Thomas Meyer: Hannah Arendt

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Arendt ist eine der aktuellsten Denkerinnen - und zugleich eine, deren Denktradition eindeutig einem vergangenen Jahrhundert angehört.

Literatur gibt es sicher nicht zu wenig: Hannah Arendt selbst war eine der produktivsten Autorinnen ihre Zeit, einige Monografien setzen sich mit ihrem Werk auseinander – eine Geschichte des Menschen Arendt gab es in der Ausführlichkeit noch nicht.

Was bleibt hängen von der Lebensgeschichte und dem Werk einer sehr prägenden, aber nicht leicht auf den Punkt zu bringenden Autorin? Hans Jonas – das war der mit der Verantwortung. Günther Anders, damals Stern – der mit dem Ende der Menschheit. Martin Heidegger – der mystische Phänomenologe, an der Grenze zum Schwurbler, der zuletzt völlig den Faden verlor. Adorno – der mit der Kulturindustrie. 

Ähnlich ungreifbar wie Hannah Arendt war eigentlich nur Walter Benjamin, für dessen Rezeption sie sich auch jahrzehntelang einsetze. Wie Benjamin ist auch Arendt ständig der Gefahr ausgesetzt, zur ergiebigen Beute plündernder Zitateräuber zu werden, die isolierte Sinnsprüche mit bedeutungsvoll gerunzelter Stirn vor sich her tragen und mit der Souveränität des wenig Belesenen, der sich nicht von zu viel Information verwirren lässt, ganz genau wissen, was dabei vermeintlich Sache ist.

Bei Arendt gibt es mehrere Ansatzpunkte dazu: Sie ist politisch schwer einzuordnen – das macht sie zu einer potenziellen Galionsfigur Liberaler. Auch wenn Liberale in den USA ihrer Zeit Linke waren.

„Ich bin nicht an Wirkung interessiert“ – diese wiederholte Feststellung in dem berühmten Fernsehinterview von 1964 macht sie in Abgrenzung von welterklärenden und Gefolgschaft sammelnden Männern zu einer Ikone weiblicher Andersartigkeit.

„Ich will verstehen“ – dieser auf mehrere Interviews zuruckzuführenden Aussage kann jeder Mensch mit philosophischem Grundinteresse zustimmen, aber sie bedeutet für sich genommen wenig. In Über das Böse hat Arendt das im übrigen etwas näher ausgeführt.

Was sind also Momente, die von einer 500-Seiten-Biografie über eine Frau, über die man vermeintlich alles weiß, hängen bleiben? 

Ihre Dissertation wurde als enttäuschend empfunden. Gutachter war Karl Jaspers, der später von einem Lehrer zu einem Bewunderer werden sollte.

Die Beschäftigung mit Antisemitismus hat Arendt ein Leben lang geprägt – auch wenn das Thema in vielen ihrer philosophischen und weniger historischen Schriften wenig durchscheint. 

Die 30er Jahre als Generalsekretärin einer jüdischen Organisation in Paris waren eine wichtige Phase praktischer Tätigkeit, aus der sie Knowhow für die Einschätzung politischer Arbeit schöpfte und die die Grundlage für Positionen schaffte, die sie in Vita activa beschrieb.

In manchen Themen war auch sie aus der Zeit gefallen. Mit Feminismus kann sie eher spät in Berührung; für Feministen der 60er und 70er Jahre blieb sie wenig relevant. 

Rassismus und schwarze Bürgerrechtsbewegung blieben ihr fremd, sie verstieg sich zu manchen eher kruden Thesen, die sie später zurücknahm. Auch in dieser Debatte spielte sie keine Rolle. Manch pseudodekonstruktiven esoterisch-postmodernen Linken, denen Arendt als abgestempelte Liberale suspekt war, konstruieren daraus bis heute Rassismusvorwürfe, „belegen“ diese aber absurderweise mit Passagen aus „Elemente und Ursprünge totalitäter Herrschaft“, in denen Arendt Rassismus beschreibt. 

Und es bleibt schwer vorstellbar, wie eine einzelne Person dass Arbeitspensum bewältigt hat. Schon ihre Publikationen sind enorm. Dazu kommen Vorträge, politische Arbeit, Arbeit als Lektorin – und all das lange Zeit aus eher prekären Verhältnissen ohne feste wirtschaftliche Beziehungen. Sie muss extrem produktiv und extrem organisiert gewesen sein. 

In die Faszination einer Denkerin, die zu sehr vielen Themen sehr hellsichtiges geschrieben hat, mischt sich, gerade in der intensiveren Auseinandersetzung, auch Distanz. Arendt ist eindeutig eine Denkerin des vorigen Jahrhunderts, einer vergangenen Zeit. Die stets präsente Rückbeziehung auf die Antike als Fundament des Westens, die universelle Belesenheit, aber auch die Selbstsicherheit in der Interpretation von Quellen sind starke Anzeichen dafür. Ein gemeinsamer Kanon gilt als vorausgesetzt – auch wenn die Schlussfolgerungen gerade bei Arendt häufig von herrschenden Lehren abweichende sind.

Arendt distanziert sich von Existenzphilosophie und der Pose der geworfenen Verzweiflung (sei es bei Heidegger oder bei Sartre), sie schreibt pragmatischer als ihre Freunde Hans Jonas und Walter Benjamin, sie ist moderner als Camus (den sie unter den Existenzialisten offenbar noch am ehesten gelten ließ) – und dennoch ist auch die Vertreterin einer Denktradition die gerade endgültig in Archive wandert und deren Anschlussmöglichkeiten an Debatten unserer Zeit verloren gehen. Die Geste der Jahrtausende überspannenden Kontexte, das Bedauern von Gottverlassenheit und anderen Verfallssymptomen, religiöse Anspielungen und Anrufungen – das sind Tropen, die schon völlig aus der Welt gefallen sind, bühnenbildende Maßnahme, die früher das passende Setting geschaffen haben, heute aber eher für Verwirrung sorgen.

Die Beschäftigung mit Hannah Arendt, die immer wieder noch heute gültige Diagnosen trifft, zeigt auch, wie sehr es an der Zeit ist, sich von einigen Denk- und Schreibtraditionen zu verabschieden. Gerade wenn man als public intellectual gehört werden will. Um einige Entwicklungen ist es wenig schade – etwa um die Sprachlosigkeit Heideggers, der über 50 Jahre hinweg daran scheiterte, seine Grundgedanken vom Sein präziser zu fassen oder gar zu einem Ausweg aus der diagnostizierten Sackgasse der Philosophie zu führen. Mit dem Verlust des gemeinsamen Kanons geht aber auch die Möglichkeit des intellektuellen Streits verloren – was man nicht versteht, darüber kann man nicht streiten, man kann es allenfalls doof finden. Die scheinbare Befreiung – endlich müssen wir nicht mehr 2000 Jahre Geistesgeschichte im Kopf haben, um mitreden zu können – ist auch eine Beengung: Der eigene kleine Gedankenhorizont verleiht absolute Urteilskraft, denn nichts außerhalb dieses Horizonts ist wichtig. Alle sind sich selbst die Klügsten und arbeiten schnell an der eigenen Gefolgschaft, die sich ebenfalls nicht zu sehr mit anderen Ideen beschäftigen sollte. Aus einem großen Horizont werden viele kleine Paralleluniversen, die ihre Belanglosigkeit nicht mit Information oder Argumenten bekämpfen, sondern mit der Behauptung der eigenen WIichtigkeit. Das habe ich schon öfters ausführlicher beschrieben.

Vielleicht gilt aber auch nur: Wer den Kopf schüttelt über Dummheit oder Anmaßung der Gegenwart, hat ganz einfach den Anschluss verloren. Arendt dürfte es in Hinblick auf Frauen und schwarze Bürgerrechte ein wenig ähnlich gegangen sein. In einigen Fällen revidierte sie ihre Position, in anderen blieb sie eher verständnislos, in wieder anderen wurde sie interessierte zurückhaltende Zuhörerin.

Meyers Buch ist tatsächlich eine Biografie und anderes als bisherige Arendt-Monografien keine Einführung ins Werk. Nicht zuletzt dank der enormen Produktivität sind diese Bereiche bei Arendt schwer zu trennen – sie verbinden sich eben zu dem Bild der heute mehr und mehr aus der Zeit fallenden öffentlichen Intellektuellen, die in aller Ruhe sagen konnte: „Ich bin an Wirkung nicht interessiert.“ Dass sie das im Fernsehen sagte, relativiert die Aussage ein wenig wie die Beteuerungen 90jähriger Schauspielerinnen, lieber einsam im Waldviertel zu leben als in der Stadt – nachdem sie ein ein buntes Leben in den Städten der Welt geführt haben und ihr zurückgezogenes Leben angereisten Reporterteams beschreiben. Oder so wie die Lebensweisheit Arnold Schwarzeneggers, man solle alles der Leidenschaft wegen machen, nicht des Geldes wegen – er habe seine ersten Millionen früh mit Immobilien gemacht und sei deshalb immer finanziell unabhängig geblieben. 

Alle drei Fälle sind widersprüchlich, allen dreien aber bleibt gemeinsame Substanz. Sie demonstrieren Bescheidenheit jener, die sich Bescheidenheit und Zurückhaltung leisten können – weil eben diese Zurückhaltung in der Vergangenheit gar nicht ihres war.

Trotzdem stehen alle – und Arendt ganz besonders – für Arbeit an der Sache, die Ergebnisse liefert und dafür lange Wege geht. Das steht in krassem Gegensatz zu einer halbintellektuellen Kultur der Wirkungsorientierung, die Reaktionen und deren Intensität deutlich höher bewertet als Konsistenz und Qualität des Gesagten. Wichtig ist nicht, was man sagt (und ob es richtig oder falsch ist), sondern wer darauf wie laut reagiert.

Belesenheit oder gar die Anknüpfung an große geistige Entwicklungslinien sind heute eher ein Hindernis. Wer sich damit aufhält, kommt nicht schnell genug in die Diskussion. Bis eine Position formuliert ist, hat die Umgebung schon vergessen, worum es ging. 

Diese Tatsache beschreibt eine der schärfsten Trennlinien zwischen den Denktraditionen einer Hannah Arendt und der Gegenwart. 

Michael Hafner

Michael Hafner

Technologiehistoriker, Comic-Verleger, Datenanalyst

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