Intelligente Urbanität – Ich, Landei…

Intelligente Urbanität – Ich, Landei…

Cityslicker werfen sich in Tracht und zelebrieren Wiesenparties, Erntedankfeste und Trachtenbälle in der Stadt. Intelligent? Pünktlich zu Wochenbeginn, Schulbeginn und Schlechtwetter tönt es an den Haltestellen der Wiener Linien: “Verkehrsbedingt kommt es…” Vernetzt?
Städte sind oft einfach Ärgernisse. Aber es zahlt sich aus, sich darüber zu ärgern, Städte bieten etwas. Gibt es eigentlich auch Konzepte intelligenter Ruralität? – Das ist ernsthaft noch eine Kombination, zu der Google (bis heute) keine Treffer listet.
(Beitrag zur Blogparade „Smart living im Jahr 2020 – Mehr Lebensqualität für alle?“)


Worum geht es bei intelligenter Urbanität: Dinge schneller, besser, effizienter, ressourcenschonender abwickeln, Probleme vermeiden, letztlich: mehr vom Gleichen machen. Städte entwickeln sich, werden größer, kleiner, stehen zwischen Landflucht und Cityflucht – und noch immer ist der Verkehr nicht dreidimensional in den Luftraum ausgelagert.
Vernetzte Dinge sind vor allem Planungs- und Problemvermeidungshilfen. Autos erkennen, dass zu viele von ihnen auf zu engem Raum sind und empfehlen über ihre Navigationsgeräte andere Ausweichrouten. Regenschirme oder Gummistiefel kennen die Wetterprognose für den Tag und bestehen darauf, mitgenommen zu werden. Es geht um mehr vom Gleichen; schneller, höher weiter; Veränderung spielt keine Rolle.

Das liegt natürlich daran, dass wir Veränderung, das Neue, noch nicht kennen. Sonst wäre es ja nicht neu.

Was fehlt mir an intelligenter Urbanität wie ich sie mir einfach vorstelle?

  • Urbanität ist für mich provinziell. Es gehört für mich zu den erschreckendsten Vorstellungen, alles in unmittelbarer Nähe zu haben: Wohnung, Büro, Supermarkt, bevorzugte Lokale – alles ums Eck? Um um Luftveränderung zu erfahren, ein Wochenendtrip nach Berlin, Barcelona oder London – um dort das Gleiche zu machen? Und einmal im Jahr Abenteuer, wie sie von der Lonely-Planet-Redaktion beschrieben werden, unterhaltsam schon vor dem Erleben nachlesbar?
  • Urbanität ist ein schlechtes Vorbild. Alles greifbar haben zu wollen führt zu einem passiven Leben. Und das verstärkt die Argumente, die auf dem Land zu Reihenhaussiedlungen, Gemeindebausilos und der Zerstörung von Freiraum führen. Besserer Unternehmensstandort, mehr Steuereinnahmen, sind die Argumente von Bürgermeistern. Wir müssen die Herde sammeln, um dem Wolf mehr Beute zu bieten.
  • Was macht der Urbanist am Wochenende? Er steigt in sein geshartes Car und macht einen Ausflug in den nahen Nationalpark. Carsharing-Autos belasten die Umwelt genauso wie Autos in Privatbesitz. Dem Auwaldhirschkäfer ist es egal, wessen Diesel er schnupft. – Bauernmärkte, hat der britische Spectator analysiert, sind ebenfalls in der Regel nicht ökologischer als Supermärkte: Statt die Ware beim nächsten Großhändler abzuliefern, stiften sie Bauern dazu an, selbst zu den lukrativen Standorten zu fahren.

Eine Herausforderung sehe ich, gerade in überschaubaren Gebieten wie Europa, darin, diese Abgrenzungen zwischen Stadt und Land, Mobilität und Erreichbarkeit gar nicht erst entstehen zu lassen. Funktionierende Städte, die die weissen Flecken dazwischen ignorieren, schaffen ihre nächsten Probleme gleich selbst.
Was machen wir mit dem ganzen Platz (ausser Reihenhäuser bauen, Lagerhallen errichten, Industriegelände ansiedeln, Naturlehrpfade errichten (die der Kinder-Zielgruppe herzlich egal sind, aber meist wenigstens großartige Mountainbike-Downhilltracks abgeben) und stillgelegte Bahnofsgebäude in Strickzentren umwandeln)?
Der Umgang mit Freiraum erfordert noch weit mehr intelligente Sorgfalt als das Jonglieren mit vielen Anforderungen auf engem Raum. – Es geht nicht nur ums Problemlösen und -vermeiden, sondern vor allem auch um die Gelegenheit, etwas mal wirklich gut zu machen. Und diese Gelegenheit kann man nicht beliebig oft wiederherstellen…

Was heisst das, als kleine wahllose Beispiele, für Netzwerke und intelligente Technik:

  • Gerade mobile online-Dienste entfalten ihren größten Nutzen dort, wo ich nicht nur eine Couchlänge vom Schreibtisch entfernt bin – was täte ich ohne Satellitenbild am Smartphone im Au-Urwald…?
  • Ich betrachte meine Strassenkreuzung, die sich Dorf nennt, eher als Platz in einem L.A.-ähnlichen Raumgefüge, das von Klosterneuburg bis Bratislava und von Mistelbach bis zum Neusiedlersee reicht, und ich sehe das auch als meinen potentiellen täglichen Bewegungsspielraum. Nur schlecht, dass der Großteil dieser Wege unmöglich ökologisch sinnvoll erledigt werden kann, und wirklich ärgerlich, dass nicht einmal in diesem Grätzel so etwas wie durchgängige Netzverbindung möglich ist.

Stadt allein ist mir zu wenig. Oder, wie Werner Reiter in seinem Beitrag sagt: “Nicht in die Defensive kommen”.

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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