, von der viele geredet haben, die aber noch nie in verwertbarer Form aufgetaucht ist. Dabei wurde sicher auch ein wenig angeschoben, man hat eben das Gespräch in die richtige Richtung gelenkt.
Zum anderen ist das Video ja nicht in manipulierter Form in eigenen Kanälen veröffentlicht worden. Spiegel und Süddeutsche Zeitung sind keine No-Name-Brands im Medienbusiness; deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben das Video geprüft, die veröffentlichten Stellen ausgewählt und entschieden, an die Öffentlichkeit zu gehen. Sollten die veröffentlichten Stellen also tatsächlich manipulativ ausgewählt worden sein, sollten den kompromittierenden Aussagen von Strache manipulative Einladungen, Unterstellungen oder andere Verfälschungen vorausgegangen sein, dann wäre es ja diesen Medien anzulasten, nicht den Produzenten des Videos.

Sicher könnte man wohl sehr viele Menschen in ähnliche Fallen locken. Sicher wäre es nicht wünschenswert, wenn dieser Umgang Alltag wäre.
Es war aber genauso wenig wünschenswert, dass Strache und Gudenus federführend daran beteiligt waren, eine Öffentlichkeit zu schaffen, in der Lügen Teil politischer Strategie sind, in der es das Hauptziel angeblicher Diskussionen ist, Diskussion unmöglich zu machen, in der Medien mit kontrollierten Inszenierungen versorgt werden, die so undurchlässig sind, dass man sie bestenfalls ignorieren kann, nicht aber hinter ihre Kulissen blicken.
In dieser Situation muss man schon einmal zu drastischeren Mitteln greifen, um eine Story, die jeder kennt, aber niemand schreiben kann, in Form bringen zu können.

Mir waren im Gegenteil viele vermeintliche Investigativ-Storys der letzten Jahre viel zu zahn- und hilflos. Ich denke an diverse Burschenschafter-Porträts, in denen Burschenschafter sich als adrette Jungs präsentierten und deren ganzer Reiz in der Ankündigung bestand, Burschenschafter begleitet haben – dass dabei nichts passiert ist, war dann die eigentliche Geschichte. Ich denke auch jenen Schweizer Journalisten, der auf Social Media eine Woche lang ankündigte, sich monatelang in engste Neonazikreise eingeschlichen zu haben. Die Story war dann ein mauer Zwanzigzeiler darüber, dass er einige Wochen lang in einer Neonazi-Chatgruppe online mitgelauscht hatte, ohne jemals Menschen zu treffen. Ich denke auch an Porträts von Geschäftsleuten, Investoren, Unternehmen, deren Essenz als Zusammenfassung von Zeitungsarchiven ist, dass zwar viel geredet wird, aber man nichts genaues nicht weiß.

Der Abend in Ibiza war gewiss ein ungewöhnliches Interview-Setting. Aber eines, das eine handfeste Story liefert, über die Journalisten berichten können – statt in einer Mischung aus Bericht, Analyse und Kommentar zwischen den Zeilen Meinung mit Fakten zu vermischen oder Journalismus mit Politikberatung zu verwechseln.

Carlos Katzenjammer

Die da oben und ihre Unfähigkeit, auf Menschen jenseits der eigenen Szene einzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, ihre Sorgen zu verstehen – das zu analysieren ist ein spannendes Unterfangen, wenn es nicht von einem ideologisierenden Populisten kommt, sondern von Carlo Strenger, der als Essayist und Kolumnist schon einige Jahre mit der Welt hart ins Gericht geht.
Sein letztes Buch, „Zivilisierte Verachtung“, war eine Abrechnung mit falscher Toleranz und Korrektheit und zugleich ein Aufruf, die Arbeit der Aufklärung fortzusetzen und ernstzunehmen.
Gegen das Anliegen gibt es wenig einzuwenden; warum das ausgerechnet über Verachtung passieren soll, bleibt allerdings ein wenig zweifelhaft. Verachtung beendet Beziehungen, statt sie zu beginnen; verachten können Gleichgesinnte am besten geschlossenen Gesellschaften, und Verachtung ist auch nicht gerade ein fördernder oder positiver Kommunikationsstil.
Dazu habe ich schon einiges gesagt; hier möchte ich nur noch mal betonen: Natürlich muss nicht jeder Unsinn gleich behandelt werden wie nachvollziehbare und logisch strukturierte Argumente. Mit Verachtung wird man allerdings weniger jemanden überzeugen noch eines besseren belehren; Verachtung als Reaktion und Taktik dient ebenso nur der eigenen Zufriedenheit wie das Gefühl, eine „guter“ und toleranter Mensch zu sein.

Geringschätzung ist Teil der Gruppenidentität von Eliten

Auf den ersten Seiten von “Diese verdammten liberalen Eliten” klingt es auch so, als hätte Strenger sich die Sache anders überlegt. Er kritisiert liberale Eliten für ihre Unfähigkeit, Realitäten und Lebenssituationen anderer wahrzunehmen, für die fehlende Bereitschaft, sich mit ganz praktischen Alltagsproblemen (und man kann ergänzen: strukturellen Schwierigkeiten) auseinanderzusetzen. Er kritisiert auch die Tendenz zu herablassenden Reaktionen und stellt ein Zunehmen von Distinktionsriten und der Betonung kulturellen Kapitals fest.
In einem Exkurs zeichnet er sogar Personas von Vertretern der liberalen Elite, die er aus Patientinnen seiner Praxis als Psychoanalytiker zusammensetzt. – Diese super erfolgreichen und weltgewandten Menschen haben also auch Zweifel, erfahren wir, und sie leiden darunter, dass sie nicht nur von außen starkem Erfolgsdruck ausgesetzt sind, sondern auch an sich selbst den Anspruch stellen, die Welt verändern zu müssen, einen Fußabdruck hinterlassen zu müssen.

So weit, so gut.

Vage Hoffnung: Die anderen mögen „endlich begreifen”

Dann zerfällt Strenger Argumentation etwas. Während er eben noch erklärt hat, dass dieser Erfolgs- und Größendruck dem Erkennen realer Probleme realer anderer Menschen im Weg steht, Empathiemangel, Tunnelblick und Arroganz kritisiert hat empfiehlt er dann doch wieder sein Konzept zivilisierter Verachtung als angemessene Reaktionsform. Denn die Verachtung solle sich ja nicht gegen Menschen richten, sondern gegen die Idee, denen diese anhängen. Das ist allerdings ein Problem. Denn gerade weniger gebildeten, weniger diskurserprobten Menschen fällt es schwerer, zwischen der Kritik an einer Idee (die vielleicht gar nicht ihre ist, wie im Fall von Religion) und der Kritik an sich selbst zu unterscheiden.
Schmerzhaft ist, wenn Strenger seine Empfehlung zu zivilisierter Verachtung mit der Erwartung verknüpft, „die Wähler“ mögen „irgendwann begreifen“.

Welche Art von Bildung braucht es?

Strenger plädiert denn auch für mehr und umfassendere Bildung – sowohl für die Eliten als auch für alle anderen. Dem kann man grundsätzlich nicht widersprechen, im Detail kann ich allerdings wieder nicht mit. Das hat zwei Gründe:
Erstens plädiert Strenger für eine Erweiterung des Bildungskanons, der auch mehr sozial- und wirtschaftswissenschaftliches Knowhow sowie Mathematik und Statistik umfassen müsse, und sich nicht mehr auf Geisteswissenschaften konzentrieren solle. – Geisteswissenschaften sehe ich schon lange nicht mehr im Zentrum des praktischen Wissensuniversums, dafür fehlt mir Informatik (gut das könnte man noch mit einer Kombination aus Mathematik- und Wirtschaftsknowhow ersetzen).
Der größere Widerspruch liegt für mich darin, dass Eitelkeit, Arroganz, Spott und das dauernde Kratzen an den Leistungen anderer die unabdingbaren Kernelemente jeder Form von elitären Gesellschaft ist. Nehmen wir nur die akademische Welt, in der es immer nur um Exzellenz geht, darum, besser zu sein als andere, andere überwinden und auch ein wenig bloßstellen zu wollen – darauf beruht akademische Forschung und Karriereplanung. Dank dieser Dauerwettkampfes haben auch nur sehr weniger ForscherInnen Interesse daran und Energie dafür, etwas außerhalb ihres Fachgebietes und ihres direkten Wirkungskreises zu bewegen.
Für wirtschaftliche Eliten gilt das ähnlich – Anwälte, Banker und andere Mitglieder der Finanzelite sind eher oft der Inbegriff des bildungsmäßig unkultivierten Menschen.
SpezialistInnen müssen außerdem SpezialistInnen bleiben, um exzellent sein zu können. Der Versuch, die mehr als GeneralistIn zu betätigen, führt zu unerwünschten Blößen schließlich ist auch strukturiertes Denken ein spezielles akademisches Fach (wenn wir schon in elitären Kreisen bleiben; es nennt sich Philosophie).
Zuletzt ist Strenger zwar zuzustimmen, dass Entscheidungen aufgrund bewusster Abwägungen und anhand der aktuellsten und am besten gesicherten Erkenntnisse getroffen werden sollen, allerdings ist das allein keine politische Kategorie. Hinter politischen Fragen sollte immer noch die Frage stehen, wie wir leben wollen – und auf die gibt es keine rein wissenschaftliche Antwort.
Die Antwort wird vermutlich immer schwieriger, je weiter sich Eliten vom Rest der Welt entfernen und darauf warten, dass dieser Rest eben irgendwann begreifen möge (siehe oben).

Was bleibt dann?
Schöner wäre die Welt natürlich, wenn wir alle Eliten wären. Aufgeklärt genug um nicht in falschen Traditionen zu verharren, entspannt genug, um Bräuchen und Traditionen Raum zu geben, selbstbewusst genug, der Welt nicht um unseretwillen unseren Stempel aufdrücken zu müssen, gebildet und flexibel genug, um immer und überall unser wirtschaftliches Auskommen zu finden.

Strenger schließt denn auch damit, dass Gesellschaften in Bildung investieren müssen, und dass Eliten in den Ring steigen und Diskussionen aufnehmen müssen. Das wird allerdings wiederum nur ohne Verachtung funktionieren.
Und die Idee, dann gleichsam alle über Bildung in Eliten zu transformieren, ist ja ein geradezu sozialistisches Ideal. Oder das Ideal eines aufgeklärten Kapitalismus. Aber das wird dann schon eine andere Geschichte.

Journalismus und der fließende Übergang zur Schizophrenie

Eine Partei engagiert eine Coverband und ist mit deren Repertoire nicht zufrieden. Ok, das hätte man vermeiden können.
Ein Musiker beschwert sich daraufhin und redet dummes Zeug, das niemand außer seinen Fans mitbekommen hätte.
Eine Journalistin greift diese dumme Zeug auf und hebt es in die Zeitung, wo viel mehr Menschen davon erfahren.
Die gleiche Journalistin schreibt dann in der gleichen Zeitung darüber, dass der Musiker dummes Zeug redet, das es nicht der Rede wert wäre, darüber zu reden, geschweige denn, sich zu echauffieren.

Man könnte sich Dinge fragen.

Aber in der Zwischenzeit hat sich schon der Bundeskanzler eingeschaltet und festgestellt, dass es sich hier wirklich um eine Staatsaffäre handelt.