Darren McGarvey, Poverty Safari

Der ständige Überlebenskampf stresst. Sorge, Zeitmangel, Gedanken, die sich im Kreis drehen, nächtelang wachliegen, zum wiederholten Mal nachrechnen, ob man die neuerliche Überziehung am Konto in Kauf nehmen kann – all das kostet Kraft. Und es führt zu Ersatzhandlungen und Ablenkungsmanövern: Rauchen, Trinken, schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, kein Sport, Drogen und Passivität, Gefangensein in immer wiederkehrenden Gedankenkreise, die jeden Schritt aus aus diesem Kreis unmöglich groß erscheinen lassen – so beschreibt der schottische Autor Darren McGarvey die Folgen von Armut in seinem Buch „Poverty Safari“.  McGarvey wuchs als Sohn einer Alkoholikerin auf, war nach deren frühem Tod einige Jahre obdachlos, arbeitete als Berater und Eisbrecher (unter dem Stagenamen Loki tritt der als schottischer Rapper auf) in der Sozialbetreuung und sogar als Sendungsgestalter für die BBC – und schlitterte trotzdem in eine Karriere von Alkoholismus, Drogen, Junkfood-Sucht und Hass. 

Vom Klassenkämpfer zum Armuts-Testimonial

In “Poverty Safari” beschreibt er Armut in den Wohnsilo-Gegenden von Glasgow, seine Erfahrungen mit der Sozial- und Hilfsindustrie und seine Ansichten über den Umgang mit Armut.  McGarvey war ein begeisterter Klassenkämpfer, der in den Verhältnissen die wesentlichen Gründe für viele Probleme sind. Es brauchte eine Revolution, einen Umsturz der Verhältnisse, ein neues System jenseits des Kapitalismus, um Menschen aus der Armut zu helfen. 
Seine Position als rappender Obdachloser, als intelligenter Junkie, als hellsichtiger Alkoholiker machte ihn als Testimonial für die Hilfsindustrie interessant. Und das veränderte seine Perspektive deutlich.  Menschen, die Armut bekämpfen wollen, kennen Armut und ihre Folgen oft nicht, war Garveys Ausgangsthese. Während seiner Zeit in der Hilfsindustrie lernte er, dass sie sich auch kaum dafür interessieren. Arme Menschen haben eine Opferrolle zu erfüllen, sie müssen bedürftig sein, sie können schon auch mal wütende sein und die Hand beißen, die sie füttert – was sie aber nicht dürfen, ist die klassenkämpferische Attitude der Helfer zu kritisieren.  Garvey kam irgendwas zu dem Entschluss, dass auch die bestausgestatteten Versorgungsprogramme Armut nicht reduzieren werden. Was notwendig sei, ist die Erkenntnis, dass vieles auch in der eigenen Macht und Reichweite armer Menschen liegt. Jede und jeder muss sich selbst dazu entscheiden, seine oder ihre Verhältnisse ändern zu wollen, jeder Alkoholiker, Junkie oder Junkfoodsüchtige muss sich selbst dazu entscheiden, die Passivität, die seine Sucht begleitet, überwinden zu wollen.

Nur die “Revolution” ist noch nebulöser als der “Neoliberalismus”

Dazu braucht es Hilfe, Sozialzentren, Sozialarbeit – aber keine vage Mythologisierung einer Revolution, die nicht stattfinden wird und nichts verändern wird. Gewohnheiten in Konsum, Kultur, Ernährung, Sport und Drogen, die dazu beitragen, Menschen arm zu halten, kann jeder nur für sich selbst durchbrechen. Man könnte McDonald‘s oder Alkohol verbieten – man kann sich aber auch entscheiden, sich davon das Leben nicht zerstören zu lassen.  Das aktuell gern gespielte Lied, dass die Zerstörung und Vernachlässigung des Gemeinswesens eine Folge neoliberaler Entwicklungen sei, die an allem antisozialen Schuld seien, wurde zu McGarveys Hassmantra.
Sobald McGarvey solche Gedanken durchblicken ließ, war seine Rolle als Armutsposterboy Geschichte. Er passte nicht mehr in das Bild, das die Armutsindustrie zeichnen wollte, er schlug andere Lösungen vor, als sie den helfenden Klassen vorschwebten. Das Befremden, das er angesichts der Taktiken und der Lernresistenz der Helfen beschreibt, erinnert an das Entsetzen, mit dem der ugandische Schriftsteller Moses Isegawa die Arbeit von Hilfs-NGOs in den Niederlanden kennenlernte.
Arme können sich vor allem deshalb nur selbst helfen, gerade weil die Folgen von Armut so vielschichtig und komplex sind. Es ist kein Hilfsprogramm und keine Wirtschaftsordnung, die diese Probleme lösen kann. Was allerdings nicht bedeutet, dass die Gesellschaft von ihrer Pflicht zur Hilfe entbunden wäre. Ganz im Gegenteil: Funktionierende Sozialzentren, Jugendzentren, in denen die Dinge, die Jugendliche beschäftigen sollen, auch vorhanden sind und funktionieren, Bibliotheken – all das muss bereitgestellt sein, um Menschen Chancen zu bieten. Und all dass muss in einem kapitalistischen System funktionieren (weil sich keine Alternative dazu abzeichnet), und es darf keinen staatlichen Sparprogrammen zum Opfer fallen. 
McGarvey ist keiner, der „es“ geschafft hat. Er predigt nicht von Do what you love, von Erleuchtung oder davon, dass er lernen musste, dass die anderen oder „das System“ recht haben. Er erzählt schlicht von vielen einzelnen Momenten, in denen niemand außer ihm Entscheidungen treffen konnte, in denen wohl auch niemand ein Problem gesehen hätte, das es zu lösen gälte. Ein Beispiel sind seine Fastfood-Attacken: Was soll schon schlecht daran sein, zu McDonald‘s zu gehen? Für jemanden, der versucht, seinen Körper in den Griff zu kriegen, gesünder und beweglicher zu werden, lernt, Selbstwert daraus zu ziehen, eigene Entscheidungen zu treffen und Konsequenz zu zeigen, kann eine Fressattacke wider Willen zerstörerisch sein.  Seine Skepsis gegenüber Büchern und kanonischer Literatur ist ein anderes Beispiel. Er folgte lang dem heute auch recht üblichen Muster, dass alte Literatur mit alten Geschichten, die nichts mit dem alltäglichen Leben und seinen realen Herausforderungen zu tun hat, doch niemanden interessieren kann. Heute sieht er Bibliotheken nicht nur wegen der Bücher, sondern auch wegen der Stille als wichtiges Mittel im Kampf gegen Armut. Arme Menschen, die bedrängt in dicht besiedelten Gebieten in Häusern mit Pappkartonqualität leben, können oft allein wegen der Geräuschkulisse keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn ein Buch lesen, mein Garvey. 

Klassenkampf, Identity – und am Ende muss man doch selber was tun

Und er spielt auch die Überlegung durch, ob Identität oder Intersektionalität das Potenzial haben, Klassendiskurse zu ersetzen. Die kurze Antwort: Nein.  Die lange Antwort: Beide Paradigmen haben den Vorteil, die gröbsten Klischees aufzulösen. Viele Erscheinungsbilder und Folgen von Armut finden sich auch unabhängig von Klasse. Vor allem Ausgrenzung, die Beschäftigung mit zusätzlichen Hürden im Alltag oder Süchte sind nicht an Klasse gebunden. Identity Politics neigt aber dazu, noch strengere Kriterien für Zugehörigkeit anzuwenden. Eben weil die Grenzen stets neu gezogen werden müssen, werden sie umso strikter gehandhabt. Es wird laufend entschieden, wer drin ist und wer nicht, es wird ausgegrenzt und zum Abschuss freigegeben, eigene Positionen sind gerade aufgrund des Bezugs zum Persönlichen unangreifbar und erheben Absolutheitsansprüche – damit zersplittern sie mehr, als sie vereinen oder stärken. Garvey sieht sogar eher hier, in den individualisierten Fronten, die sich auf Positionierung und Abgrenzung konzentrieren, „neoliberale“ Auswüchse: Es sei nicht verwunderlich, dass gerade große Konzerne Diversity als institutionalisierte Identity Politics unterstützen – das schaffe vielfältige Märkte mit immer neuen Bedürfnissen, und es schaffe eine vielschichtige und zersplitterte Arbeiterschaft, die sich nicht geschlossen gegen Konzerne wende. Spätestens hier würden jetzt ja gelernte Gewerkschafter mit pompösen Fanfaren einreiten und die Erstarkung des Kollektivs fordern. Das, so Garvey, helfe aber genau gar nichts gegen Armut. Die einzigen, die von Kollektivierung profitieren, sind jene, die dem Kollektiv vorstehen. Oder eben die Gewerkschaften. Für alle anderen schaffen Kollektive nur einen weiteren Grund, in Passivität zu verharren. 

Die Kehrseite wäre nun aber auch nicht, alles und jeden sich selbst zu überlassen. Sozialleistungen, Hilfsangebot und Unterstützungen sind auch in McGarvey Sicht essenziell, sie sollten sogar ausgebaut werden. Sie helfen bei menschenwürdigem Leben und bieten Menschen erst die Umgebung, in der sie klare Gedanken fassen und umsetzen können. – Solche Leistungen tragen für McGarvey aber nichts im Kampf gegen Armut bei. Armut und Abhängigkeit zu überwinden ist etwas, das jeder selbst machen muss.  Ohne individuellen Antrieb geht es nicht. 

Das steht natürlich in krassem Gegensatz dazu, wenn hierzulande Gewerkschafterinnen mit zitternder Stimme auf Ö1 von der „Lüge der Individualisierung“ erzählen und stattdessen die Rückbesinnung auf Kollektive, am liebsten natürlich unter Führung einer Gewerkschaft, fordern. Es verträgt sich auch wenig mit den Ansichten revolutionsfantasierender Mittzwanziger, die sich als KommunistInnen bezeichnen, trotz prekärer Jobs drei oder vier Auslandsurlaube im Jahr hinlegen und anscheinend keinen Stress haben, an ihrem Einkommen etwas zu ändern.

Irving Welsh, Autor der 90er-Jahre Drogensaga Trainspotting, sieht Poverty Safari als Steilvorlage für das Programm jeder sozialistischen Bewegung. Ich fürchte, auch das wird missverstanden. Auch Sozialisten müssten das Buch eben erst mal lesen. 

Was alles gesagt werden muss

Ich bin unschlüssig. Eher zufällig habe ich kurz nacheinander zwei Bücher zweier junger, wenig bekannter Autorinnen gelesen. Beide Autorinnen haben der Form nach mit mir wenig gemeinsam, beide schreiben Bücher, mit denen sie neue Perspektiven zeigen, den Blick verlagern wollen.  Und beide Bücher erstaunen vor allem deshalb, weil wirklich verwunderlich ist, was die Autorinnen alles für erklärungsbedürftig, erwähnenswert oder für relevante Information in einer Story halten. Damit bin ich noch gar nicht bei künstlerischen Aspekten. Ich sehe diesen Anspruch, eine Welt erklären zu wollen, eher als ein soziales Phänomen; Kunst unterscheidet sich dann recht wenig von Gesprächen (gern auch mit Revolutionsphantasie), die Social Media-Berühmtheiten hervorbringen.  Fallweise, um es andersherum zu sehen, haben diese Bücher auch den alten weißen Mann in mir getriggert. 

Die Autorin Schwarzrund hat mit „Biskaya“ einen „afropolitanen Roman“ über das Leben dunkelhäutiger Menschen in Berlin geschrieben. Die ProtagonistInnen sind großteils queere KünstlerInnen, auch sonst ist das Szenario kein ganz Altägliches: Es gibt Tote, Attentate und historisch bedeutsame Familienverwicklungen.  Manchmal kommt auch in den Dialogen oder inneren Monologen ein geradezu hemingwayesker Holzhammer zum Einsatz, der dann weniger für Klarheit als für Überraschung sorgt, gelegentlich auch für Befremden.  Was aber am meisten verwundert, sind jene Passagen, in denen Identityfragen gar so schwer von Fragen Heranwachsender zu unterscheiden sind, in denen sich das Problem in einem einfachen „Ihr seid alle Scheiße“, „Bin ich denn allein mit …“ materialisiert. 
Gerade für jemanden, der auf der immer Suche nach anderen Perspektiven ist, ist das erstaunlich. In „Biskaya“ spielen Genderbezeichnungen und uneindeutige Familienverhältnisse eine große Rolle, zehnjährige Kinder thematisieren Gender- und Identitybewusstsein – wenn die Protagonisten dann aber reden, bleiben sie uneindeutig, führen Dialoge wie aus Lifestylezeitschriften und brauchen die Dümmsten als Staffage, um ihren Punkt machen, ihre Story anbringen zu können. 
Gut, das könnte auch Taktik sein. Die Vorgehensweise, die dümmsten Argumente für eine Sache anzuführen, um dann genüsslich dagegen polemisieren zu können, ist das seit bald 30 Jahren die Sackgasse der Political Correctness-Kritik.  Als neugieriger Leser ist man dann etwas enttäuscht. 

Daria Bogdanska beschreibt in der Graphic Novel „Von unten“ ihre Erfahrungen als polnischen Einwanderin in Schweden, die dort eine Kunstschule besuchen und Studentenjobs machen möchte. Sie landet in einem indischen Restaurant, in dem Personal ohne Vertrag unter Kollektiv ausgebeutet wird, hat Freunde aus der Punkszene und landet schließlich bei einer Gewerkschaft. Die allerdings kann auch nichts weiter tun, als ihr zu raten, sich zu wehren – auf das Risiko hin, den Job zu verlieren.  Es gibt ein Happy End, der Böse wird besiegt und muss Strafe zahlen – aber der Weg dorthin ist auch von recht vielen Platitüden gepflastert.
Daria und die Punks träumen von Revolution, ergehen sich in Überlegungen, dass sich gesellschaftlich etwas ändern muss, wenn sie nicht ewig arm bleiben sollen, bedauern die, denen es noch schlechter geht als ihnen und die deshalb nicht mal zur Gewerkschaft können – und sagen keinen Satz, den man nicht schon vor fünfzig Jahren hätte sagen können. 
Letzteres ist durchaus ein soziales und politisches Problem. Auf der künstlerischen Ebene ist es eine Belanglosigkeit. Auf der gesellschaftlichen Ebene wirft es die Frage auf, wo junge AutorInnen meinen, ansetzen zu müssen.  Warum müssen die gleichen Überlegungen wiederholt werden? Wem müssen sie erklärt werden? Ist es Wissen, das vermittelt werden soll, ist es Meinung, die argumentiert werden muss? Werden die vielfältigen Berührungspunkte und Anknüpfungsmöglichkeiten ignoriert, weil man sie nicht kennt, weil sie verkannt werden, weil sie aus irgendeinem nicht ersichtlichen Grund ihre Bedeutung verloren haben? Ist es wichtig, möglichst voraussetzungsfrei schreiben zu können, oder zumindest die Voraussetzungslosigkeit behaupten zu können? 

Ich sehe beides als Indiz dafür, wie logische und historische Zusammenhänge ignoriert werden. Menschen beziehen Position, und dabei ist nicht einmal wichtig, ob sie wissen, in welcher Umgebung sie sich mit ihrer Position befinden, welche Bezüge damit verbunden sind. Damit geht aber auch viel an Bedeutung verloren – historische Parellelen oder logische Konsequenzen gelten als lästiges Beiwerk, als Einschränkung der individuellen Position, als Paternalismus, der die Originalität der eigenen Stimme in Frage stellt.  Stattdessen ist Individualität der relevante Masstab, das Kriterium, das jeden Einwand entkräften kann und so zur Wurzel eines neuen Absolutismus wird.  In einer extrem vielstimmig gewordenen Welt mag es durchaus ein angemessener Weg sein, auf den Tisch zu hauen, unbeirrbar zu bleiben und einfach eine eigene Linie zu behaupten. Ich sehe darin – eben im Behaupten – sogar wirklich relevante Fähigkeiten. Allerdings gehört etwas dazu, das diesen beiden Büchern über weite Strecken fehlt. Aber wenn ich das jetzt als einen souveränen Umgang mit Wissen beschreibe, dann oute ich mich vollends als alter weißer Mann. 

Malcolm Gladwell, Talking to Strangers

Gladwell ist ein Bestseller-Produzent. Seine Bücher verkaufen sich Millionenfach, seine Podcasts werden hunderte Millionen Mal gehört – ein Medienmensch der Stunde, der Themen setzt und Richtungen vorgibt.  Der Podcast „Revisionist History“ erzählt historische Details neu – und ist manchmal durchaus schwer greifbar. Gerade Podcast-Skeptiker haben es schwer, sich in dem Schwall an Information zurechtzufinden, es wird beim Zuhören eine Frage immer lauter: Warum höre ich das jetzt?

Um das Bestseller-Phänomen Gladwell besser kennenzulernen, habe ich es also mit seinem aktuellsten Buch versucht – und ein wenig geht es mir damit ähnlich. Gladwell beschäftigt sich mit Missverständnissen mit anderen und untersucht Fälle besonders plakativer Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Dazu vermischt er psychologische Forschung mit wahren Begebenheiten und schöpft dabei aus dem Vollen: Übergelaufene kubanische Spione, Doppelagenten in den Reihen amerikanischer Geheimdienste, die fälschlicherweise wegen Mordes an ihrer Mitbewohnerin verurteilte Amanda Knox, der britische Vorkriegskanzler Neville Chamberlain und College-Vergewaltiger Brock Turner sowie diverse Pädophile sind nur einige spekatuläre Statisten in Gladwells Buch.  Nichts gegen plakative Beispiele. Allerdings kommen mir die Thesen, die diese Beispiele illustrieren sollen, mitunter etwas zu kurz.  Einer von Gladwells Punkten ist, dass wir uns selbst in der Regel für recht komplex und individuell halten, das aber anderen gerne absprechen. Ein anderer ist, dass wir mit weniger Information mitunter bessere Entscheidungen treffen als mit aufwendiger gesuchter weiterer Information, wenn uns diese mit einem falschen Gefühl der Sicherheit zu Spekulationen verleitet. Gladwells Beispiel dafür ist Chamberlain, der die Kriegsgefahr einschätzen und deshalb Hitler kennenlernen wollte und nach Gesprächen zum Entschluss kam, dass man sich auf Hitlers Wort verlassen könne.  Eine andere These ist, dass Situation und Kontext eine Rolle dabei spielen, wie sich andere verhalten – obwohl wir das gerne übersehen. 
Die Thesen bleiben eher anekdotisch. Bei all den eingestreuten Beispielen fällt es schwer, bei der Sache zu bleiben; natürlich ist es, ob der faktenreichen Recherche, trotzdem fesselnde Lektüre.

Für Leser, die Thesen und Argumente erwarten, die sich weniger mit Beispielen und spektakulären Anekdoten, die schließlich alle schon von aktuellen Medien durchgespielt wurden, beschäftigen wollen, bleibt dann aber wenig übrig.  Gladwells Buch kann alles bedeuten, es hält sich alle Wege offen. 
Das macht es einerseits ein wenig unbefriedigend. Andererseits sind Gladwells Bücher wohl Paradebeispiele, wie sich Bücher zum Produkt werden. Sie haben einen griffigen Titel und stellen eine spannende Frage, bieten Reibungsfläche für Journalisten, die sie in beliebiger Richtung auslegen können, und füllen den Raum zwischen einzelnen Überlegungen mit sehr langen Nacherzählungen spektakulärer Kriminalfälle.  Aus Sicht des Autors und Verlegers ist das bewunderns- und beneidenswert.  Aus Sicht des denkenden Lesers ist das auch ein wenig schade.

Aber es lag wenigstens nicht am Podcast-Format, dass ich mir laufend die Frage stellen musste, warum ich das jetzt lese oder höre.

Die Greta-Grenze

„Die PR-Maschine läuft“, twittert Peter Rabl zu einem Link über Greta Thunbergs Schiffsreise nach New York und stellt einen säuerlich dreinblickenden Emoji daneben. Natürlich tut sie das und Gott sei Dank tut sie das – denn sonst wäre es geradezu unheimlich still auf der Welt. Und wenn es dem Herrn Rabe sonst noch niemand verraten hat, dann tu ich es: 95% dessen, womit er in seinem Leben als Journalist zu tun hatte, war PR. Der Rest waren Fehler von PR-Verantwortlichen. Sein Privileg war es, daraus Journalismus machen zu dürfen.  PR ist nichts Schlechtes, Engagement ist nichts Schlechtes, der Kampf gegen den Klimawandel ist nichts Schlechtes. Was reitet dann jene, die Greta Thunberg immer nur mit säuerlich abfälligen Kommentaren erwähnen können, die plötzlich offenbar sogar in Politiker_innen, denen man sonst nicht die üblicherweise größte Sachkompetenz zuschreibt, größeres Sach-Knowhow vermuten? Entlang welcher Werte und Überzeugungen verläuft die Grenze zwischen jenen, die soziale Bewegungen hinnehmen können und jenen, die sich darüber entrüsten müssen?

Üblicherweise bin ich, sobald Gruppendynamik Form annimmt, der erste, der einen Schritt zur Seite macht und weder überrannt noch mitgerissen werden möchte. Hier sehe ich die Pressuregroup aber recht eindeutig bei den alten Grantlern. Sie reden sich in einen Strudel, klopfen einander auf Schultern und überbieten einander dabei, nur zu reden, aber nichts zu sagen. (Anmerkung: Sie klopfen einander auf schmäler werdende, hängende Schultern, müsste man sagen, so wie sie gern Greta Thunberg Frisur und Gesichtsform erwähnen.)

Was sagt das also über die Methoden der Weltsicht, wenn manche hier mit Nachdruck Argumente suchen, eine Erfolgsstory nicht gut finden zu müssen? Da gibt es verschiedene Ansätze, über die man nachdenken könnte.

Egozentriker!

Eine erste Idee ist natürlich ein egozentrisches Weltbild. Allerdings hat sich diese simpelste Annahme, die so vielen vorwissenschaftlichen Theorien zugrundelag (Die Sonne drei sich ein die Erde, der Mensch ist das Maß aller Dinge, Ich denke, also bin ich), schon so oft als problematisch bis falsch herausgestellt, dass man eigentlich auch im Grant darüber hinweg sein sollte. Also suchen wir mal weiter,
Verantwortung! Dann ist es vielleicht genau das Gegenteil: Diese erfahrenen Kommentatoren fordern oft Verantwortung ein. Man müsse ethisch handeln, was bedeutet, auch mit den Konsequenzen zu leben. Sie fordern Verantwortungsethik anstelle von Gesinnungethik – etwas nur zu tun, weil es als richtig empfunden wird, ist ihnen zu wenig. Die Konsequenzen entscheiden.  Ja und, möchte man jetzt meinen? Die persönliche Konsequenz ist immerhin ein auf den Kopf gestelltes Leben, die geforderte Konsequenz – verträglicher mit der Umwelt umzugehen – schadet jetzt auch niemandem. Also?  Weit gefehlt – denn Protestbewegungen ohne Lösungsvorschläge sind wertlos, sagt der gelernte Grantler. Und Greta Thunberg tut schließlich nichts gegen den Klimawandel. Sie verweist auf WissenschaftlerInnen, denen man zuhören solle, auf Verantwortliche, die aktiv werden sollen – aber selber tut sie ja nichts. Außer PR.

Es wäre ziemlich still in einer Welt, in der Kommunikation nach diesen Regeln abliefe. Und die, die nach diesen Regeln etwas sagen dürften, sollten streng genommen dann lieber auch nichts sagen – sondern besser gleich handeln.

Ist das denn überhaupt real?

Eine andere Vermutung: Was ist Protest ohne Handlungsoption schon wert? Ist das überhaupt real, was die Kinder da machen? Es ist ja nur Ideologie – ohne Konsequenz. Und ist falsche Ideologie überhaupt real?  Ohne jetzt auf die Frage von richtig oder falsch einzugehen: Ideen und Trends bewegen etwas, ob uns das passt oder nicht. Junge Menschen bewerfen das Goethe-Haus in Weimar mit Klopapierrollen, um auf metaphorische Vergewaltigungsanspielungen in Goethes Gedichten anzuspielen. Man kann dieser Ansicht zustimmen, man kann über Interpreten und Interpretationsmuster von Lyrik nachdenken, man kann das für Schwachsinn halten – jedenfalls ist das Ereignis real und findet auch medialen Niederschlag.

Das ist ein Indiz dafür, dass mit dem Realitätsargument schlecht gegen Trends anzukommen ist. Ein anderes findest sich beim deutschen Philosophen Markus Gabriel, der sich mit seinem Neuen Realismus gegen den „Naturalismus“ wendet, der nur physische Gegenstände als real gelten lässt. Gedanken sind real – auch wenn sie noch so absurd sein sollte. Sie befinden sich in dieser Welt und können Wirkung zeigen. Das ist allerdings nicht mit dem Inhalt der Gedanken zu verwechseln. Der ist, als Teil des Gedankens, zwar real, kann aber trotzdem (also eigentlich: genau deswegen) auch falsch sein.

Wer, wenn nicht wir?

Wer am Wegesrand steht und schlechtgelaunt twittert, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Darin sind dann diese Mahner jenen nicht unähnlich, die rund um ihre eigene Existenz einen permanenten Opferkult pflegen. Opfer von Verhältnissen, Strukturen, Verpflichtungen sind gefangen und haben keine Gelegenheit, sich zu bewegen. Sie können bestenfalls reagieren.  Andere handeln.  Während die einen mit ihrer Existenz beschäftigt sind und am Hamsterrad des Überlebens drehen, gestalten die anderen Bedingungen. Und wenn es ihnen nicht gelingt, haben sie dennoch eine Spur hinterlassen. Hannah Arendt grüßt: Das animal laborans ist Opfer der Umstände, homo faber hinterlässt eine Spur in der Welt.  Das ist natürlich schmerzhaft.  Und das ist möglicherweise eine Spur: Da handelt jemand und gestaltet die Weltöffentlichkeit – und es ist keine von ihnen. Dann kann man das nicht gutheißen.

Das verwunderliche dabei ist, dass am lautesten jene gehört werden wollen, die im Lauf ihres Lebens ausreichend Gelegenheit hatten, sich Gehör zu verschaffen. Das kann Gewohnheitsssache sein. Oder Charaktersache: Man hört es mit der Zeit für so selbstverständlich, gehört zu werden und recht zu bekommen, dass es nicht mehr ohne geht.  Das ist insofern bemerkenswert, als solche harmlos beginnenden Threads wie der eingangs zitierte dann oft zu Laiendiagnosen von ADHS oder Asperger Syndrom führen.

Die Greta-Grenze verläuft ganz einfach zwischen jenen, die einem Menschen Anerkennung und Aufmerksamkeit geben können, und jenen, die beides stets für sich einfordern. Damit ist sie eine sinnvolle Demarkationslinie dafür, mit wem man reden und arbeiten kann, und mit wem eher nicht.

Schnitzelpolitik: Im Frittierfett der Moral

Wer ist normaler, einfacher und hat das Herz am richtigeren Fleck? Vom rechteren Fleck reden wir mal noch nicht.  Seit – spätestens mit Brexit und Trump – das „einfache Volk” zurückgeschlagen hat, rätseln Politiker_innen, was denn mit diesem los sei und wie sie es wieder für sich gewinnen könnten.  Die einen inszenieren sich als Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich zwischen Kindergarten, Gute-Nacht-Lied und langen Familienwochenenden schnell noch ein wenig Zeit für Politik abknöpfen.  Die anderen setzen auf die einfachen und niedrigen Tugenden, das heißt sie arbeiten vor allem mit Neid und Opfern – die Opfer sind abstrakte andere, die nicht zum Volk gehören.  Wieder andere, die schon fast von der Bildfläche verschwunden sind, entdecken plötzlich den Hass als tolles Instrument für sich und möchten damit jenen das Wasser abgraben, sie sonst mit Neid arbeiten. Dann gibt es die diffusen Zukunftsprediger, die Inhalte möglichst vermeiden und gut damit fahren, solange die Lichtstimmung auf den Fotos nur schön genug ist und der Himmel wolkenfrei ist.  Diese Typen und Strategien finden sich bei fast allen Gruppierungen bunt durchmischt in unterschiedlichen Gewichtungen.  Und dann gibt es noch die, die anscheinend jeden Tag aufs Neue mit sich selbst um eine Positionierung ringen. Und dabei die eigenartigsten Kapriolen fabrizieren. 

Bliebt doch lieber bei den Phrasen

Der Ablauf dabei ist in aller Regel ungefähr so: Jemand bringt eine neues Thema aufs Tapet und ist damit erfolgreich. Dieses Thema muss dann aufgegriffen, adaptiert und gekapert werden.  Abschreiben war für viele Menschen jetzt immer schon eine erfolgversprechende Strategie, durchs Leben zu gehen. Dumm ist nur, wenn man das Abgeschriebene dann noch etwas erweitern und verbiegen muss, um es in eigene Positionen einfügen zu können. 
Das österreichische Beispiel der Gegenwart dafür ist das Schnitzel:  Im EU-Wahlkampf 2019 wurde es von der Volkspartei herangezogen, um gegen EU-Bonzen zu wettern, die auf mafiöse Weise heimische Koche beim Bräunegrad der Panier bevormunden wollten, so die Legende.  Das konnten die Rechten von der FPÖ nicht auf sich sitzen lassen und setzten in der Vorphase des Nationalratswahlkampfs noch eins drauf: Schnitzel gehöre fix auf den Speiseplan von Kindergärten, man wolle sich schließlich nicht von muslimischen Schweinefleischskeptikern dreinreden lassen. Dass die Forderung fallweise mit dem Bild eines panierten Fischfilets statt eines Schnitzels illustriert wurde, ist eine nette Fußnote.  Das hat Potential, dachten sich dann wohl auch andere Politiker_innen und machten aus dem heimischen Schnitzel ein Bollwerk gegen billige Fleischimporte “aus dem Ausland“ und für den Klimaschutz. Wieder andere witterten da aber sträflichen Elitarismus und Verrat am einfachen Volk: Das Schnitzel dürfe nicht zum teuren Statussymbol werden, es können nicht sein, dass ökologische Vernunft mit einem Preiszettel versehen werde. Einschränkungen kommen nicht infrage – das ist absurderweise ja wieder ein Argument, bei dem sich radikalere Linke mit viel Vision, aber wenig Plan, und Stockkonservative mit am Auto hängendem Traditionsbewusstsein und fest zugeknöpfter Geldbörse freundschaftlich die Hand reichen könnten. 

Sozialdemokratie, neuerdings moralfrei

Ein Spannungsfeld wie geschaffen also für eine Partei, die ihr Programm sucht. Das ist in diesem Wahlkampf nicht etwa eine der kleineren Parteien – nein, die alte Dame SPÖ eiert tragischerweise personell und programmatisch am Rand des Abgrunds und nutzte daher folgerichtig die Chance auf den Sprung ins Frittierfett. 
Erst verkündete die Parteichefin ihren Willen, das Schnitzel nicht zum Luxusobjekt verkommen zu lassen. Das wurde begrüsst, belächelt, als ernährungswissenschaftlich und klimakrisentechnisch problematisch diskutiert und schließlich auch als historisch unrichtig diagnostiziert. Zumindest in der Kindheitserinnerung österreichischer Twitterer war das Schnitzel immer Luxus (in meiner übrigens auch, wenn auch kein besonders wichtiger).  Zeit also für das dialektische Schwergewicht Max Lercher, ehemaliger Geschäftsführer und heute Stimme eben jener Erdigen, um die man sich bemühen müsse, in einem epischen Facebook-Kommentar auszureiten.  Anfangs berührt er darin viele aktuelle Diskussionspunkte zwischen Handelspolitik, Klimakrise und Tierschutz. An den Absichtserklärungen ist woe so oft in der Politik nichts falsch, weil sie auch nichts sagen. Die Absicht, Dinge zu verbessern, ist ehrenwert; die Details bleiben unausgesprochen – damit sie von jedem anders verstanden werden können. Ein Großteil politischer Texte könnte, so meine These, beliebig ausgetauscht und anderen Parteien untergeschoben werden, man würde es nicht merken.  Das liegt weniger am Formulierungsgeschick der Autor_innen, als daran, dass man in den wenigsten Texten so weit kommt, konkret argumentieren zu müssen. Politische Texte befinden sich immer schon in einer Sphäre des Vorverständnisses. Wir haben Bilder von Parteien oder Politiker_innen, die den eigentlichen Sinn stiften und bestimmen, was wir verstehen. Das ist eine Folge der Markenbildung, die nicht nur für Politik gilt. Wir wundern uns allenfalls über Prioritäten (Warum redet gerade die/der gerade darüber?), die Bedeutung reimen wir uns schon irgendwo zurecht. 

Jenseits der geschützten Werkstätten wird es gefährlich 

Ein Problem wird das nur dann, wenn dieser geschützte Raum einmal verlassen werden muss. Dieses Bedürfnis verspürte offenbar auch Max Lercher am Ende seines Textes und lieferte damit ein schönes Beispiel für die absolute Verwirrung und Vernichtung einer Idee in wenigen Zeilen. Er möchte sich von der Moral verabschieden. Also nicht wirklich von der Moral, aber von der „Moral“ die man Klimakrisenwarner_innen, CO2-Steuer-Befürworter_innen oder Feminist_innen heute vorwirft, die man jeden vorwirft, denen man unterstellt, etwas verbieten zu wollen. Er fordert Gerechtigkeit und Fairness und sagt dann: „Wir (…) sollten die Moral dort lassen, wo sie hingehört (nämlich in der Kirche).“ Man muss sich also von der Moral verabschieden, um ungestört Schnitzel essen zu können. Das ist eine starke Ansage. Üblicherweise sind Momente, in denen es für angemessen gehalten wird, Moral hintanzustellen, Notsituationen, in denen das Überleben auf dem Spiel steht. Kleinere Geister erweitern das gerne auch insofern, als sie Stärkeren/Mächtigeren/Reicheren nicht den gleichen moralischen Respekt zugestehen wie allen anderen.  In diesen Notsituationen (oder weil es dem anderen ohnehin nicht weh tut, es trifft ja keine Armen) nimmt man sich, was man kriegen kann und rennt (oh, da klingelt ja noch ein anderer SPÖ-Slogan im Hinterkopf: Holt euch, was euch zusteht! – Erinnert sich jemand? Auch das war übrigens eine beistrichtechnisch sehr geforderte Kampagne.)  Was spricht sonst noch gegen Moral? Manche ewigen Gymnasiasten stricken sich nietzscheanisch angehauchte Amoralitätskonstrukte. Nicht weit entfernt davon sitzen dann die Rechner und Rationalisten, die für jede Theorie eine ökonomische Erklärung bei der Hand haben, dann gibt es noch die Erfolgreichen, für die alles recht ist, was zu Wachstum verhilft – es gibt viele Spielarten amoralischer Zonen. Allesamt sind eher unerwünschte Randerscheinungen, die sich gegen etwas stellen, von etwas abgrenzen. Nichts davon ist solidarisch oder sozialdemokratisch. Im Gegenteil. Moralische Komponenten sind wohl die wichtigste Grundlage, wenn ein Konstrukt rund um Fairness und Gerechtigkeit jemals laufen lernen soll. 
Sollen sich die Sozialdemokraten aber selbst überlegen, warum Moral plötzlich zu ihren Feindbildern gehört. Unabhängig davon ist auch der Konnex zwischen Moral und Kirche schlicht sachlich falsch. Moralische Überlegungen sind nicht nur älter als Kirchen, sie sind auch unabhängig von konkreten Ausprägungen von Kirchen und Religionen und sie lassen sich auch sehr gut ohne religiösen Überbau begründen. Und das klappte auch im stärker kirchlich dominierten Zeiten ganz gut: Der anarchistische Denker Peter Kropotkin feierte unter anderem Adam Smith als denjenigen, der den Grundstein für moralische Argumentation ohne den Bezug auf göttliche Wesen geschaffen habe – das ist ziemlich ideologieübergreifende Anerkennung. 

Eingeklemmt in Worthülsen

Lassen wir das. Denn schließlich sind solche Behauptungen nur Symptome. Aus Worthülsen bestehende Kommunikation, in der Argumentation, Logik, Konsistenz, Stringenz oder auch nur historische Fakten vollkommen irrelevant sind, ist der Normalzustand. Wir bewegen uns in Bedeutungskreisen – die zu schaffen ist eine der Kernaufgaben politischer Bewegungen, es ist eine der wesentlichen Funktionen von klassischen Medien, die diese Bedeutung über ihre Marke verstärken (und umgekehrt). Und auch scheinbar offenere Medien wie Social Media haben diese Bedeutungskreis über so einfache Mechanismen wie Auswahl und Ausschluss schnell abgeschlossen. Für viele Menschen gilt: Je mehr Auswahlmöglichkeiten sie bei Information haben, desto eher beschäftigen sie sich stets mit demselben. Manche werden dadurch zu Expert_innen, andere zu Fachidiot_innen, wieder andere vermeiden so, neues zu erfahren. 
Ein Problem wird das vor allem dann, wenn einmal die eigenen Bedeutungskreise durchbrochen werden müssen. Das kann der Fall sein, wenn man einmal etwas anderes sagen möchte – nicht das, was immer von einem erwartet wird. Das ist selten ein bewusster Vorgang. Öfter passiert das einfach: Man möchte weiter ausholen, die Aufmerksamkeit auf andere Punkte lenken, einen Punkt deutlich machen, der scheinbar augenscheinlich ist, aber offenbar übersehen wird. 

Buchstabensuppe

Stattdessen entstehen Worthülsenaneinanderreihungen ohne Bedeutung; die Regeln von Logik, Grammatik und Semantik reichen nicht aus, um diesen Buchstabensuppen den Sinn zu verleihen, den der oder die Absender_in gerne für sie reklamieren möchte.  Um verstehen zu können, muss man schleunigst wieder zurück in die alten Bedeutungskreise, und die Absurdität des Gesagten wird dann, sofern sie überhaupt thematisiert werden konnte, als Vorstoß, eine Diskussion anzuregen, abgetan.  Man könnte da jetzt informationstheoretisch anknüpfen und über die Bedingungen der Möglichkeit des Neuen in der Sprache nachdenken. Ich habe aber den Verdacht, dass auch das nicht passiert.  Das jahrzehntelange Dogma, Dinge kurz und einfach zu halten, langweilt jetzt offenbar sogar schon die, die es predigen. Sie haben allerdings verlernt, anders zu kommunizieren. Der viel geschmähte Elfenbeinturm hat lang als Steinbruch gedient, aus dem man sich nach Belieben Bruchstücke herausgeholt hat, und sie kontextfrei zu verbraten. Da ist halt nicht viel übrig, wenn man jetzt einfach mal schnell zurück in höhere Sphären möchte. Die Gefahr, in dem baufälligen Turm auf einer Treppe ohne Geländer auszurutschen, ist zu groß. 

Aber Gottseidank ist diese Region der sinnvollen Kommunikation, in der man über Neues reden könnte, so verlassen, dass kaum jemand dabei beobachtet wird. Ausgerutscht? Kein Problem, Staub aus der Kleidung klopfen, blaue Flecken ignorieren und so tun als wäre nichts. Die Geste ist ausreichend, notfalls kann sie mit der nächsten empörten Behauptung wiederholt und untermauert werden.  Fraglich ist nur, wie lang man dieses ignorante Spiel weiterspielen kann, ohne im völligen Chaos zu landen. Wobei – schaut nach England, schaut in die USA. 

Francis Fukuyama, Identity

Das hilft uns jetzt auch nicht wirklich weiter. Francis Fukuyama beschäftigt sich mit Identitätspolitik und tut das auf informiertere und höflichere Art und Weise als viele andere. Die Flughöhe seiner Überlegungen ist so informiert und höflich, dass sie sich eigentlich an CEOs und Staatsoberhäupter richtet – so viele globale Entwicklungen und historische Herleitungen packt Fukuyama in seinen Text. Sie ist so hoch, dass sich nur denkende und handelnde Menschen auch die Frage stellen müssen, welcher Nutzen sich jetzt aus diesem Text ziehen lässt, vor allem, wenn Fukuyama seine Überlegungen auch als Basis für die Gestaltung von Mitteln gegen politische Populismus verstanden wissen möchte. 

Anerkennung fürs Sein, nicht fürs Tun

Aber ein paar Schritte zurück. Fukuyama holt in „Identity“ auch weit aus, um seiner These Schwung zu verleihen. Er setzt bei Plato an und entdecktt in dessen Dialogen einen dritten Aspekt des menschlichen Innenlebens. In den Dialogen zur Staatsführung und der Frage, was den Menschen anspricht, ist neben der üblichen Aufteilung von Vernunft und Seele noch von einem weiteren psychischen Aspekt die Rede: Thymos ist der Teil der Seele, der Anerkennung will, der sich von Beachtung und Bestätigung ernährt. Vernunft ist ein weg, Dinge zu entscheiden, Emotion, dringende Wünsche sind ein anderer Weg, oft tut man aber weder das, das die Vernunft gebietet noch das, was man zu wünschen meint – dann ist Thymos am Werk. 
Thymos und der Wunsch nach Anerkennung werden vor allem dort eine dringende Angelegenheit, wo die Anerkennung fehlt. Dann entwickeln Menschen verschiedene Strategien, um die Aufmerksamkeit auf die ihrer Meinung nach richtigen Stellen zu richten. Georg Franck hat das als kapitalistisches System beschrieben, heute kommt auch Emmanuel Levinas wieder in Mode, der sein Augenmerk auf Verantwortung gelegt hat – und Verantwortung ist vor allem erst auch Wahrnehmung und Anerkennung des anderen. Leiden wird eines der neuen zentralen Themen in Politik und Philosophie. 

Braucht Identität Wert? 

Der Wunsch nach Anerkennung ist also dokumentiert, seit der Mensch denkt. Problematisch wird es dann, wenn dieser Wunsch auch in einer Welt geltend gemacht wird, die zwischen innen und außen trennt. Fukuyama setzt es als eine neue Entwicklung an, dass wir eine innere Identität beanspruchen, die bereits für sich genommen wertvoll ist, und der oft die entsprechende Anerkennung von einer äußeren Welt verweigert wird. Für ganz so neu halte ich das nicht – spätestens die Genies der Romantik waren auch bereits Individuen, die sich nicht an äußeren Kriterien messen oder prüfen lassen wollten. Neu ist vielleicht die noch stärkere Akzentuierung vorwiegend individueller Aspekte: Kriterien wie Ausbildung, Leistung, Nützlichkeit – Kriterien, die sich an äußeren Massstäben messen oder erst in der Interaktion mit anderen beobachten lassen – treten in den Hintergrund.  Damit wird die Frage der Wertbestimmung dringender: Wie entscheiden wir, welche Aspekte von Identität und Individualität wichtig und wertvoll sind und zur Würde eines Menschen beitragen?
Bei dem Versuch, diesen Wert zu bestimmen, unterlaufen Fukuyama meines Erachtens auch einige Irrtümer; die meisten davon sind auf die Differenz zwischen Idealsituationen und realer Praxis zurückzuführen. So erklärt Fukuyama, dass wohl jede Gesellschaft Heldinnen und Helden, die andere retten und schützen höher einschätzen werde als solche, die nichts beitragen oder ihre Gemeinschaft gar verraten und verkaufen. Dem möchte man zustimmen – als Österreicher_in aber denkt man an Ibiza, 45.000 Vorzugsstimmen für Strache und „Jetzt erst recht“- oder „Weil er für euch ist“-Parolen. Möglicherweise ist bei dieser Form der Wertbestimmung zwar die Identität gemeint, was aber zählt, ist die Story, das Konstrukt an Behauptungen. Und das kann sehr weit von der realen Identität entfernt sein und trotzdem funktionieren.  Fukuyama meint auch, dass autoritäre Regierungen ihren Bürger_innen die volle Anerkennung ihrer Identität verweigern würden. Das stimmt aber auch nur zum Teil. Zum anderen Teil legen gerade autoritäre Regime besonders hohen Wert auf die Konstruktion von Identitäten und es wäre eine sehr verklärte Sichtweise, zu glauben, dass diese immer nur mit Gewalt aufgezwungen wären.  Und schließlich ist auch der Selbstwert als wichtiger Faktor der Identität nicht unbedingt auf klassische soziale Interaktionen angewiesen. Fukuyama sieht Arbeit als einen Weg zur Sinn- und Identitätsstiftung, die Anerkennung begründet, und geht davon aus, dass ein arbeitsloses Einkommen nichts zum Selbstwert beitrage. Dem möchte ich zwei Punkte entgegenhalten: Auch erarbeitetes Einkommen stiftet nicht unbedingt Sinn. Bullshitjobs, unzufriedene Mitarbeiter, verkannte Bürogrößen, die zu höherem bestimmt sind – all das rückt die Idee von sinnvoller Arbeit auch wieder in dichte Nebel. 

Spezialisierung statt Solidarisierung

Was also soll dann anerkannt werden; was ist relevanter Teil von Identität, der wichtig genug ist, zurecht im Mittelpunkt von Identitätspolitik zu stehen?  Bei seiner Lösungsskizze trifft Fukuyama dann wieder auf die schärferen Kritiker, die Identitätspolitik als machtorientierten Ausdruck von Political Correctness sehen und als Luxusbeschäftigung von Eliten verurteilen. Solche Kritiker werfen vor allem Linken vor, sich zu sehr mit Ausnahmen, mit Sonderfällen zu beschäftigen. Das ist der Moment, in dem meist irgendwelche mit sehr spezifischen Identitäten beschäftigen Arbeitsgruppen an „amerikanischen Universitäten“ ins Feld geführt werden. (Fun Fact am Rande: Sucht man „Amerikanische Universitäten“ auf Google, sind schon auf der ersten Ergebnisseite zwei bis drei Artikel enthalten, die genau diese Legenden erzählen; das Thema hat sich also wirklich durchgesetzt und zur Brand entwickelt.)  Auch Fukuyama sieht ein Problem darin, dass sich linke Identitätspolitik zu sehr spezialisiert. Das Problem dabei ist weniger die Priorisierung (also die Frage mit welchem Spezialfall man sich nun beschäftigen solle), sondern der Verlust von Solidarisierungseffekten. Solidarität wird zwar auch für Spezialfälle gefordert – aber diese Art von Solidarität bedeutet dann ein schweigendes Akzeptieren, ein Zurücknehmen der eigenen Identität, und den Verzicht. Man braucht es ja weniger. Das kann ein Zeichen von Größe sein. Es hat aber in der Regel keinen mobilisierenden Effekt. Es stehen nun viele unterschiedliche Identitäten nebeneinander, versichern einander jeweils Solidarität – und lähmen sich dadurch. Denn man kann nu wenig weiterbringen, ohne die anderen Identitäten, mit denen man sich eigentlich solidarisch erklärt hat, in irgendeiner Form einzuschränken. Man kennt die Effekte auch als Whataboutism, man kennt die Situation als Lage aktueller linker Politik. 

Eine Frage des Willens 

So weit, so gut. Leider setzt Fukuyama dann auch noch hier zu einer Lösungsskizze an. Wenn wir mit den Spezialisierungen nicht weiterkommen, so sein Ansatz, dann müssen es eben größer gefasste Identitäten sein. Dazu sollten weder ethnische noch religiöse oder sexuelle Kriterien herangezogen werden, Fukuyama sieht hier eher die Nation als angemessene Dimension. Damit knüpft er nicht an nationalistische Ideen der Gegenwart an, sondern an die Nationalisierungsbestrebungen vergangener Jahrhunderte, in denen Nationalstaaten bürgerlichen Gegengewichte zu noch verbliebene Strukturen feudaler Herrschaften waren. Auch während der afrikanischen Dekolonisierung spielten Nationalstaaten eine ähnliche Rolle.  Wenn es nun aber nicht ethnische oder andere abstammungsorientierte Merkmale sind, die diese Identität festmachen – wie kommt man dann dazu?  Fukuyama schlägt eine Art Bekenntnis vor, eine Erklärung, dazugehören zu wollen – ähnlich wie sie im Rahmen US-amerikanischer Einbürgerungen abgegeben wird. Nachdem das allerdings keine große identitätsstiftende Kraft hat und auch nicht erlebbar macht, wozu man sich bekennt (im Idealfall zu einer liberalen Demokratie und deren Grundsätzen), schlägt Fukuyama dann auch noch eine Form der konkreteren Aktivität vor. Diese führt er nicht näher aus.  Ich verstehe das so, dass Staaten auch wieder mehr von ihren Bürger_innen verlangen sollen. Das kann auf kultureller Ebene passieren – Fukuyama erwähnt auch die in Europa fast schon wieder vergessene Leitkultur-Idee von Bassam Tibi wohlwollend. Es kann aber auch praktischer ausgestaltet sein – da denke ich an Wehrpflicht und Zivildienst.  Beides sind umstrittene Wege.  Der Versuch, Leitkulturen zu definieren, führt geradewegs zurück ins heiß umstrittene Zentrum jeder Identitätsdebatte: Was ist richtig, was ist wichtig, und was machen all die toten weißen Männer hier? Und Zwangsmaßnahmen sind nicht gerade dazu geeignet, liberale und demokratische Werte zu vermitteln, nicht nur, weil sie selbst Zwang sind, sondern weil sie auf schlecht bezahlten Abhängigkeitsverhältnissen beruhen, in denen nur zu schnell Hackordnungen entstehen. In Europa haben und hatten wir schon viel davon – es hat wenig bewegt. 

Oder bleibt es bei Unterordnung? 

Der Aufruf, größer gefasste Identitäten anzuerkennen, ist aus streng identitätspolitischer Sicht auch nur ein weiterer Aufruf zur Unterordnung, ein eloquent formuliertes „Stellt euch nicht so an!“ und eine Reduktion jener speziellen Identitäten, die sich eben erst konstituieren wollten.  Fukuyama hat jetzt aus praktischer Sicht wahrscheinlich recht, das Problem der Identitätspolitik löst er allerdings nicht.  Eine logische Konsequenz daraus wäre, dass Identitätspolitik auf dem Holzweg ist. Und was uns jetzt noch immer fehlt, ist ein Mobilsierungsfaktor für jene größer gefassten Identitäten, der dann aber nicht als mörderisch ausschließendes Instrument gegen andere missbraucht werden kann.  Das ist nichts neues. Aber es ist erkenntnistechnisch durchaus wertvoll, aus möglichst vielen unterschiedlichen Richtungen zu diesem Schluss zu kommen. 

Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit, Mentaler Kapitalismus

Der Begriff ist geblieben – obwohl dann eigentlich wenig nachkam und die Diskussion eher von Missverständnissen als von sinnvoller Systematisierung geprägt war. Georg Francks Ökonomie der Aufmerksamkeit ist über zwanzig Jahre alt; der Begriff ist noch immer geläufig, die eigentliche Idee dahinter weniger.
Nach all den rasanten Veränderungen in der Kommunikationswelt der letzten zwanzig Jahre macht es Sinn, dass Buch nochmal zu lesen. Franck hat grundsätzlich gar nicht die schillernde Welt der Lifestyle Influenzier oder gehässige Hickhack auf Politik-Twitter im Sinn. Sein Ausgangsszenario ist die auch durchaus von Eitelkeit geprägte und getriebene Welt der Wissenschaft. Deshalb betrachtet er Aufmerksamkeit nicht nur als passives Einkommen, sondern ebenso als aktive Investition: WissenschaftlerInnen müssen sich entscheiden, worin sie ihre Aufmerksamkeit investieren, womit sie sich beschäftigen – um dann mit den Ergebnissen eben auch Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu können.
Bei Wissenschaftlerinnen lässt sich Beachtung auch klar messen und bewerten: Wichtig ist, wer zitiert wird; dabei sind auch negative Zitierungen mal nicht grundsätzlich ein Nachteil. Sie bieten die Möglichkeit, neuerlich ins Gespräch zu kommen. Entscheidender als der Inhalt der Aufmerksamkeit (oder die Bewertung, mit der zitiert wird) ist dabei, das Umwelt. Wichtig ist nicht, was die Leute reden, wichtig ist, welche Leute reden. WissenschaftlerInnen brauchen die Aufmerksamkeit der Fachwelt. Medien, Politik, breites Publikum – in der Zeit von Georg Franck war deren Aufmerksamkeit noch eine zweischneidige Angelegenheit. Wer zu viel in Medien beachtet wird, zu großen Erfolg beim einfachen Volk hat, ohne vorher von der Fachwelt ausdrücklich legitimiert worden zu sein, läuft auch Gefahr, kritisch beäugt zu werden. Was breitenwirksam und massentauglich ist, dass kann nicht besonders wissenschaftlich wertvoll sein, so das Vorurteil.

Leistungsfreies Aufmerksamkeitseinkommen

Von dort aus baut Franck ein ganzes Wirtschaftssystem der Aufmerksamkeit auf, das einen über mehrere Stufen stetig wachsenden Investitionswert kennt. Prestige, Reputation, Prominenz und Ruhm sind verschiedene Folgen von positiver Aufmerksamkeit, die im Lauf ihrer Entwicklung auch das Verhalten von Kapital annehmen. Sie können in den höchsten Formen nämlich auch Zinsen abwerfen – und als Investitionskapital von anderen genutzt werden. Konkret: Wer häufig zitiert wird, wir auch zitiert, weil es sich so gehört oder weil Nachfolgende etwas zu dieser Position sagen müssen, wenn sie ernstgenommen werden wollen. Das ist die Verzinsung. Andererseits können bekannte wissenschaftliche Positionen auch die Ausgangslage für neue Arbeiten werden – das ist dann die Investition. Wer zitiert, gibt Aufmerksamkeit ab, bekommt aber den Bonus, mit der starken Referenz im Rücken potenzielle Gegner abzuschrecken.
Für diejenigen, die bereits ein hohes Maß an Aufmerksamkeit an sich ziehen konnten, gibt es so eben zusätzlich zum erarbeiteten Einkommen auch ein leistungsfreies Einkommen.

Quellen sind ja nicht mehr so wichtig

Heute sind die Abgrenzungen nicht mehr so streng: Popstars der Wissenschaft können auch gut ohne die absolute Anerkennung von puristischen Wissenschaftsultras leben. Franck hat diese Entwicklung in ihren Ansätzen erkannt und mit einem Verlust des Vertrauens in klassische Institutionen in Verbindung gebracht. Wer Parallelwerte aufbauen will, muss auch parallele Institutionen schaffen – oder zumindest die alten kritisieren.
Vor zwanzig Jahren war noch keine Rede von Lügenpresse, auch das Internet galt damals noch nicht als relevante Parallelwelt, die eigene Währungen für Aufmerksamkeit schafft. Im Gegenteil: Franck überlegte sogar, ob in der offenen und kostenlosen Publikationskultur des Internet nicht die Vorboten eines Aufbrechens der strengen Ökonomisierung der Aufmerksamkeit zu sehen sei. Dort werde nur publiziert und zur Verfügung gestellt – ohne Gegenleistung und ohne erkennbares Geschäftsmodell.
Was jetzt monetäre Geschäftsmodelle betrifft, so hat sich die Situation hier wenig verändert. Aber Social Media haben das Internet in eine Umgebung verwandelt, in der nur noch Aufmerksamkeit zählt – in der sich Aufmerksamkeit suggerieren und dadurch erst erzeugen und verstärken lässt.

Mentaler Kapitalismus, fortgesetzt: Das Bewusstsein bestimmt das Sein, man muss nur wollen …

Was mancherorts als Scheinwelt kritisiert wurde, hat so ganz neues Gewicht bekommen. Franck hat das noch am Beispiel klassischer Medien abgehandelt. Er hat erkannt, dass Medien grundsätzlich Menschenhandel betreiben – sie binden die Aufmerksamkeit von Menschen, bündeln und verkaufen sie. Um Aufmerksamkeit binden zu können, müssen sie eine neue Machart der Realität schaffen – eine, in der zuerst zählt, was medial vermittelt ist. Was sich abseits dieser Vermittlung, also altmodisch gesprochen „in echt“ abspielt, tritt dem gegenüber in den Hintergrund.
Franck geht sogar so weit, die historisch-materialistische Sichtweise, die grundsätzlich Kapitalismuskonzepten die Kapitalismuskritik zugrundeliegen, umzukehren: Nicht mehr das Sein bestimme so das Bewusstsein, sondern umgekehrt das Bewusstsein schaffe Sein und neue oder andere Realitäten. Damit seien nicht nur Kultur und Politik von der Ökonomisierung des Bewusstseins (vor allem in seiner Form von Aufmerksamkeit) betroffen, sondern auch die materiellen Produktionsverhältnisse selbst. Diese und die Produktionsmittel richten sich darauf aus, Aufmerksamkeit zu binden.
Das könnte man als Medienphänomen sehen; angesichts des Werts der Währung Aufmerksamkeit vermutet Franck aber grundlegendere Veränderungen. Dem würde ich auch zustimmen.

Neue Aufmerksamkeitssurrogate schaffen mentalen Turbokapitalismus

In einem Punkt irrt Franck allerdings in seinen Prognosen; hier ist die Medienentwicklung anders verlaufen. Franck geht davon aus, dass sich das Gesamtmaß an Aufmerksamkeit in einer Gesellschaft nicht vermehren kann. Jeder Mensch hat eine Obergrenze an Aufmerksamkeit zur Verfügung, diese Ressource kann nicht beliebig vermehrt werden – deshalb ist Aufmerksamkeit ein verlässlicher Standard dafür, was Menschen wichtig ist.
Heute haben wir viel schnellere und vielschichtigere Medien und Kanäle, mit denen sich Aufmerksamkeit häppchenweise stückeln lässt. Wir haben Aufmerksamkeitssurrogate wie Favs, Likes, Shares, die uns einen Klacks kosten, aber anderen viel bringen können. Und wir sind dabei, jeglichen Maßstab dafür zu verlieren, wie wir den Wert diverser Aufmerksamkeiten einschätzen können. Es ist ein in sich geschlossenes System geworden: Wer viel Aufmerksamkeit hat, kann viel Aufmerksamkeit geben – woher die Aufmerksamkeit kommt, ob sie verdient ist, ob sie aus Beachtung oder Verachtung resultiert, all das ist weniger und weniger wichtig und immer schwieriger nachzuvollziehen.
Aufmerksamkeitsoligopole verteidigen denn auch eifersüchtig ihre Markstellung, der Strafzollersatz in der Ökonomie der Aufmerksamkeit ist der Block. Damit werden andere aus dem Warenkreislauf rausgenommen, man nimmt ihnen sogar auch die Möglichkeit, mit der Anfangsinvestition des Zitats am Horten von Aufmerksamkeit teilzunehmen.
All diese Methoden beeinflussen die Menge an Aufmerksamkeit, die zur Verfügung steht. Sie wird scheinbar mehr, sie kann aber auch reduziert werden. Aufmerksamkeitsbekundungen, die nichts mehr mit dem Inhalt zu tun haben müssen, dem man vermeintlich seine Aufmerksamkeit schenkt, verstärken diese Schwankungen. Das können flüchtige Weiterempfehlungen sein, häufiger ist aber das negative Beispiel: Kritik orientiert sich an der Person (wenn dieser Mensch etwas sagt, dann muss es schlecht sein), nicht am Inhalt, schlechte Formulierungen verselbständigen sich, schaden meist beiden Seiten, und werden oft vielfach weitergetragen.
Wenn die Ökonomie der Aufmerksamkeit und der mentale Kapitalismus, den Franck im Folgebuch beschrieb, klassische kapitalistische Systeme waren, haben wir es heute mit einem turbokapitalistischen System zu tun, dass ähnlich pervertiert ist wie die Finanzwirtschaft im Vergleich zu Realwirtschaft. Werte werden aus dem Nichts geschaffen und erzeugen große Blasen, die den eigentlich wertvollen Ideen und Gedanken, die ihnen zugrundeliegen, schaden.
Es kommt nichts mehr durch. Inhalt oder gar Geist bleiben auf der Strecke. Der dümmste „Gedanke“ ist gut und erfolgreich, wenn er Aufmerksamkeit bekommt oder „kontrovers diskutiert“ wird; die falscheste Behauptung erzeugt mehr soziales Kapital, wenn sie nur gehässig oder angriffig genug vorgebracht wird, und das leerste Geplapper kann sich auf sein erschwätztes Kapital stützen, wenn Menschen einfach immer wieder gewohnheitsmäßig „kaufen“.

Aufmerksamkeit als Währung driftet in eine Parallelwelt ab, in der nur noch radikale Einschnitte helfen können.

… und niemand ist damit glücklich.

Auch wenn Franck hier irrt und die Entwicklungen zu positiv einschätzte, ist seine letzte Diagnose wiederum zutreffend: Er unterscheidet eine Kultur der Intentionalität von einer Kultur der Phänomenalität. Intentionalität orientiert sich an Zielen und Entwicklung und ist so Logik und Rationalität verpflichtet. Hier sind Abstraktionen und Kategorisierungen wichtig, vor allem aber auch der Beziehungsaspekt. Intentionalität will etwas erreichen und hat dabei auch die Umgebung mit Blick; die Anderen spielen immer eine Rolle, Handelnde wissen, dass sie nicht allein sind.
Phänomenalität richtet sich an Momenten und Erscheinungen aus; Beziehungen, Konsequenzen, Logik, Betroffene, Andere – all das spielt keine Rolle, man bleibt ab der Oberfläche.
Jedes Brexit-Argument ist ein tolles Beispiel für Phänomenalität, ebenso sind es viele scheinbar progressive Positionen, die Missstände und Ungerechtigkeiten kritisieren, aber keine Gegenentwürfe produzieren können. Das Paradebeispiel der Phänomenalität ist die Revolution, die andere anzetteln müssen, die andere Wirtschaftsordnung, die niemand je ohne Gewalt beschrieben hat.

Man sollte heute in beiden Kulturen zuhause sein. Je mehr man von beiden Seiten kennt und versteht, desto unerträglicher wird allerdings der Versuch, unter solchen Voraussetzungen noch Sinn von Unsinn unterscheiden zu wollen – oder gar eine Diskussion darüber zu führen.
Und weil es ein ökonomisches System ist, lassen sich auch Hürden nicht ohne weiteres abbauen: Seit die aufmerksamkeitsökonomische Kapitalkrise deutlicher erkennbar ist, sind es eben die neuen Aufmerksamkeitsoligopole (sprich; reichweitenstarke Social Media Accounts), die zu Mäßigung und Sorgfalt aufrufen, sprich, gegen das anreden, mit dem sie groß geworden sind – so wie es wenige Jahre zuvor die alten kritisierten Institutionen, Medien und Aufmerksamkeitszentren getan haben.
Da bewegt sich also was.

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt

Die stärkste Ansage kommt gegen Ende : Menschen, denen immer alles möglichst einfach erklärt wird, glauben schließlich selbst, auch alles zu verstehen. Deshalb haben sie auch zum allem eine Meinung. Diese verwechseln sie mit Wissen – und die Überschätzung von Meinungen desavouiert Wissen und Wissenschaft.

Der Islamwissenschafter Thomas Bauer kommt zu diesem Schluss, weil er sich mit Eindeutigkeit beschäftigt. Eindeutigkeit bedeutet in vielen Fällen auch Einfachheit – und das ist eine heute gern gesehene Eigenschaft. Wenig Komplexität, Klarheit, Schwarz/Weiß-Effekte – das ist heute erstrebenswert. Kurz und einfach, das war jahrzehntelang das Mantra jeglicher Kommunikationsarbeit – vielleicht haben wir es damit auch etwas übertrieben.
Eindeutigkeit ist nämlich auch die Feindin der Vielfalt. Das Gegenstück zu Eindeutigkeit ist nämlich nicht Undeutlichkeit, sondern Ambivalenz. Man kann sehr klare Positionen beziehen, sich auf ganz konkrete Evidenz beziehen, und trotzdem werden Dinge in der Welt nicht so eindeutig. Dazu braucht man keinem Konstruktivismus oder Relativismus anzuhängen, es ist allein eine Frage der Perspektive: Wessen Nutzen betrachtet man, auf welcher Makro- oder Mikroebene argumentiert man, welchen Zeithorizont nimmt man als Rahmen – all das sind Faktoren, die die klarste Angelegenheit in ein überaus ambivalentes Szenario verwandeln.

Ambiguitätstoleranz ist praktische Vernunft

Die Ambiguitätstoleranz aber, die Bauer als eine wichtige Eigenschaft der Moderne sieht, als ein Ergebnis der Aufklärung, schwindet. Ambivalenz, so Bauer, wird als Unbehagen empfunden. Gegen Ambivalenzen treten aber nicht in erster Linie entschlossene Macher auf, die etwas voranbringen möchten, es sind im Gegenteil Fundamentalisten, Wahrheitsbesessene, Reinheitsstrebende und Geschichtsvergessende oder gar -verneinende, die Einfachheit, Klarheit, Hausverstand suchen. „Nur einer solchen Gesellschaft kann Authentizität als etwas uneingeschränkt Positives empfunden werden“, meint Bauer. Der Authentizitätsdrang sei aber auch eher ein Mittel zur Vernichtung von Ambivalenz, vor allem durch Weglassung.

Die konstruktiven Versuche, Eindeutigkeit herzuschaffen – indem Optionen abgeklärt, Alternativen bewertet, Diskussionen geführt werden – schaffen dagegen eher wieder Ambivalenzen. Man lernt mehr und kann mehr aushalten und einordnen.

In vielen Fällen, in denen Evidenz, Logik, Wissenschaftlichkeit und ähnliche Klarheitskriterien hochgehalten werden, ist die Eindeutigkeit- oder Ambivalenz-Perspektive ein gutes Mittel, offen für neue Erkenntnisse zu bleiben. – Und das ist eben vor allem dann wichtig, wenn Meinungen mit Wissen verwechselt werden. Wissen ist immer klar abgegrenzt, oft punktuell und immer in Bewegung. Meinungen bewegen sich oft langsamer und schwerfälliger als Wissen. Sie haben schon viel ausgeblendet und ausgeschlossen.

Wo ich mit Bauers Thesen dagegen nicht mitschwingen kann, ist die doch recht kulturkonservative Perspektive. Er sieht zum Beispiel auch Popkultur als Ambiguitätsvernichtungsmaschine, vor allem weil sie omnipräsent ist und feinere Stimmen übertönt. Das passiert, genauso bringt Pop aber auch neue Stimmen, Stile, Themen hervor. Und im Gegensatz zu alten auch vor allem auf Geld basierenden Kräfteverhältnissen in der Öffentlichkeit hat auch die Popkulturindustrie nur sehr wenig echte Macht. Und Trivialisierung ist keine Erfindung des Pop. Diese Strategie zur Ambigitätsvernichtung gab es praktisch immer schon.