Digitalsteuern – Uganda macht’s vor

Europa bekommt seine Uploadfilter, Linksperren und noch ein paar Hürden, die das Internet zu einem schwierigeren Ort machen. Österreich fabuliert weiter von Digitalsteuern, mit denen Konzerne zur Kasse gebeten werden. Nichts davon wird das Internet besser machen oder Menschen einen Nutzen bringen.
Wie schon die Erfahrung mit der Datenschutzgrundverordnung gezeigt hat: Wem es nicht weh tut, der hält sich daran, andere ignorieren Vorgaben und wieder andere sperren eben einfach europäische Anwender aus. Vorgaben, die Anwender schützen sollen, fallen auf diese zurück; Regelungen, die europäische Anbieter bevorzugen sollen, treffen diese besonders hart – denn sie können sich ihnen nicht entziehen.

Ugandas Präsident Yoweri Museveni, der in den vergangenen Jahren immer wieder mit schlechten Ideen auffiel und zur Zeit wegen seines grundrechtswidrigen Umgangs mit Kritikern und Opposition auch international schwer unter Druck ist, hat für dieses Internet ungefähr genauso viel übrig wie Wolfgang Schüssel  oder Wolfgang Lorenz.
Besonders Social Media sind ihm ein Dorn im Auge: Hier verschwenden junge Uganderinnen ihre Zeit, anstatt für das Land zu arbeiten oder Kinder zu machen, hier reden sie schlecht über das Land und hier tragen sie ihr Geld ins Ausland – denn die internationalen Konzerne hinter Social Media lassen schließlich kaum Geld im Land. Also muss eine Social Media-Steuer her.

Während man in Europa immerhin noch so tut, als sollten Konzerne diese Steuer zahlen (und sie dann über Preise an ihre KundInnen weitergeben), ging man in Uganda den ganz direkten Weg. Eigentlich glaubte niemand daran, dass es diese Steuer je geben würde – aber seit wenigen Wochen wird sie eingehoben. Netzbetreiber, die in Uganda Internet anbieten, müssen den Zugang zu Social Media sperren. Gegen eine tägliche Zahlung von 200 Ugandischen Schilling (etwa 5 Cent) wird diese Sperre aufgehoben. Die Zahlung wird vom Datenguthaben der UserInnen abgezogen oder per Mobile Payment beglichen. Sie können dabei täglich neu entscheiden, ob sie heute Social Media nutzen wollen oder nicht.
Man kann das Internet also leichter kaputt machen, als wir vielleicht glauben wollen …

In die Wüste: Österreichische Militärpolitik

Nehmen wir mal an, der FPÖ Wehrsprecher, der endlich mal wieder wo einmarschieren möchte, ist kein Ewiggestriger, der noch nicht mitbekommen hat, dass auch der Wüstenkrieg schon zu Ende ist; der auch keine Herrenmenschenphantasien hat.
Was dann bleibt, ist wieder mal eines der sehr treffenden Bilder, die die kleine Regierungspartei so gern und gekonnt von sich selbst zeichnet: Die Darstellung der absoluten Unfähigkeit, über den eigenen Blechnapf hinauszublicken. Im Krieg hat man schließlich keine Teller.
Die Gedankenwelt dahinter könnte etwa so sein: Wenn die in Afrika nicht auf die Reihe kriegen, was wir von ihnen wollen, dann werden wir ihnen eben sghen, wo es lang geht, die merken das wahrscheinlich eh nicht, wenn wir da einmarschieren. Und wenn doch, dann stecken wir eben ein paar Glasperlen ein für diese Buschn… .
 
Wirklich tragisch ist aber, dass man dem Herrn Bösch damit eigentlich Unrecht tut. Denn dieser Geist steckt schon im Beschluss, Anhaltezentren in Nordafrika aufzubauen, zu dem sich die EU durchgerungen hat, nachdem – man hat es fast schon wieder verdrängt – Kurz und Seehofer die Achse der Willigen ausgerufen haben, um dann zugleich so spektakulär einzuknicken wie ein von Volksschülern selbstgebastelter Karton-Porsche beim Seifenkistenrennen.
Auch damals gab es keine Vorstellung, wie das unzusetzen sei, und alle, die gerade laut schrien, Grenzen sperren oder Roma nummerieren wollten, wurden gehört und beschwichtigt. Nur nicht die, die es eigentlich betrifft – die Staaten Nordafrikas.
Es ist zugegebenermaßen schwer, in manchen dieser Staaten Ansprechpartner zu finden , das wusste man aber auch schon vorher.
 
Insofern ist die Kriegstreiberei nur konsequent; eigentlich habe ich schon länger darauf gewartet: Wenn Migranten so gewaltbereit und auf Eroberung aus wären, wie es uns die FPÖ darstellt, dann werden auch Zäune und Grenzübungen wenig helfen. – Jetzt ist wenigstens offiziell, dass die FPÖ Krieg möchte – oder, und das ist fast genauso schlimm, sich darunter nichts vorstellen kann. Fallschirmjäger Kickl trainiert ja offenbar schon für den Ernstfall.

Wo ist Bobi Wine?

Er trägt einen zerrissenen Anzug, von seinen Handgelenken baumeln noch die Reste gesprengter Ketten, seine Krawatte mit der ugandischen Flagge flattert energisch im Wind, als er mit trotz allem entschlossenem Blick durch eine verbrannte Landschaft stolpert. Das waren die Filmplakate zu „Situka“ („Call for Action“), einem ugandischen Politik-Liebesfilm, in dem der Held für Gerechtigkeit kämpft.
Das war 2015, Hauptdarsteller war der ugandische Musiker und Schauspieler Bobi Wine, mit bürgerlichem Namen Robert Kyagulanyi. 2017 wurde Kyagulanyi im Zuge einer Wahlwiederholung in seinem Wahlkreis in das Parlament Ugandas gewählt. Seit 16. August 2018 wird Kyagulanyi in einem ugandischen Militärgefängnis festgehalten, seine Frau berichtet, dass er vor lauter Schwellungen und Verletzungen kaum wiederzuerkennen ist und kaum alleine stehen kann.
 
Auch das ist eine Geschichte aus einer christlichen afrikanischen Demokratie, einem Land, das aus dem kaum Flüchtlinge nach Europa kommen, sondern das im Gegenteil selbst Millionen von Flüchtlingen aus dem Südsudan aufnimmt. Uganda ist auch das Land, das am dichtesten von obskuren christlichen amerikanischen Kirchen heimgesucht ist und eines der beliebtesten Ziele für NGOs und Entwicklungshelfer ist.
 

Vom Befreier zum Diktator

Was ist in den nicht einmal zwei Jahren von Kyagulanyis politischer Karriere passiert? Um die Ereignisse des letzten Jahres zu verstehen, muss man ein wenig weiter ausholen: Uganda wird seit 1986 von Yoweri Museveni regiert. Nach den Diktaturen von Idi Amin und Milton Obote galt Museveni als Anführer der National Resistance Army (NRA) als große Hoffnung für ein demokratisches Uganda. Ein weiteres führendes Mitglied der NRA war im übrigen Paul Kagame, der später als Anführer der Front Patriotique Rwandaise nach dem Genozid in Ruanda 1994 das Land befreite und seit damals dort Präsident ist.
Museveni predigte in seinen politischen Anfängen marxistische Parolen, hatte später liberale Ansätze, erfand eine Zahnpasta aus Mutete-Gras, zeigte sich dann als (sehr) guter Christ (in Uganda sind überdurchschnittlich viele obskure amerikanische Kirchenableger verankert, um von dort aus die Umgebung zu missionieren) und fiel zuletzt durch immer obskurere Maßnahmen auf. Erst führte er strenge Gesetze gegen Homosexualität ein, die auch Freunde und Verwandte, die Schwule oder Lesben nicht anzeigen, mit Strafen bedrohen. Ursprünglich vorgesehene Todesstrafen wurden bislang nicht umgesetzt. Dann ließ er „Pornoscanner“ anschaffen, die pornografische Bilder auf Computern und Smartphones entdecken sollen, liebäugelte damit, Oralsex zu verbieten und führte schließlich eine Social Media-Steuer ein: Wer WhatsApp, Twitter, Facebook und Instagram nutzt, soll künftig 200 Shilling (etwa 5 Cent) täglich an zusätzlichen Steuern bezahlen. Wie das genau umgesetzt werden soll, ist noch offen.
Ende 2017 schließlich ließ Museveni ein in der Verfassung verankertes Alterslimit für Präsidenten entfernen, um länger im Amt bleiben zu können. Museveni ist 74 und damit faktisch Präsident auf Lebenszeit.
 

Vom Reality-TV-Star zum Oppositionshelden

Robert Kyagulanyi hatte eigentlich eine gut laufende Musiker- und Schauspieler-Karriere, bevor er Parlamentsabgeordneter wurde. In der Reality Show „Ghetto President“ war er schon etwas wie ein Politiker, mit der Wahl wurde er es tatsächlich. Und entgegen den Erwartungen nahm er seine Rolle tatsächlich ernst – so ernst, dass sie für ihn lebensbedrohlich wurde.
Rund um die Aufhebung des Alterslimits entwickelten sich Ende 2017 zahlreiche meist friedliche Proteste. Bei hitzigeren Debatten kam es allerdings sogar im Parlament zu einer Schlägerei.
Gegner der Aufhebung trugen rote T-Shirts oder Stirnbänder, die im Lauf der Zeit auch zu Kyagulanyis neuem Markenzeichen wurden. Im Lauf der Zeit wurden Demonstranten immer häufiger angegriffen – vorgeblich von Museveni-treuen Bürgern. Recht bald allerdings stellte sich heraus, dass die Angreifer bezahlte Schlägertrupps waren, die vor allem unter Boda Bode-Fahrern rekrutiert wurden. Boda Bodas sind die Motorradtaxis Ugandas, die eine wichtige Verkehrsinfrastruktur sind, eine der wenigen Job-Perspektiven für junge Menschen bieten. Die großen Organisationen, die diese Branche regieren, haben manchmal auch Kontakte zur Kriminalität (mehr über Boda Bodas liest man in „The Big Boda Boda Book“). Im Jänner 2018 wurden denn auch die Bosse einer Boda Boda-Association und hochrangige Polizisten in spektakulären Razzien verhaftet.
All das fütterte eine Protestbewegung, die Kyagulanyi bis zuletzt anführte und zu der auch einige weitere Parlamentarier gehören. Als Bobi Wine war Kyagulanyi selbst keineswegs immer ein reiner Demokrat. Noch 2014 wurde ihm wegen seiner homophonen Texte ein Visum für Großbritannien verweigert. 2016 entschuldigte er sich dafür, suchte das Gespräch mit afrikanischen LGBTI Aktivistinnen und schwor sich und seine Fans auf Toleranz ein.
Als Neo-Parlamentarier suchte er erst den Kontakt zu liberalen Abgeordneten, wurde von diesen aber als schwer handelbar eingeschätzt und setzte seinen Weg allein fort. Das Katz-und-Maus-Spiel mit dem Establishment schien Anfangs auch Teil seiner Inszenierung zu sein: Immer wieder entwischte er Verhaftungen oder Polizeikontrollen, einmal auch spektakulär mit dem Boda Boda, während sein Auto mit Reifenkrallen blockiert war. Das lieferte tolle Bilder, seine Karriere als Musiker schien ihn gegen gröberen Ärger zu immunisieren. Immerhin war er auch schon als Gast der Gates-Stiftung in den USA und hatte so schützende internationale Aufmerksamkeit.
 

Der Präsident kennt keine Nachsicht

Vergangene Woche war es im Zug einer weiteren Nachwahl in einer Kleinstadt zu neuen Protesten gekommen. Kyagulanyi war in der Stadt, um einen Oppositionellen zu unterstützen, Museveni war ebenfalls in der Stadt, um seinen Kandidaten zu promoten. Beim Abzug des Präsidenten-Konvois sollen Steine geflogen sein, die das Auto des Präsidenten beschädigt haben.
Sicherheitskräfte verhafteten mehrere Demonstranten, darunter auch andere Parlamentsabgeordnete und erschossen Kyagulanyis Fahrer, während der im Auto wartete.
Kyagulanyi gab an, während all dieser Proteste in seinem Hotelzimmer gewesen zu sein, wo er dann auch verhaftet wurde.
 
Seither ist die Geschichte etwas undurchsichtig. Kyagulanyi war für ein paar Tage verschwunden, man fürchtete um sein Leben. Bilder der anderen ebenfalls verhafteten Abgeordneten (Francis Zaake, Gerald Karuhanga, Paul Mwiru and Kassiano Wadri) tauchten einige Tage später auf, die zeigten Spuren von Misshandlungen. Kyagulanyis Frau, die ihn einige Tage später besuchen konnte, berichtete von einem schlimm misshandelten Mann, der kaum wiederzuerkennen war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Einen Tag später veröffentlichten offizielle Stellen ein Foto Kyagulanyis, auf dem keine Verletzungen zu erkennen sind, allerdings wirkt sein Gesicht durchaus deformiert.
 

Gewinnen die Herausforderer trotzdem?

Ist das eine weitere Episode voll Willkür und Korruption? Es könnte auch das Gegenteil werden. Ugander reden über die Ereignisse. Mit seiner mittlerweile ein Jahr laufende Kampagne hat Kyagulanyi genug Reichweite um Aufmerksamkeit erzielt, um sein Bild in der Öffentlichkeit selbst steuern zu können. Journalisten, Intellektuelle und ganz normale Bürger reden über die Ereignisse. Während Ältere auch etwas resigniert klingenstellen Studenten der Regierung sogar ein Ultimatum – Kyagulanyi muss innerhalb von vier Tagen freigelassen werden, sonst soll Kampala mit Demonstrationen überzogen werden.
 
Und Kassiano Wadri, der unabhängige Kandidat, wegen dessen Kandidatur die letzten Unruhen überhaupt erst passiert sind, hat die Wahl gewonnen.
Kyagulanyi muss allerdings am 30. August als Verräter vor Gericht.

»Hoffentlich nicht Ebola …«

Man kann den Blick auch mal umkehren: Nkaicha Atemnkeng schreibt eine bitterböse Persiflage auf Nicht-Afrikaner, ihre Angst vor Ebola und vor Eidechsen in den Servier-Trolleys von Flugzeugen.
Es ist noch keine Woche her, dass sich eine EU-Abgeordnete der VP dumme, rassistische Ausrutscher leistete, vor denen ihr dann offenbar selber grauste.
Der Staub hat sich gelegt, Vorurteile und Feindbilder wurden einmal mehr bedient. Statt es dabei zu belassen, greife ich jetzt immer wieder mal ins Bücherregal und lese nach, was afrikanische Autorinnen und Autoren so über Europa sagen.
Empfehlung des Tages ist heute Nkaicha Atemnkeng aus Kamerun, der in „Wahala Lizard“ eine böse und tiefschwarze Persiflage auf die Panik Nichtafrikanischer Mitreisender schreibt, nur weil jemand seine Übelkeit während eines Flugs über Nigeria scherzhaft mit „Na hoffentlich ist es nicht Ebola“ kommentiert. Als dann eben noch eine Eidechse aus dem Servier-Trolley im Flugzeug krabbelt, versinkt der Flieger gänzlich im fröhlichen Chaos – „wahala“ ist das Hausa-Wort für „terrible mess“.

„Wahala Lizard“ ist in der 2015er Anthologie des Caine Prize erschienen. Der Caine Prize ist ein jährlicher Wettbewerb für afrikanische Autorinnen und Autoren, die ausgezeichneten Einsendungen werden jedes Jahr in einer Anthologie in mehreren Ländern veröffentlich und sind auch online recht leicht zu bekommen.

Atemnkeng arbeitet als Kundenbetreuer am Flughafen in Douala in Kamerun. und bloggt gelegentlich hier .

“Imageplünderung und nekrophile Ausbeutung in ihrer schlimmsten Form”

Eine Politikerin sagt dummes Zeug über Afrika. Andere Politiker empören sich und sagen ebenfalls viel dummes Zeug. Man kann versuchen, dem ein paar Argumente entgegenzuhalten. Ich habe das auch gemacht, man landet damit aber gleich auf dünnem Eis.
Oder man kann afrikanische Schriftsteller, Intellektuelle oder Geschäftsleute selbst sprechen lassen. Den Anfang macht Moses Isegawa, der 1990 auf Einladung einer NGO nach Amsterdam kam, um beim Spendenkeilen zu helfen. Deren Marketingmaterial war seine erste Begegnung mit dem Afrikabild in Europa. In seinem Roman „Abessinische Chroniken“ beschreibt er das ziemlich deutlich:
 
“Internationale Bettelei, Imageplünderung und nekrophile Ausbeutung in ihrer schlimmsten Form warteten auf meinen Genehmigungsstempel. Man legte mir Bilder von Kindern vor, die mehr tot als lebendig und deren Augen, Münder, Nasenlöcher und Kleider dicht von Fliegen besetzt waren. Ihre Hilfeschreie schwebten wie eine dämonische Aura über ihren Köpfen und nahmen mir jede Lust auf meine neue Aufgabe. Ich zitterte und sehnte mich nach einem Schnaps.
 
(…)
 
Die Rohheit ihrer Propaganda sprach Bände, was ihre Organisation und deren Zielgruppe anbelangte. Offensichtlich befand ich mich unter weit kaltblütigeren Schurken, als ich einer war, und würde mein ganzes Wissen revidieren oder über Bord werfen müssen.
 
(…)
 
Doch die Kartelle und die Haie der Entwicklungshilfe-Industrie waren zu weit gegangen und standen mit dem Rücken zur Wand. All die Leichen, all das fliegenumlagerte Gebettel und der pathetische Appell an ihren schwankenden Edelmut hatten die gleichgültigen Reichen noch gleichgültiger gemacht. Einige der Haie hatten ihren Fehler inzwischen eingesehen und versuchten nun, ihren nekrophilen Aktivitäten und ihrer fliegenumschwärmten Geldschneiderei einen humanen Touch zu geben.
 
(…)
 
Was mir den Rest gegeben hatte, war das Foto einer ausgemergelten jungen Frau, über dem in riesigen Lettern ein schriller Spendenaufruf stand. Sie lag auf einer Matte, das ausgezehrte Gesicht nach oben gewandt, die Augen in verschleimten Höhlen schwimmend (…) Das Geld, das dieser Kadaver einbrachte, würde tröpfchenweise nach Afrika gelangen und im Rahmen internationaler Schuldentildung postwendend wieder zurückfließen. Der afrikanische Kontinent war wie Tante Lwandeka in ihren letzten Tagen: Das wenige an Nahrung, das oben hineinging, kam unten sofort wieder heraus. (…) Es waren im Grund keine bösen Menschen, zumindest nicht verglichen mit den Mördern, die bei uns frei herumliefen, aber es war schlechte Gesellschaft, in der ich mich keinen Tag länger bewegen mochte.“
 
Isegawa verließ die NGO nach wenigen Tagen, lebte einige Jahre als U-Boot in den Niederlanden, war dann eine Zeitlang ein gefeierter Schriftsteller und kehrte einige Jahre später nach Uganda zurück. Einige seiner Bücher sind auch auf deutsch erschienen; alle sind lesenswert.
 

PS: Um Selbstbilder afrikanischer Geschäftsleute geht es auch in „The Big Boda Boda Book“ am Beispiel der Motorradtaxis Ugandas, einer Branche, die praktische das ganze Land trägt.

 

Afrika: “Die da unten”

Es ist ja fast schön, wenn jemand eine Überforderung und Ahnungslosigkeit so offenherzig eingesteht. Weniger schön ist, wenn diese stumpfsinnige Inkompetenz zur Handlungsmaxime werden soll – nach dem Motto „Ich kann das nicht, also ist es schlecht.“
Wenn sich die VP EU-Abgeordnete Claudia Schmidt von „Afrika“ überfordert fühlt, ist das ihr gutes Recht – sie sollte nur ihren Platz für jemanden räumen, der sich der Sache stellen will, anstatt abgrundtiefe Dummheiten von sich zu geben.
Natürlich wird sich weder durch einen Exodus nach Europa noch durch Milliarden weiterhin fehlgeleiteter Entwicklungshilfe an den in vielen Regionen Afrikas vorhandenen Problemen etwas ändern. Wer erwartet denn auch so was?
Ändern kann sich dann etwas, wenn mehr Menschen in Afrika das Selbstbewusstsein einer Mittelschicht verinnerlichen – einer Schicht, die sich nicht alles gefallen lässt, dummen Politikern deren Dummheit aufzeigt, unabhängig und frei wirtschaftet, im Idealfall auch reist. In manchen afrikanischen Ländern ist derartiges etabliert, in anderen weniger.
Bislang leisten China und Indien weit mehr Beiträge, diese Entwicklung zu fördern: Sie betreiben Handel und investieren in Infrastruktur. Europa kann sich das nicht leisten – europäische Güter und Dienstleistungen sind zu teuer. – Das ist einer von vielen Gründen, warum Europa hier in einer eher passiven Rolle ist. Diese könnte man auch nützen, um zu lernen.
 
Lösungen wird es weder in einem entbehrlichen Facebook-Posting noch in einem (oder vielen) Blogbeiträgen geben.
Aber ein paar Anregungen vielleicht:
  • Europa sieht sich noch immer gern in einer Entdecker-Rolle. Lange bevor Vasco da Gama Afrika umsegelte, um nach Indien zu gelangen, gab es allerdings überaus lebendige Handelsbeziehungen zwischen Afrika, Indien und dem arabischen Raum. Nicht Afrika war von der Welt abgeschnitten – Europa war es, das weniger Kontakte zu Außenwelt hatte. Und Europa hinkt heute noch hinterher – wie ein Kind, das gerne mitspielen möchte, aber unbedingt und ausschließlich nach seinen eigenen Regeln spielen will; wie jemand, der Fussball spielen möchte, während alle anderen Basketball spielen.
  • Leid, Unterdrückung und Grausamkeit als Eigentümlichkeiten „afrikanischer Kultur“ zu sehen, zeugt von merkwürdiger Vergessenheit. Und selbst wenn man die Kriegsvergangenheit Europas genauso vom Tisch wischen möchte wie Schmidt das mit der Kolonialzeit probiert, dann könnte man ja den großen Europäer Putin in dieser Angelegenheit zu Rate ziehen, wenn er schon zur  Hochzeit von Regierungsmitgliedern eingeladen wird.
  • Mit unkontrollierter Migration schließlich hat all das wenig zu tun. Man könnte jetzt genauso gut 10x hintereinander „Balkanroute“ rufen – auch damit kommt man zu einem Thema, über das die VP offenbar gern redet, unabhängig davon, ob und wo es passt.
  • Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede zwischen „Afrika“ und „Europa“ – so wie zwischen faulen Italienern und fleißigen Deutschen, stolzen Spaniern und diebischen Rumänen, trinkfesten Finnen und zurückhaltenden Engländern. Man kann sich mit solchen Idiotenklischees beschäftigen. Oder man kann etwas aufmerksamer durch die Welt gehen, vor allem wenn man den Anspruch hat, diese politisch mitgestalten zu wollen.
 
Und ziemlich niederträchtig ist es, wenn Schmidt am Tag nach ihrem zweifelhaften Posting Diskussionskultur und Lösungsvorschläge einfordert statt ihr nicht genehmer Kritik. Jemand richtet einen Sauhaufen an, schürt Vorurteile und befeuert Ressentiments und fordert dann andere zu Lösungsvorschlägen auf, am besten noch als gemeinsame Lösung für Dinge, die grundsätzlich gar nicht zusammen gehören. Das muss diese politische Talent sein, dass man auch dem Herrn Kurz so gern und oft zugesteht.
 
Nachtrag: Ich habe diesen Text einen Tag liegen lassen, um ihn noch mal zu lesen und darüber nachzudenken. Frau Schmidt hat ihren Text offenbar auch noch mal gelesen – und beide Postings gelöscht. Auch eine Möglichkeit, Politik zu machen. Und das führt mich wieder an den Anfang dieses Textes zurück.

Jan Valtin – Tagebuch der Hölle

Man kann diese Buch in der größten Sommerhitze an den schönsten Orten der Welt lesen und wird trotzdem unwillkürlich immer wieder Gänsehautschauer spüren. Nicht wegen der teilweise ausführlichen Gräuelszenen, nicht wegen des drohenden Krieges – sondern wegen der umfassenden Hoffnungslosigkeit, des Ausgeliefertseins, der vielen vielen Fehleinschätzungen.
Jan Valtin beschreibt in seinem autobiografischen Buch sein Leben als Komintern-Agitator in den zwanziger und dreißiger Jahren – und Jahre bevor der erste Schuss des Zweiten Weltkriegs gefallen ist, befindet man sich als Leser mitten in einer Welt, in der man sich einfach kein Überleben vorstellen kann.
Valtin startete seine Matrosenkarriere mit 18, war auf Schiffen in aller Welt unterwegs und wurde schrittweise zum kommunistischen Agitator. Die Anfänge der kommunistischen Agitation in Deutschland mochten noch geradezu pazifistische Ziele gehabt haben: Es waren kommunistische Matrosen, die mit ihren Streiks die deutsche Marine lahmlegten und das Ende des Ersten Weltkriegs beschleunigten.
Matrosen waren als Arbeiter wichtiges Ziel kommunistischer Agitation, Schiffe waren wichtige Verbindungen, mit denen Information, Waffen oder Agenten um die Welt befördert wurden. Netzwerke und kommunistische Zellen auf Schiffen waren daher essenzielle Mittel in der politischen Arbeit, um die sich alle politischen Strömungen bemühten.
Valtin stieg zum Leiter der internationalen Marineaktivitäen der Komintern auf und war damit mitten im Geschehen.
„Tagebuch der Hölle“ ist eine minutiöse Aufzeichnung der Aktivitäten eines Agenten und ist auf zwei Ebenen unglaublich spannend zu lesen: Die eine betrifft das Agentenleben und die zahlreichen Aktionen und Kämpfe, die andere betrifft die historische Dimension – vor allem mit dem Blick von heute.
Die erklärten Feinde der Kommunisten waren die Sozialisten. Deren gut organisierte Gewerkschaften waren den eigenen Organisationsbemühungen im Weg, hier ritterte man um die gleiche Wählerschaft. Kommunisten gab es damals schließlich als Straßenkämpfer auf den Barrikaden und als Reichtagsabgeordnete – das Feld des politischen Aktionismus war weit.
Manchmal waren auch Polizeireviere zu stürmen und schon früh bekämpfte die Komintern Abtrünnige oder „Opportunisten“ aus den eigenen Reihen. Auch Valtin wurde in die USA geschickt, um einen solchen „Opportunisten“ zu liquidieren – die Aktion misslang, Valtin fasste eine mehrjährige Haftstrafe aus.
Kaum auf dem Radar der Kommunisten waren allerdings die Nationalsozialisten. Seit Mitte der zwanziger Jahre wurden die Straßenkämpfe mit der SA häufiger, Kommunisten und Nazis lieferten einander bei ihren politischen Veranstaltungen Saalschlachten, auf beiden Seiten konnten offenbar mühelos Abend für Abend hunderte Schläger mobilisiert werden.
Dass Hitler und die NSDAP an die Macht kommen könnten, schien für Kommunisten unvorstellbar.
Es schien offenbar, als könnte man die Nazis abschrecken, wenn man ihnen nur hart genug begegnete: Nazi-Agitatoren, die ebenfalls Hafenarbeiter und Matrosen zu gewinnen versuchten, wurden von Valtins Organisation nicht nur getötet. Sie wurden möglich bestialisch verstümmelt und ihre Leichen öffentlich zur Schau gestellt, um ihre Gleichgesinnten abzuschrecken. Eine Vorgangsweise, die Öl ins Wasser der Nazi-Propaganda war.
Und während die Nazis weiter wuchsen, bekriegten einander Sozialisten und Kommunisten ebenfalls weiter. Zur Erinnerung noch mal die Fakten: 1930 war die NSDAP zweitstärkste Partei bei den Reichstagswahlen; über 18% bedeuteten ein Plus von fast 16 Prozent. Die Sozialisten hatten knapp 25 Prozent (minus 5), die Kommunisten 13 % (+ 2,5). Es regierte allerdings die Deutsche Zentrumspartei (knapp 12%) mit Duldung der Sozialisten – was diesen wiederum den besonderen Hass der Kommunisten einbrachte. 1932 siegte die NSAP in zwei Wahlen; als danach Koalitionspläne zwischen aus Deutschnationaler Volkspartei und NDSAP scheiterten, weil Hitler den Kanzleranspruch stellte, hielt man ihn für erledigt – zumindest unter den Kommunisten.
SPD und KPD hätten auch nach der Novemberwahl noch eine Mehrheit gehabt, sabotierten einander aber weiter.
Dann ging es schnell: Am 30. Jänner 1933 war Hitler zum Kanzler ernannt worden, im März des gleichen Jahres wurden die ersten Konzerntrationslager, darunter das KZ Fuhlsbüttel in Hamburg eröffnet. Dort landete Valtin im November 1933, nur sieben Wochen, nachdem ihn die Komintern wieder nach Deutschland zurückgeschickt hatte, um das Spionagenetzwerk weiter auszubauen.
Das war erst ein halbes Jahr, nachdem sich die Demokratie in Deutschland aufgegeben hatte.
Trotzdem regierten in den Verhören schon Nilpferdpeitschen und Dunkelhaft, die Guillotine war als undeutsch durch das Beil ersetzt worden und dieses war häufig in Verwendung.
 
Valtins Erzählung liest sich wie Erzählungen aus der afrikanischen Kolonialzeit. Sie ist genau so blutig und wirkt genauso fern trotz all ihrer Details. Sie wirkt lange zurückliegend als wären die Foltermethoden mittelalterlich (wobei man im Mittelalter den Tod des Opfers leichter in Kauf genommen hat – Informationen waren weniger wichtig) – dabei sind die 30 Jahre die Zeit, die zumindest bei mir gefühlsmäßig als „vor 50 Jahren“ verankert ist.
 
Valtins Buch hat 600 eng bedruckte Seiten, ist schmuck- und schnörkellos erzählt. Ich habe es trotzdem innerhalb weniger Tage gelesen. Und alle, die heute dümmliche Feschist/Faschist-Witzchen machen, „wie in den 30er Jahren“-Vergleiche bemühen und Widerstand mit Vereinsmeierei verwechseln, sollten es ebenfalls lesen. Mir gefällt unsere Regierung auch nicht. Aber nein, *so* hat es in den 30er Jahren auch nicht angefangen.
 
 
PS: Großen Dank und großes Kompliment an bahoe books, die viel Papier in die Hand genommen haben, um dieses zuletzt 1986 veröffentliche Buch nocheinmal aufzulegen. Das ist Mut. Und auch dafür solltet ihr dieses Buch kaufen und lesen.

Karl Polanyi – The Great Transformation

Es ist auch ein Worst Case-Fall, ein Negativbeispiel für ein besserwisserisches, sektiererisches Elfenbeinturmbuch. Andererseits: An welches über siebzig Jahre alte Fachbuch stellt man noch den Anspruch, auf allen Ebenen auf der Höhe der Zeit zu sein?
Karl Polanyis „The Great Transformation“ erschien 1944, wurde schon damals eher skeptisch beäugt und verschwand dann recht bald in der Schublade jeder wissenschaftlichen Arbeiten, die man weder kennen noch verbreiten noch bekämpfen muss. In den vergangenen zwanzig Jahren allerdings erlebten Polanyis Theorien allerdings ein großes Revival. Ein Höhepunkt zwischendurch ist der Sammelband „Die große Regression“, in dem sich fast jeder Autor auf Polanyi beruft.
 
Worum geht es im Kern: Polanyi argumentiert, dass der Kapitalismus zwangsläufig Auflösungserscheinungen traditioneller Gesellschaftsformen mit sich bringe und damit den Boden für autoritäre Regime aufbereite. Dazu argumentiert er, dass der Handel keineswegs einem „Drang“ des Menschen entspringe oder entspreche (so wie frühkapitalistische Theorien argumentierten), sondern in soziale Strukturen eingebunden gewesen sei. Tausch und Handel waren für Polanyi ritualisierte Interaktionsformen, die überlieferten Regeln folgten und nicht auf individuelle Neigungen zurückzuführen seien. – Frühere Soziologen haben genau diese ritualisierten Tauschformen dann ja eher als irrationalen Gegenentwurf zum Kapitalismus interpretiert, als geradezu zerstörerische Verpflichtung: Die Stammesführer, die in Marcel Mauss’ „Die Gabe“ im Podlatch (der ritualisierten Tauschform) Güter austauschen, stehen einander in Mauss’ Interpretation in einem eher kriegerischen Verhältnis gegenüber, indem sie den anderen zu immer größeren Gegenleistungen verpflichten.
Polanyi sieht die Dinge anders. In seinem Drang, andere dumm aussteigen zu lassen, ergeht er sich in seitenlangen Anspielungen und Andeutungen über historische Fakten, Zusammenhänge und deren vermeintliche Fehlinterpretationen, die seine eigene Argumentation völlig in den Hintergrund treten lassen. Es ist dieser besserwisserische Tonfall, der fremde und vermeintlich schlechte Theorien lang ausführt, deren eigene Argumente gegen sie sprechen lassen möchte und dabei den Leser, der vielleicht nicht von vornherein Polanyis Standpunkt teilt, etwas ratlos zurücklässt.
Seine eigenen Fakten (oder deren Interpretation) erklärt Polanyi kaum – nicht weil sie nicht stimmten, sonder anscheinend ebenfalls aus einem starken akademischen Dünkel heraus. Es finden sich viele Formulierungen wie „es ist offensichtlich“, „es kann nicht sein“, „es liegt auf der Hand“ ,“man kann sich darauf einigen“, die seine Argumente eher in Frage stellen als sie zu stärken. Seine These von der Zerstörung traditioneller Gesellschaften durch die Marktwirtschaft mag nachvollziehbar sein, seine Argumente sind allerdings meist so universalistisch platt wie die jeder Totalitären gegen die er argumentieren möchte.
Besonders schlimm und entlarvend ist das, wenn Wissenschaftler mit dem gleichen Eifer in Fachgebieten wüten, in denen sie definitiv keine Expertise haben. Bei Polanyi sind das Afrika und der Kolonialismus. Beide zieht er im Vorbeigehen in wenige Absätzen heran, um seine These von der Zerstörung traditioneller Gesellschaften durch die Marktwirtschaft zu erhärten. Dass die Marktwirtschaft im kolonialen Afrika nur als Zerrbild in den letzten Ausläufern durch jene, die abstrahierte und unmenschliche Ziele durchsetzen musste, präsent war und nirgendwo sonst auf der Welt marktwirtschaftliche Ziele durch das Abhacken von Gliedmaßen befördert hat oder dass Sklaverei nicht gerade dem Idealbild des Tauschgeschäfts entspricht, übergeht Polanyi zugunsten seiner Theorie in einem Nebensatz. Allerdings waren es im Kolonialismus gerade diese direkten und blutigen Maßnahmen, die wohl um einiges mehr zur Zerstörung von Gesellschaften beigetragen haben, als das Aufkommen von Tauschgeschäften oder anderen Handelsbeziehungen.
Hier wird also deutlich, wie sehr Polanyi alles seiner Theorie unterordnen möchte.
 
Was bleibt dann und warum bewegt dieses Buch noch heute? Jeder Versuch der Erklärung totalitärer Strömungen ist heute wichtig und verlockend (auch wenn Zeitdokumente eher belegen, wie sehr und oft man sich dabei auf die letztlich falschen Momente konzentriert).
Polanyi beschreibt allerdings auch einige Grundsätze und historische Beobachtungen, die fast in Vergessenheit geraten sind und dennoch wichtige Leitbilder für aktuelle Diskussionen wären.
Eine dieser historischen Perioden, um die sich vieles in Planyis Buch dreht, sind die Speenhamland-Beschlüsse, die in England Ende des 18. Jahrhunderts zunehmende Armut bekämpfen sollten. Armut war damals auf den Rückgang der kleinteiligen Selbstversorger-Landwirtschaft zurückzuführen; Grundbesitzer wollten ihr Land effizienter und vor allem für Schafzucht nutzen – das kostete viele kleine Pächter ihre Existenzgrundlage.
Die Speenhamland-Beschlüsse waren eine Art Mindestsicherung, die vorsah: Sollte eine Arbeiter zu wenig verdienen, da musste sein Einkommen aus der Gemeindekasse aufgebessert werden. Diese schöne Vorstellung zur Vermeidung von Armut in schwierigen Zeiten führte dazu, dass Löhne ins Bodenlose fielen: Arbeitgeber mussten nichts mehr bieten, weil Arbeiter ohnehin die Aufzahlungen bekamen, Arbeiter mussten es sich drei Mal überlegen, ob sie als selbstständige Handwerker kleines Geld verdienen oder als landwirtschaftliche Arbeiter das garantierte Mindesteinkommen in Anspruch nehmen wollten, und ein fehlgeleitetes Fördersystem führte dazu, dass Arbeitgeber, die eine Mindestzahl an ohnehin schon geförderten Arbeitern beschäftigten, zusätzliche Förderungen erhielten, um die für ihren Aufwand zu entschädigen. Die Konsequenz waren die wirtschaftliche Stagnation der Arbeiter auf sehr niedrigem Niveau, schlechte Qualität der Arbeit, weil es keine Leistungsanreize gab, schlechte Arbeitsbedingungen, weil Arbeitgeber Arbeitskräfte gleichsam wie Zwangsarbeiter behandeln konnten, und ein Verfall landwirtschaftlichen und handwerklichen Wissens, weil sich die Mehrzahl der Arbeiter auf das Grundsicherungsmodell einließ.
Der Gegenentwurf einer Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat, wichtige Beiträge leistet und dafür geachtet wird, ist eine schöne Vision. Praktisch wurden die Speenhamland-Beschlüsse (die eigentlich nie als formelles landesweites Recht erlassen, aber trotzdem so betrachtet wurden), als man griffige Handhaben gegen revoltierende Arbeiter brauchte. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts, als sich in Europa Arbeiterunruhen abzeichneten, kehrte in England so der Hunger als politisches Druckmittel zurück – teilweise als Liberalismus verbrämt, der die Freiheit des Menschen achtet und sie deshalb nicht entmündigen und ihrer Pflichten entheben möchte.
Polanyi landet auch immer wieder bei Liberalismus-Diskussionen. Für ihn ist der klassische Liberalismus ein vorrangig wirtschaftliches Konstrukt, dass die anderen Dimensionen von Freiheit und deren ethische Fragen gern mal außer acht lässt. Dieser Liberalismus, der es sich einfach macht und das Fehlen von Einschränkungen idealisiert, steht – und hier kann ich Polanyi wieder zustimmen – in einer gefährlichen Nähe zum Faschismus: In beiden Fällen werden Trugbilder idealisiert, beide Gegensätze nehmen in Kauf, das Unfreiheit zunimmt. Einmal geschieht das eben direkt durch Verbote, einmal durch Utopien, die übersehen, dass Freiheit, die nur für wenige gilt, oft vielen schadet. 
Als eine Ideologie, die schlichte einseitige Maximen von Wachstum, Mehr, Fortschritt, Modernität und Freiheit als Fehlen von Einschränkungen predigt, kann Marktwirtschaft so gesehen tatsächlich zerstörerische Tendenzen haben.
Was genau dabei zerstört wird, dabei bin ich mit Polanyi weniger einer Meinung: Die bei ihm durchklingende Vision einer traditionelleren, wertebestimmten und christlichen Gesellschaft, die als Heilmittel wieder Halt und Orientierung gibt, unterscheidet sich nur graduell von den Visionen, die Faschisten und Totalitäre predigen. – Das kann aber auch wieder am Alter des Textes liegen.
Worauf man sich einigen kann: Die Wirklichkeit ist zu kompliziert und zu wichtig, um sie Politik, Medien und anderen Besserwissern zu überlassen. Es braucht persönliche Haltungen, Positionen, Orientierungen und Argumente. Fakten sind dabei wichtig. Aber ohne Moral wird es nicht gehen.