Ukraine 22: Ukrainian Writers Respond to War

Die Sammlung von Essays ukrainischer AutorInnen erscheint gerade rechtzeitig; der eine Krieg droht hinter dem anderen in Vergessenheit zu geraten. Und viele Details habe zumindest ich schon vergessen – die Zuversicht, dass das schon nicht passieren wird, das Erschrecken, dass Russland wieder mit aller Macht Krieg führt, das Erstaunen, dass sich Russland nicht mal die Mühe macht, seinen Terror zu tarnen.

Das sind vermutlich Reaktionen, über die die ukrainischen AutorInnen ihrerseits nur staunen können. Viele Essays beschreiben eine lange Geschichte des Konflikts mit Russland, russiche Bestrebungen, Ukrainisches zu ignorieren und auszulöschen, russiche Angriffskriege gegen ehemalige Sowjetrepubliken. Aus Sicht der Ukraine wirkt es manchmal, als führte Europa einen bloß halbherzigen und ohnehin aussichtslosen Abwehrkampf dagegen, in absehbarer Zeit ein unwichtiges Anhängsel eines putin-dominierten Eurasien zu werden.

Fast vergessen ist auch schon, mit welcher Gewalt der Krieg mit Raketen und Bomben über Städte hereinbrach, fast vergessen die Angriffe auf flüchtende Familien. 

Die Annexion der Krim und die Kämpfe im Donetzk-Gebiet haben wir viel zu wenig beachtet – in der Ukraine haben sie die Politik der letzten Jahre bestimmt. Ich bin mit der Idee aufgewachsen, Russlannd wäre nicht mehr so. So wie in den Erzählungen meiner Großeltern. Jener Großeltern, die aus dem damaligen Ostpreußen, heute Polen geflohen sind, und zum Ende ihres Lebens noch mit Begeisterung Glasnost und Perestroika verfolgt haben. Es gab keine Panzer in europäischen Städten mehr, keine Mauertoten. 

War das reale und begründete Hoffnung, oder das ein Mosaiksteinchen mehr in einem europäischen Stimmungsbild, das ukrainische AutorInnen jetzt als nützliche Kreml-Idiotie in Westeuropa bezeichnen?

Kann man Kultur von Krieg trennen? Auch das ist eine Frage, der UkrainerInnen heute eher verständnislos gegenüberstehen. Russischer Angriffskrieg bringt Bilder des Bösen in die Welt, Zuspitzungen und Feindbilder wie im Blutrausch, der zwischen den Zeilen von Karl Kraus‘ Letzten Tagen der Menschheit steckt. Früher wollte jedes Land in seinem Größenwahn die Welt zerstören, heißt es in einem der Essays. Heute will das nur noch Russland. Und die Frage, ob man Krieg von Kultur trennen könne, ob es nur Putins, nicht aber Puschkins Krieg sei, sei gleichbedeutend mit der Frage, ob es nur Hitler gewesen sei – und alle anderen Deutschen unschuldig.

Die Essays sind chronologisch angeordnet. In den ersten Wochen dreht sich vieles um Bestürzung, Flucht, die Frage, welchen Widerstand man leisten kann und soll, wie man unter Raketenbeschuss und Fliegeralarm mit Kindern lebt. Dann wird die Gewalt mehr und mehr Teil des Alltags. Wichtiger werden politische Positionen, die Erinnerung an Ursachen es Krieges, an Verlorenes, aber vor allem an das, was es zu verteidigen gilt.

Wichtige Essenz für uns, die sich diese Fragen noch nicht in dieser Dringlichkeit stellen müssen: Nichts aufschieben, Zeit nützen, keine Ausreden gelten lassen und klare Prioritäten haben. Du muss heute tun, was dir wichtig ist und was dir Freude bereitet, auch wenn du glaubst, dass es auch kommende Woche genauso gut geht. Du kannst morgen zwischen Trümmern sitzen.

Künstliche Intelligenz, Medien und die beliebtesten Missverständnisse

Künstliche Intelligenz ist wohl wirklich der falsche Begriff. Gerade in Diskussionen über KI und Journalisnus merkt man oft: Menschen stellen sich vor, KI würde auf magische Weise ausrücken, um als Lokaljournalist über den Brand im Nachbardorf zu berichten oder zum Telefon greifen, um einem Staatsanwalt Geheimnisse zur Existenz eines bislang unbekannten Akts zu entlocken. 

Es kann sein, dass in vielen Medoen beides auch von menschlichen Journalisten nicht mehr gemacht wird – aber das ist ein anderes Problem.

Dass KI schreiben kann, ist im Wesentlichen irrelevant. Es ist ein netter Zug, der weit mehr Menschen ermöglicht, mit KI zu interagiern, als wenn man strukturierte Abfragen stellen oder gar programmieren müsste. Aber es erzeugt falsche Vorstellungen von einer aktiven, von sich aus tätigen KI. Und es erzeugt falsche Prioritäten. Gerade für die Medienbranche: Hier arbeiten Menschen, denen es leicht fällt, zu schreiben. Es ist ziemlich sinnlos, ihnen diesen Task abnehmen zu wollen und würde Effizienzsteigerungen unter der Wahrnehmungsgrenze bringen. Natürlich gibt es auch schlechte und untalentierte Schreiber. Das ist aber ein Problem, das man auf anderer Ebene lösen muss – und untalentierte Schreiber hötten auch Probleme, sich einer KI verstöndlich zu machen. Und automatisiert erstellte strukturierte Texte etwa in der Wahl- oder Fussbalberichterstattung bestätigen diese Regel.

Vernachlässigbar ist die Sache trotzdem nicht. In vielen Funktionen, die Medien selbstverständlich nützen, steckt KI.

  • Empfehlungen, Personalisierung, „Lesen Sie auch“ – hier versorgt Sie der Bot. Kategorisierung, Tagging, semantische Rechtschreibprüfung – im Idealfalll sind das lernende Systeme.
  • Synthetische Stimmen lesen Texte vor, mitlesende Bots geben Redakteuren Tipps, während diese schreiben. 
  • Textanalysetools kategorisieren Dokumente nach Personen, Organisationen und Themen und bieten kontextorientierte Suchen, mit denen tausende Seiten Material schnell durchsucht und nach Zusammenhängen abgeklopft werden können. 

Marketingetriebene Reichweitenportale ohne redaktionellen Ehrgeiz multiplizieren mit tatsächlich künstlich erstellten Texten an der Spam-Grenze ihren inhaltlich mageren Output. Dadurch entstehen bislang kaum erfolgreiche Anwendungen – aber sie tragen dennoch dazu bei, den Ruf anderer journalistischer Produkte weiter zu verschlechtern. 

Zahlreichen aktuell in Verlagen hausierenden KI-Predigern ist das zu wenig. Sie zitieren KI-Apps, ziehen Analogien zu Social Networks und anderen Plattformen, die User mit Empfehlungsloops tief in Kaninchenhöhlen ziehen und bedauern, dass Nachrichtenmedien das nicht auch machen. 

Das ist – neben den Erwartungen an das Schreibtalent von KI – das zweite große Missverständnis. Verlage und Redaktion überlassen das Ausspielen von Inhalten nicht einer KI, weil es zum Selbstverständnis redaktioneller Arbeit gehört, Inhalte selbst zu steuern, Themen zu setzen und Schwerpunkte bilden – das ist der Kern journalistischer Arbeit. 

Personalisierung gehört zu den häufigsten Userwünschen – die umgehend wieder relativiert werden. Man möchte maßgeschneiderte Information, aber man möchte nicht immer das gleiche lesen, auf Neues aufmerksam gemacht werden und nicht immer im eigenen Saft kochen.

Und schließlich sind die Mengengerüste völlig verschieden. Social Networks schöpfen aus Millionen täglich neuen Contentelementen. User haben oft 1000 oder mehr Kontakte. – Eine große Nachrichtenseite veröffentlicht vielleicht 300 Meldungen am Tag und hat 50 Redakteure. 300 Posts am Tag – auf Twitter schaffen das einzelne User täglich allein.

Dennoch überrascht die Hartnäckigkeit, mit der Verlage immer wieder neue Anläufe nehmen – und wie auch große, verzweigte Verlage, die aus den Inhalten vieler Regionalmedien schöpfen können, daran scheitern. 

Zuletzt gilt, was immer wieder festgestellt werden muss: Datengetriebene Innovation in Medien (und dazu gehört auch KI) findet im Kleinen statt. Es sind ein paar Prozent mehr Traffic hier, ein paar Sekunden mehr Verweildauer dort, die in Summe den Unterschied ausmachen – in Form von langfristigen Trends. Die plötzlichen Sprünge und die hohen Ausschlöge nach oben sind praktisch nie auf digitale Innovation zurückzuführen. Die deutlichen Unterschiede und die großen Sprünge sind immer noch einfach auf die bessere Geschichte zurückzuführen.

Data is overrated

Wie kommt man als Datenanalyst dazu, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt? „Er ist der einzig seriöse Datenmensch“, hat mal ein Kollege über mich gesagt. Das war um vier in der Früh, zu dieser Tageszeit ist man ehrlich. Ich führe das darauf zurück, dass ich „Ich weiß es nicht“ für die wichtigste Aussage jedes Analysten halte. 

Die Auseinandersetzung mit den Versprechen von Data Science war denn auch von persönlicher Erfahrung und persönlichen Interessen getrieben. Du hast die Nase tief in den Zahlen und den Kopf hoch in Spekulationen über mögliche Zusammenhänge, die noch zu testen wären – und dann rauscht jemand vorbei und brüllt lauthals eine neue Erkenntnis in den Raum, die ihm die Daten geflüstert hätten. „Steil“, denkt sich der auch nur mäßig erfahrene Analyst. „Hier wären viele Schlüsse möglich. Dieser allerdings nicht.“ 

Jetzt ist es auch durchaus langweilig, immer erst auf fehlende Ergebnisse, noch durchzuführende Tests, neue Datenquellen oder andere Umwege zu verweisen. Es ist aber auch unsinnig, nur der Plakativität halber in den Kanon der Voreiligen  einzustimmen. Deswegen war es eine Grundfrage dieser Forschung, eine andere Antwort zu finden als: „Es kommt darauf an.“ 

Wenn wir verstehen wollen, ob Data Science zu besseren Entscheidungen führt, müssen wir erst verstehen, wo überall im Data Science-Prozess Entscheidungen getroffen werden. Sie stehen keinesfalls erst am Ende, so wie es viele Data Science-Konzepte mit technischem Schwerpunkt gern darstellen. 

Ebenso müssen wir uns die Frage stellen, ob und wie die Ergebnisse von Data Science oder Datenprozessen in allgemeinen noch irgendeinen Anspruch auf besondere Verhältnisse zu Tatsachen oder Realität stellen dürfen. Und schließlich müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie sich Bedeutung und Autorität auf der Basis von Daten sonst argumentieren lassen.

Die Grundfrage: Wie wird ein Datum zum Datum? 

Hinter der Frage steckt Skeptizismus, der nicht an seinen eigenen Zweifeln scheitern soll. Daten sind nicht erst seit dem Siegeszug von IT oder seit immer größer werdenden Big Data-Blasen Gegenstand von Erkenntnisdebatten. Daten waren früher Streitschlichter, Friedensbringer und sogar taktische Mittel, Kriege zu vermeiden. In den Frühzeiten der Royal Society im England des 17. Jahrhunderts vermittelte datengetriebene Wissenschaftlichkeit zwischen experimentellen Forschern wie Robert Boyle und strengen Rationalisten wie Thomas Hobbes. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, meinten die Rationalisten. Vielleicht schon, wenn wir auf die Daten achten, hielten die Experimentierer entgegen. Daten waren etwas für Gentlemen im wohlsituierten Wortsinn, die ihnen Beachtung schenken konnten, ohne auf ökonomische, politische oder religiöse Eigeninteressen achten zu müssen.

Daten sind keine losgelösten Abstraktionen. Materielle und technische Innovationen der Datenhaltung haben Informationsorganisationen geprägt und Rechtsenwicklung beeinflusst, zeigt unter anderem die Rechtshistorikerin Cornelia Vismann an der Entwicklung von Akten von Fadenheftung zu mechanischen Aktenordnern.

Mit dem Blick auf diese technischen und sozialen Komponenten von Daten stellt sich die Frage: Wie wird etwas zum Datum?

Wo entsteht dabei der Nimbus des besonderen  Naheverhältnisses zur Realität?

Daten ziehen normative und soziale Komponenten mit sich. Das zeigt sich besonders deutlich an den Erwartungen, die an Open Data gestellt werden. Open Data vermittelt Transparenz, Kontrolle, Offenheit und Effizienz – und verstellt damit den Blick darauf, wer was wie zum Datum gemacht hat, und wer über die Offenheit dieser Sammlungen entschieden hat.

So betrachtet wird Open Data zum herrschaftlichen Machtinstrument. Oft sind es aber auch nur Schwächen im Prozess des Erstellens und Bereitstellens von Datenpublikationen, die den angestrebten Nutzen von Open Data Publikationen hintertreiben. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen dokumentieren, ich habe dafür unter anderem das Lobbying Transparenzregister der EU analysiert. Hinter diesem Beispiel steckt der politische Wille, mit Open Data Transparenz zu schaffen. Technische Unzulänglichkeiten verhindern das. Teils sind es tatsächlich technische Fehler im Datenhandling, teils sind es technische Unklarheiten, die zu große Interpretationsspielräume eröffnen, und das nicht nur in der Auswertung der Daten, sondern schon in ihrer Erhebung. Auch die Art der Speicherung und Publikation hat große Auswirkungen darauf, wie Daten ausgewertet und verwendet werden können.

Daten existieren nur in Beziehungen 

Diese vielschichtigen Einflüsse schwächen das Bild von der Macht der für sich sprechenden Daten. Daten sind keine isolierten uninterpretierten beziehungslosen und deshalb unverfälschten Realitätsfragmente. Sie werden, so die These, nur in Beziehungen verständlich. 

Eine häufige Spielart, sich diesem Komplex zu nähern, ist die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Arten von Bias in Daten und Analysen. Daten sind vielleicht nicht neutral, wird dann vermutet, wenn sie aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Wenn sie aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, sind sie allerdings ebenso wenig neutral. Das führt recht schnell in einen Regress, aus dem nur normative Entscheidungen einen provisorischen Ausweg bieten: Man nimmt bewusst diese (oder eine andere) Perspektive ein, um einen bestimmten (oft: bislang vernachlässigten) Standpunkt hervorzustreichen. 

Das ist dann allerdings Agitation, nicht Data Science. 

Biasorientierte Konzepte kommen selten über die Feststellung hinaus, man müsse sich eben möglicher Verzerrungen bewusst sein. Dem liegt aber noch immer eine Vorstellung unverfälschter Daten zugrunde, die Idee, es gäbe Daten auch ohne diese Verzerrung. Nur vielleicht nicht für uns, weil wir immer auf eine bestimmte Perspektive angewiesen sind. Damit wird das ein Erkenntnisproblem kantischen Ausmaßes, wie es seit rund 250 Jahren diskutiert wird. 

Die Theorie von theoriefreier Erkenntnis und hypothesenfreier Forschung funktioniert nicht 

Wie soll man in der täglichen Praxis der Datenanalyse mit diesem Dilemma umgehen? Analysten können Ergebnisse in den Raum stellen, weitgehend unkommentiert veröffentlichen – und anhand der Reaktionen lernen, welche Schlüsse verschiedene Publika ziehen. Analysten können kontextualisieren und damit Präzision und Prägnanz opfern. Analysten können auch umgekehrt weiter präzisieren und nur noch punktuelle Diagnosen liefern, die in einer breiter angelegten Praxis, die sich mit schwammigen Gegebenheiten auseinandersetzen muss, irrelevant sind.

Diese Unzulänglichkeiten führen zur großen Versuchung der Vorhersagen. Vorhersagen sind Wenn-Dann-Verknüpfungen, die auch in strengen Verfahren wie Wahrheitstabellen den großen Vorteil haben, praktisch nie falsch zu sein. Für die Logik ist eine Wenn-Dann-Implikation nur dann falsch, wenn die Wenn-Prämisse erfüllt ist, die Dann-Konsequenz aber ausbleibt. In der Praxis ist auch das noch nicht notwendigerweise ein Problem – es kann etwas dazwischengekommen sein, die Voraussetzungen haben sich geändert oder es gab sonst einen Eingriff, der die an sich richtige Prognose stört. Wir werden es nie wissen. Diese praktische Eigenschaft hat dazu beigetragen, Prognosen, Visionen und Prophezeiungen zu einem sehr beliebten Genre aufsteigen zu lassen. Es lässt sich nie fix feststellen, wo genau Prognosen falsch abbiegen. 

Es sei denn, es verändert sich die Perspektive darauf, was alles Bestandteil der Prognose ist und welche Ereignisketten abgedeckt werden müssten, um sinnvolle Aussagen treffen zu können. Das wirkt sich auf das Verständnis der diesen Prognosen zugrunde liegenden Daten aus.

Zwei unterschiedliche Schlüsse sind möglich. 

In der ersten Perspektive sind schlicht nur noch nicht genug Daten vorhanden. Wenn einmal alles datafiziert ist, dann werden keine Fragen mehr offen bleiben, dann können wir alles berechnen, dann sind Algorithmen exakte Abbilder der beschriebenen Realität. Sind sie dann allerdings noch Abbilder? Ist eine solche Datenfülle noch in irgendeiner Form besser handlebar als die Realität selbst? Was gewinnt man mit der Idee, auf Kategorisierung, Sampling und andere Formen der Aggregierung zu verzichten und stattdessen schlicht alles zu betrachten? In euphorisierten Varianten dieser Idee wurde Daten die Macht zugeschrieben, neue Paradigmen der Wissenschaftlichkeit zu begründen. Manche Denker feierten eine Rückkehr der Induktion: Wir bräuchten keine Theorien und Hypothesen mehr, aus denen wir Gesetzmäßigkeiten anhand von Fakten deduzieren können, wir können aus Gesetze und Fakten allein anhand  von Regelmäßigkeiten induzieren. Die Idee, aus Regelmäßigkeit (etwas geschieht öfters) Notwendigkeit oder Kausalität abzuleiten (es gehört so, es gibt ursächliche Zusammenhänge zwischen vorher und nachher), war lange Zeit verpönt und feiert hier ihr Comeback. Unbeantwortet bleibt aber die Frage, wie – ohne jede Hypothese über Zusammenhänge oder Wirkungen – Zusammenhänge und Wirkungen erkannt werden können. Irgendwo lauert dann meist doch eine zumindest recht allgemeine Hypothese über Zusammenhänge im Hintergrund. 

Daten können nicht von ihren Infrastrukturen und ihren Anwendungen getrennt werden

Eine zweite Perspektive beschäftigt sich mit Veränderungen des Datenbegriffs. Wissenschaftsphilosophie hat einige neue und erweiterte Datenbegriffe entwickelt. Rob Kitchin empfiehlt das Denken in Data Assemblages. Daten sind also gerade nicht mehr als Isoliertes, Unverfälschtes zu betrachten, sondern als größere Konstrukte. Sie können nicht losgelöst von ihrer Umgebung analysiert werden, sie sind immer mit ihrer Entstehungsgeschichte und mit ihrem Verwendungszweck verbunden und von beiden abhängig. Daten können nicht von Infrastruktur getrennt werden. Sabina Leonelli verwendet den Begriff Data Journeys, um darauf hinzuweisen, dass Daten keine punktuellen statischen Realitätsfragmente sind. Sie müssen in Beziehungen und Entwicklungen betrachtet werden – und sie verändern sich in ihrer Geschichte und in ihrer Verwendung.

Beide Konzepte nehmen davon Abstand, Daten irgendeinen bevorzugten Status einzuräumen. Beide betrachten Daten als komplexe Gebilde, die durch eine Reihe von Entscheidungen entstanden sind. Das richtet die Datenpraxis in den Blickpunkt. Wie gehen wir mit Daten um, welche Fragestellungen sind im Raum, zu welchen Zwecken werden sie herangezogen? Damit werden Entscheidungen in den Analyseprozessen deutlich sichtbar. Daten weisen nicht per se den Weg zu einer Erkenntnis, sie sind Instrumente, die als Argumente benutzt werden können. 

Das ist ein gänzlich anderer Zugang als die Idee, dass Daten Hypothesen, Theorien und Perspektiven ersetzen und einen direkten Weg zur Erkenntnis weisen könnten. 

Daten sind Modelle 

Was haben wir damit gegenüber dem Ausgangspunkt („Es kommt darauf an …“) gewonnen? Kann irgendein sinnvoller Weg von Daten zu Erkenntnis gerettet werden? Wie erlangen Daten, wenn sie keine bevorzugten Realitätsfragmente sind, Autorität und Bedeutung?

Ich schlage vor, dafür in Wissenschafts- und Technologiephilosophie nachzublättern. Wissenschaftsphilosophie beschäftigt sich unter anderem häufig mit der Frage, wie wissenschaftliche Repräsentation und Modellbildung funktionieren. Konkret bedeutet das: Welche Vereinfachungen sind sinnvolle und nützliche Konstrukte, um mehr über etwas Komplizierteres zu erfahren, welche sind Willkür oder schlicht falsch? Wie weit können ForscherInnen mit Modellen arbeiten und Erkenntnisse aus dieser Arbeit ableiten, wie weit sind Modelle bloß Darstellungen bereits gewonnener Erkenntnisse und sollten nicht Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit sein? – Diese Fragestellungen sind der Idee, man könne jede Frage beantworten (ohne sie konkret gestellt zu haben), hätte man nur ausreichend Daten, sehr ähnlich. 

Repräsentationen, so die Kurzfassung einer von mehreren relevanten Strömungen, sind keine Abbildungen, sondern eigentliche Präsentationen. Es ist ein produktiver Akt, (Re)Präsentationen zu erstellen – und auch in diesen Akt fließen eine Reihe von Entscheidungen. 

Modelle können Analogien sein, Metaphern, Apparate, Formeln, Gleichungen – sie sind jedenfalls etwas von ihrem Objekt verschiedenes. Manche TheoretikerInnen fordern eigene Regeln, um aus Modellen gewonnene Ideen auf Realität und das Objekt zurück übertragen zu können. Andere sehen Modelle als eigenständige Entitäten, die ein Eigenleben entwickeln können und auf deren Basis eigene Erkenntnisse entstehen. Diese sind bereits in einer Realität, sie müssen nicht übertragen werden. Relevant ist weniger, was nach der Arbeit mit dem Modell geschieht, als wie die Konstruktion des Modells zustande kommt. 

Können Daten noch Autorität und Bedeutung für sich beanspruchen? 

Mit diesen Konzepten lassen sich klare Argumente gegen technologischen Determinismus formulieren, gegen naive Vorstellungen von Bias und dessen Überwindbarkeit und gegen eine bevorzugte Rolle von Daten. Umso dringender bleibt die Frage: Wie sonst erlangen Daten Autorität im Sinn von Geltungsanspruch und Bedeutung im Sinn konkreter Aussagen? 

Data Science ist Technik. Die Disziplin hat viele Berührungspunkte in viele Richtungen, ist aber doch, in ihrer aktuellen Ausprägung, im wesentlichen eine Disziplin der Informatik. Das macht insofern einen Unterschied, als sich Technik anders zu Realität verhält als etwa Sozialwissenschaft. Technik erklärt und begründet nicht, Technik definiert und entscheidet. Die literarischen Gattungen der Technik sind die Anleitung oder die Spezifikation.

Das ist eine sehr praxisorientierte Perspektive, die sich gut in Beziehung zu pragmatischen Wahrheitskonzepten setzen lässt. Wahr ist, was nützlich ist. Das lässt sich gerade im Zusammenhang mit Technik auch umlegen als: Wahr ist, was funktioniert. 

Das ist aus mehreren Gesichtspunkten relevant. Zum einen setzt die Idee der Nützlichkeit oder des Funktionierens einen Zweck voraus. Es gibt ein Ziel, das einen Rahmen vorgibt, der darüber entscheidet, ob Nützlichkeit oder andere pragmatische Kriterien erreicht sind. Das unterscheidet sich von der Idee eines automatisierten – datengetriebenen – Entscheidungsprozesses, der über alle möglichen Fragestellungen und Realitäten gestülpt werden kann und unabhängig von Zweck und Ziel besser entscheidet. Es unterscheidet sich auch von der Idee der hypothesenfreien Entstehung von Wissen, denn der Zweck ist bereits deutlich konkreter als es viele Hypothesen sind, die am Anfang eines Forschungsprojekts stehen.

Mit steigender Präzision der Ergebnisse nimmt ihre Anwendbarkeit ab

Data Science beantwortet also auf generischer Ebene alles – eben weil technische Methoden entscheiden und definieren. Damit erklären sie nichts. Aber sie legen fest. Je weniger generisch und je weiter konkret eine Fragestellung wird, desto weniger greifen Data Science-Methoden. Statistik hat bei kleinen Fallzahlen bloßer Beobachtung wenig voraus. Algorithmen als Einzelfallbeschreibung liefern keine neue Erkenntnis und kein unerwartetes Ergebnis. Die Beschreibung ist dann allerdings überaus präzise. Sie ist das Idealbild einer Prediction, die ganz präzise Abläufe beschreibt, die so auch geschehen werden – weil sie gerade schon geschehen.

Diese gegenläufige Bewegung zwischen Verbreitung und Generalisierung auf der einen Seite und Spezialisierung auf der anderen Seite ist ein Spezifikum von Data Science-Methoden, insbesondere, weil die Richtung der Bewegung oft nicht klar diagnostiziert werden kann. Wird der Scope enger, wenn die Fragestellung präziser wird und weniger Antworten gegeben werden können? Oder vergrößert sich der Scope durch diese Spezifizierung, weil die Antworten, die gegeben werden können, treffender und aussagekräftiger sind? Das ist Ansichtssache, beide Optionen können argumentiert werden. Es bleibt eine Frage der gewählten Abstraktionsebene, welche Option als sinnvoller empfunden wird. 

Data Science kann auf allen Ebenen nützlich sein und entfaltet ihre Stärke vor allem in der Wiederholung: Data Science-Methoden liefern nicht die besseren Antworten, aber sie liefern in kürzerer Zeit mehr Antworten. 

Nuancierte Fragestellungen auf unterschiedlichen Abstraktionslevels helfen, Teilaussagen in Beziehung zu setzen und abzugleichen. In Luciana Floridis Network Theory of Account entsteht konkrete Bedeutung durch die Interaktion zwischen einzelnen Informationselementen. Bedeutung wird nicht aus Begriffen oder Kategorien abgeleitet, Bedeutung entwickelt sich aus Reaktionen auf Reaktionen.

Darin liegt die Stärke von Data Science-Methoden. Datenbanken können als Networks of Account funktionieren, in denen einzelne Elemente nach klaren Regeln in Beziehung zu einander gesetzt werden. Beziehungen können auch zwischen verschiedenen Datenbanken hergestellt werden. Das setzt klare Regeln und Standards voraus, deren Fehlen die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigt. Tempo und Erweiterbarkeit dieser Netzwerke dagegen verbessern die Informationsqualität, solange Regeln und Standards stimmen. 

Technik definiert und entscheidet – unabhängig von richtig und falsch oder gut und böse

Das schwächt den Anspruch von Data Science, eine universelle Entscheidungsmaschine zu sein und neue Information zu generieren. Aber diese Konzentration auf schnelle Iterierbarkeit steigert die Nützlichkeit von Data Science Methoden. Die relevanteste Einschränkung dabei: Data Science dient nicht der Wahrheitsfindung; Data Science ist ein Instrument der Taktik, mit dem schnell Theorien getestet werden können. Dazu braucht es aber zuerst Theorien. 

Partei zu den fröhlichen Totengräbern

Es war eine liebgewordene Tradition in Österreich, dass die Abschiedsreden von (ÖVP-)Politikern zu den Highlights ihrer Karrieren gehörten. Othmar Karas hat damit gebrochen. Sein Abschied blieb so farblos und volle Konjunktive wie sein bisheriges politisches Wirken. Ich habe mich nach etwa einer Minute verabschiedet, als zum ersten Mal die magischen Worte fielen “Es geht ja nicht um mich, aber …” Diese Formulierung gehört zum Standardrepertoire alternder Politbesserwisser, die ganz sicher nicht zur Seite treten werden, um Platz dafür zu machen, worum es denn eigentlich gehen soll.

Keine Nachlese, keine Kritik oder kein Lob von Karas’ Abtritt konnte mich bislang davon überzeugen, dass ich etwas versäumt hätte.

Im großen Sonntagsinterview mit der Kronen Zeitung sprach Karas auch wenig, widersprach auch nicht, als ihm gemeinsame Bewegungsambitionen mit Christian Kern, Reinhard Mitterlehner und Josef Schellhorn nachgesagt wurden. Das wäre ja mal was. Der parteiübergreifende Einheitsbrei der Gekränkten und Beleidigten, die sich nicht durchsetzen konnten und deshalb mit einer eigenen Neugründung sportlich dazu ansetzen, sogar die Republik Kuglmugl auf dem politischen Parkett Österreichs in den Schatten zu stellen. Die Partei zum fröhlichen Totengräber mit lauter älteren Männern, die schon (mindestens) einmal entnervt und beleidigt hingeschmissen haben. In ihrem ersten politischen Leben konnten sie nichts dazu beitragen, den Aufstieg der Rechten zu verhindern, dafür tragen sie jetzt mit neuem Pathos den Anspruch vor sich her, einen Wahlsieg der FPÖ verhindern zu wollen.

Putzig.

Denn sie wildern natürlich nicht in deren Revier, sondern in den Revieren jener, die sich den gleichen Anspruch auf die Fahnen geheftet haben.

Sollten die Comebackfreudigen das also aus Gründen der politischen Raison lieber lassen? Dazu muss man sagen: Nicht jeder Unterschied muss gleich das Gegenteil bedeuten. Im Klartext: Wenn ein Waschmittel nicht sauber wäscht, macht es deshalb noch nicht schmutzig. Aber wenn man etwas gegen die braunen Flecken in der Unterhose tun möchte, sollte man es trotzdem nicht verwenden.

Sozial ist das neue dystopisch

Überwachung, das ist auch das freundliche Nudging, das Umweltsünder davor bewahrt, Plastikmüll falsch zu entsorgen, das Autoraser entlarvt und nachts für Sicherheit sorgt. Überwachung hat viel von ihrer bedrohlichen Seite als allgegenwärtige Kontrolle mit Konsequenzen und Sanktionen verloren. Dauerpräsenz ist Alltag. Allwissende Instanzen sind per se nicht mehr schlecht – es kann auch ganz nützlich, wenn alles irgendwo registriert wird. Durch Dauerpräsenz treten Gewöhnungseffekte ein. Manchmal verkehrt sich dann auch, was als störend empfunden wird: Ist es die Dauerpräsenz? Oder ist es deren Fehlen? 

Drei aktuelle Bücher widmen sich dem Themenkreis von Sozialem, Sichtbarkeit und möglichen neuen Dystopien. Es ist Zufall, dass ich alle drei in unmittelbarer zeitlicher Nähe gelesen habe. Ihre Perspektiven sind sehr unterschiedlich. Léa Murawiecz greift in „Die große Leere“ das Motiv der Bestätigung durch und Abhängigkeit von Beachtung auf. In einer angedeuteten Gesellschaft sterben Menschen, wenn niemand an sie denkt. Das ist aber kein Vergissmeinnicht-Romantik, eher eine Drogenmetapher. Wer nicht beachtet wird, stirbt im Entzug, wer viel Beachtung bekommt, entwickelt rücksichtslosen Größenwahn. Die Protagonistin der Graphic Novel arbeitet anfangs in einer Art Call Center, im dem bezahlte Agents an jene denken, sie sonst zu wenig Beachtung bekommen und die sich über diese Dienstleistung das lebensnotwendige Aufmerksamkeitsmaß sichern. Murawiecz erzählt wenig, die Story bleibt dünn. Optisch schön umgesetzt ist die Dauerpräsenz der Beachtung in Großstadtszenen mit Werbeschildern in Straßenschluchten, die die Materialisierung von Aufmerksamkeit verkörpern. Jenseits dieser Straßenschluchten lockt oder droht die Große Leere, in der es diese Aufmerksamkeit nicht gibt. 

Kontrolle und Überwachung sind bei Murawiecz kein Thema. Beachtung ist lebensnotwendig; die Abhängigkeitsverhältnisse sind Grund für Kritik. Dystopisch ist der Entzug von Aufmerksamkeit, der einer tödlichen Krankheit gleichkommt. 

Bei Joshua Cotter in „nod away“ leben die Protagonisten in einer Welt, die keine Kommunikationsdevices mehr braucht. Was wir heute als Social Media-Nutzung kennen, heißt dort Streaming und es passiert direkt über die Gehirne der Streamenden. Vereinzelt verweigern sich Menschen, sie gelten als eher rückständig. Streamen ist eine passive Angelegenheit, in der Konsumenten wenig Wahl haben. Wer nicht streamt, ist ein verdächtiger Außenseiter, ist von wichtigen Informationsflüssen abgeschnitten, vergibt sich Karrierechancen

Die Handlung verlagert sich auf eine Raumstation, Vorgesetzte steuern Mitarbeiter per Streaming, ein paar Monster treten auf, die Story zerfällt dann ein wenig. 

Nincshof von Johanna Sebauer hat eine vielversprechenden Klappentext – eine Gruppe Menschen in einem kleinen burgenländischen Dorf nennt sich Oblivisten, ihr Ziel ist es, das Dorf dem Vergessen anheimfallen zu lassen, um ungestört zu bleiben. Das klingt spannend. Das war es aber auch schon. Die Story bleibt dünn und hätte bestenfalls eine kurze Erzählung getragen. Mit bemühtem Schmäh und der versagenden Originalität eines öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimis wird der nicht vohandene Plot auf Buchlönge ausgewalzt. Das eigentliche Thema gerät zusehends in Vergessenheit. Die Idee bleibt gut, aber ihre Auswalzung in Buchlange löst auch etwas Fremdscham aus.

Entzug von Aufmerksamkeit, direkte Gedankenkontrolle, Freiheit durch Vergessenwerden – soziale Bindungen sind relevant, ihre Auswirkungen werden in unterschiedichen Texten sehr unterschiedlich gelesen. Allen dreien ist gemeinsam: Der einzelne ist gegenüber eine umfassenden Vernetzung und (virtuellen) Sozialisierung machtlos. Da ist keine Rede mehr von bottom up- und grassroots-Vernetzung, die Allgegenwart von Kommunikationskanälen dient Mächtigen, Freiheit durch Digitalisierung, Social Media und Kommunikation ist nicht einmal mehr ein Lichtstreif einer längst untergegangenen Sonne. 

Es ist selbstverständlich, dass Vernetzung und Kommunikation der Kontrolle dienen. 

Und das wird fallweise auch gar nicht mehr als Problem gesehen. Die Texte haben mich auch an ein Informatik-Seminar vor ein oder zwei Jahren erinnert, in dem Studierende aufgefordert waren, technische Visionen zu entwickeln, Skizzen für Technologien zu entwickeln, die Probleme der Gegenwart lösen. Mehr als die Hälfte der Projektgruppen entwarf Üverwachungsinfrastrukturen, mit deren Hilfe sich erwünschtes Verhalten steuern lassen sollte. Mülltrennung, Verkehrsverhalten, Rücksichtnahme im Alltag – Überwachungsmechanismen sollten in all diese Bereiche eingreifen und belohnen oder bestrafen, so wie es die Betreiber der Überwachungsstrukturen festgelegt hätten. Keines der vorgestellten Konzept verschwendete einen Gedanken daran, ob Überwachungsinfrastrukturen auch problematisch sein könnten. Sie waren einfach da, das war hinzunehmen. China setzt das ein – warum sollen wir das nicht auch machen, lieber eigene Überwachung aufbauen als anderen diesen Informationsvorsprung überlassen. 

Technische Einflüsse auf Soziales einfach hinnehmen – das führt zu einem neuen Techno-Determinismus, der ein Problem wird. Die Wurzeln des Techno-Determinismus liegen in den 60er Jahren; seine Ausprägungen waren ein paar Untergangsphilosophien und dunkle Science Fiction Filme. Heute aber gibt es weit mehr Möglchkeiten, Techno-Determinismus (also Technologie als bestimmenden Einfluss auf Welt und Gesellschaft) auch Praxis werden zu lassen.  

Staub ist besser als heiße Luft

Diskussionsformate zur Zukunft, Gegenwart oder Innovationslage von Medien zeichnen sich oft dadurch aus, dass möglichst nicht jene diskutieren, die mitten drin daran arbeiten. Menschen aus Marketing, Beratung und Forschung sind gern mit Tipps bei der Hand, eine andere Art der Diskussion lädt gern Projekte aus der Rändern der Branche ein, von dort, wo Innovation vermutet wird. 

Dann spalten sich oft die Vorstellungen von Innovation. Markt und kommerzielle Medien suchen geschäftlich nachhaltige Innovationen, die helfen, Redaktionen zu finanzieren. Öffentlich rechtliche und Special Interest-Medien-StartUps suchen Innovationen, die ihnen mehr Freude an der Arbeit verschaffen, Nischenrelevanz und in Summe Reichweite bringen. Daneben entwickeln sich noch Geschöftsmodelle, die sich als Verlage bezeichnen, tatsächlich aber Agenturarbeit als Dienstleister für kommerzielle Auftraggeber machen – das ist Corporate Publishing.

Die unterschiedlichen Innovationsbegriffe sind ein Problem, wenn sie auf die Branche angewendet werden sollen. Die oft als Tanker bezeichneten klassischen oder etablierten Medienhäuser haben in der Regel kein Reichweitenproblem. Die Marken sind bekannt, beliebt, verhasst.

Das Problem liegt bei den Einnahmen.

Viel diskutierte Innovationen beschäftigen sich mit Reichweiten, jungen Zielgruppen, Plattformpräsenz und ähnlichen Schwerpunkten. 

Ein Problem, dem sie sich noch nicht stellen müssen: An der Paywall zerfällt Reichweite zu Staub. Aufmerksamkeit und Emotion sind flüchtig, sie können einen Aboabschluss unterstützen, aber sie reichen nicht aus. Und: Umwegrentabilität über Bekanntheit, Querfinanzierungen oder Hoffnungswerte reichen nicht mehr aus. Das funktioniert in selbstreferentiellen öffentlich-rechtlichen Universen oder in StartUps in Stadien der Selbstausbeutung und des Zweckoptimismus. Diese beiden Bereiche gehen oft Zweckehen ein, in denen der eine für Taschengeld, der andere für Innovationsaura zuständig ist. Das funktioniert nicht, wo Nutzen und Leistbarkeit im Vordergrund stehen. Wo die Frage im Vordergrund steht, welche redaktionellen Geschäftsmodelle entwickelt und verbessert werden können, stellt sich schnell heraus: Staub ist substantieller als heiße Luft. 

Digitale Geschäftsmodelle sind ein Groschengeschäft. Innovation ist auch in Groschengeschäften nützlich, entscheidend sind aber profane Kriterien. Ich denke da oft an running gags von vor 20 Jahren, aus der Blütezeit der Web 2.0-Euphorie, als Techies am Fließband sehr coole Dinge unter die Leute brachten, die alle gut fanden – die aber nicht im entferntesten ein Produkt waren. Ungefähr dort steht die Medienbranche bei Paid Content heute, und man kann durchaus von den Tech-Erfahrungen lernen und ein paar Dinge überspringen. 

Ich danke meinem Kanzler

Es gehört zu meinen großen Schwächen, Menschen ernst zu nehmen. Wenn mir jemand sagt: „Ich möchte dieses und jenes tun“, dann ist das für mich eine verbindliche Absichtserklärung. Es ist gleichbedeutend mit: „Ich habe darüber nachgedacht, ich habe einen Entschluss gefasst, ich habe auch darüber nachgedacht, es nicht zu tun, es blieb für mich aber die attraktivere und praktikablere Entscheidung, es doch zu tun, und ich werde es in nächster Zeit tun. Falls ich es doch nicht tue, dann sind relevante Gründe aufgetreten, die dagegen sprechen, und ich werde jene, für die es relevant ist, ob ich dieses oder jedes tue, davon in Kenntnis setzen, dass ich jetzt dieses oder jenes nicht tun werde.“ Meist bedeutet es allerdings eher: „… vielleicht aber auch nicht.“ 

Für mich ist diese Schwäche mit hohem Energieaufwand verbunden. 

Ich muss mich davon abhalten, mich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, mein Gegenüber würde tatsächlich dieses oder jenes tun. Ich muss mir verbieten, den Gedanken weiterzuspinnen oder potenzielle Zeitpläne und eventuelle Folgen zu präzisieren. Ich muss heimlich das Mantra „Kümmere dich nicht darum“ rezitieren, ohne in Haltung und Miene „Mir is wurscht“ oder „Ich weiß, dass du Müll redest“ auszudrücken. 

Und das ist harmlos. Mittlerweile bin ich 50 und ich weiß, wie ich reagiere und was ich von wessen Ankündigungen zu halten habe. 

Früher war das noch anstrengender. Wenn mir Teenager andere Teenager von vermeintlichen Großtaten erzählt haben, von durchfeierten Nächten, getesteten Drogen und abenteuerlichen Erlebnissen erzählten, dann war das für mich bare Münze. Mehr noch: Ich musste das überbieten. Das war anstrengend. Und lustig. Und manchmal gefährlich. Jedenfalls aber erkenntnisreich. In doppelter Hinsicht: Ich lernte viel während meiner Teenie-Eskapaden. Und ich lernte am Staunen der anderen, wenn ich von diesen durchblicken ließ, wie deren Erzählungen einzustufen waren. Nämlich im Reich der Phantasie und der nicht näher spezifizierten Willensbekundungen. 

Das war anstrengend. 

Insofern bin ich Karl Nehammer dankbar. Er trank ein Krügel auf Ex für die Medien – was für ein starker Typ! Was für ein verantwortungsloser Wappler, ein schlechtes Vorbild für die alkoholgefährdeten Landsleute! Was für ein seltsamer Anschluss an seine Prophezeiung, Menschen hätten ohnehin nur noch die Wahl zwischen Alkohol und Psychopharmaka! Was für ein Weichei – das angesichts mancherorts hochgezogener Augenbrauen umgehend verlautbaren ließ: Es war gar kein Bier. Es war nicht einmal ein saurer Radler. Es waren zwei Zentimeter Bier, gemischt mit Wasser. 

Kinder aller Altersstufen, denkt immer daran: Er hat euch belogen. Alle coolen Hunde, die starke Sprüche, weitreichende Gesten oder relevante Images zelebrieren, belügen euch. Lacht über sie, ignoriert sie, überbietet sie. Aber tut es um euretwillen, für euren Spaß. Nicht um deretwillen. 

Dipo Faloyin, Afrika ist kein Land

Ich kann die Begeisterung über dieses Buch nicht ganz nachvollziehen. Faloyin tritt an, um Pauschalierungen zu entkräften – und flieht dann selbst sehr schnell und aerodynamisch pointiert über den ganzen Kontinent. Er möchte Brüche und Nuancen zeigen, bügelt dann aber auch wieder zahlreiche Zwischentöne platt. Wer sich ein wenig mit Geschichte und Politik einiger afrikanischer Länder beschäftigt hat, erfährt wenig Neues und vermisst eher sogar manches. Wer sich dem Thema mit Vorurteilen nähert, wird sie bestätigt finden – alles irre Diktatoren. 

Dennoch ist so ein Buch, leicht fasslich geschrieben, offenbar dringend notwendig. Es vermittelt keinen Sinn für Politik, Geschichte und Kultur. Aber es könnte jene, für die Europas Nachbarkontinent ein blinder Fleck ist, auf die Idee bringen, dass man dort auch recht normal leben kann, sogar mit Internet, Mode oder Kunst. Auch wenn man nach der Lektüre vielleicht nur insofern schlauer ist, als man nicht mehr nur glaubt, dass AfrikanerInnen permanent singen und tanzen oder verhungern. Man weiss dann auch, dass viele von ihnen über das richtige Rezept für Jollof-Reis streiten (den besten gibt es übrigens in Ghana. Auch wenn Nigerianer am lautesten sind und Senegalesen historisch belegbare Erfinderansprüche stellen können).

Seitenhiebe auf die (Selbst)Entwicklungshilfeindustrie können nicht oft genug verteilt werden. Die schädliche Wirkung der permanenten Opferbilder des Kontinents in den Medien von Hilfsorganisationen muss immer wieder klargestellt werden. Und tatsächlich sind einige der lustigsten Instagram- und TikTok-Accounts kenianischer oder nigerianischer Herkunft.

Wer gar keine Vorstellung davon hat, was ausser leiden man in Afrika tun könnte, wird mit diesem Buch gut bedient sein. 

Wer ein wenig darüber hinaus ist, wird sich recht langweilen und sollte eher Howard Frenchs „Afrika“ lesen. French gräbt tief bis in spätmittelalterliche Geschichte, zeigt afrikanische Entdecker, Händler und Kämpfer und tritt vehement dafür ein, die aktive Rolle des Kontinents in der Geschichte begreifbar zu machen.

Man muss sowieso einfach beide Bücher lesen.