Staub ist besser als heiße Luft

Diskussionsformate zur Zukunft, Gegenwart oder Innovationslage von Medien zeichnen sich oft dadurch aus, dass möglichst nicht jene diskutieren, die mitten drin daran arbeiten. Menschen aus Marketing, Beratung und Forschung sind gern mit Tipps bei der Hand, eine andere Art der Diskussion lädt gern Projekte aus der Rändern der Branche ein, von dort, wo Innovation vermutet wird. 

Dann spalten sich oft die Vorstellungen von Innovation. Markt und kommerzielle Medien suchen geschäftlich nachhaltige Innovationen, die helfen, Redaktionen zu finanzieren. Öffentlich rechtliche und Special Interest-Medien-StartUps suchen Innovationen, die ihnen mehr Freude an der Arbeit verschaffen, Nischenrelevanz und in Summe Reichweite bringen. Daneben entwickeln sich noch Geschöftsmodelle, die sich als Verlage bezeichnen, tatsächlich aber Agenturarbeit als Dienstleister für kommerzielle Auftraggeber machen – das ist Corporate Publishing.

Die unterschiedlichen Innovationsbegriffe sind ein Problem, wenn sie auf die Branche angewendet werden sollen. Die oft als Tanker bezeichneten klassischen oder etablierten Medienhäuser haben in der Regel kein Reichweitenproblem. Die Marken sind bekannt, beliebt, verhasst.

Das Problem liegt bei den Einnahmen.

Viel diskutierte Innovationen beschäftigen sich mit Reichweiten, jungen Zielgruppen, Plattformpräsenz und ähnlichen Schwerpunkten. 

Ein Problem, dem sie sich noch nicht stellen müssen: An der Paywall zerfällt Reichweite zu Staub. Aufmerksamkeit und Emotion sind flüchtig, sie können einen Aboabschluss unterstützen, aber sie reichen nicht aus. Und: Umwegrentabilität über Bekanntheit, Querfinanzierungen oder Hoffnungswerte reichen nicht mehr aus. Das funktioniert in selbstreferentiellen öffentlich-rechtlichen Universen oder in StartUps in Stadien der Selbstausbeutung und des Zweckoptimismus. Diese beiden Bereiche gehen oft Zweckehen ein, in denen der eine für Taschengeld, der andere für Innovationsaura zuständig ist. Das funktioniert nicht, wo Nutzen und Leistbarkeit im Vordergrund stehen. Wo die Frage im Vordergrund steht, welche redaktionellen Geschäftsmodelle entwickelt und verbessert werden können, stellt sich schnell heraus: Staub ist substantieller als heiße Luft. 

Digitale Geschäftsmodelle sind ein Groschengeschäft. Innovation ist auch in Groschengeschäften nützlich, entscheidend sind aber profane Kriterien. Ich denke da oft an running gags von vor 20 Jahren, aus der Blütezeit der Web 2.0-Euphorie, als Techies am Fließband sehr coole Dinge unter die Leute brachten, die alle gut fanden – die aber nicht im entferntesten ein Produkt waren. Ungefähr dort steht die Medienbranche bei Paid Content heute, und man kann durchaus von den Tech-Erfahrungen lernen und ein paar Dinge überspringen. 

Ich danke meinem Kanzler

Es gehört zu meinen großen Schwächen, Menschen ernst zu nehmen. Wenn mir jemand sagt: „Ich möchte dieses und jenes tun“, dann ist das für mich eine verbindliche Absichtserklärung. Es ist gleichbedeutend mit: „Ich habe darüber nachgedacht, ich habe einen Entschluss gefasst, ich habe auch darüber nachgedacht, es nicht zu tun, es blieb für mich aber die attraktivere und praktikablere Entscheidung, es doch zu tun, und ich werde es in nächster Zeit tun. Falls ich es doch nicht tue, dann sind relevante Gründe aufgetreten, die dagegen sprechen, und ich werde jene, für die es relevant ist, ob ich dieses oder jedes tue, davon in Kenntnis setzen, dass ich jetzt dieses oder jenes nicht tun werde.“ Meist bedeutet es allerdings eher: „… vielleicht aber auch nicht.“ 

Für mich ist diese Schwäche mit hohem Energieaufwand verbunden. 

Ich muss mich davon abhalten, mich mit der Vorstellung auseinanderzusetzen, mein Gegenüber würde tatsächlich dieses oder jenes tun. Ich muss mir verbieten, den Gedanken weiterzuspinnen oder potenzielle Zeitpläne und eventuelle Folgen zu präzisieren. Ich muss heimlich das Mantra „Kümmere dich nicht darum“ rezitieren, ohne in Haltung und Miene „Mir is wurscht“ oder „Ich weiß, dass du Müll redest“ auszudrücken. 

Und das ist harmlos. Mittlerweile bin ich 50 und ich weiß, wie ich reagiere und was ich von wessen Ankündigungen zu halten habe. 

Früher war das noch anstrengender. Wenn mir Teenager andere Teenager von vermeintlichen Großtaten erzählt haben, von durchfeierten Nächten, getesteten Drogen und abenteuerlichen Erlebnissen erzählten, dann war das für mich bare Münze. Mehr noch: Ich musste das überbieten. Das war anstrengend. Und lustig. Und manchmal gefährlich. Jedenfalls aber erkenntnisreich. In doppelter Hinsicht: Ich lernte viel während meiner Teenie-Eskapaden. Und ich lernte am Staunen der anderen, wenn ich von diesen durchblicken ließ, wie deren Erzählungen einzustufen waren. Nämlich im Reich der Phantasie und der nicht näher spezifizierten Willensbekundungen. 

Das war anstrengend. 

Insofern bin ich Karl Nehammer dankbar. Er trank ein Krügel auf Ex für die Medien – was für ein starker Typ! Was für ein verantwortungsloser Wappler, ein schlechtes Vorbild für die alkoholgefährdeten Landsleute! Was für ein seltsamer Anschluss an seine Prophezeiung, Menschen hätten ohnehin nur noch die Wahl zwischen Alkohol und Psychopharmaka! Was für ein Weichei – das angesichts mancherorts hochgezogener Augenbrauen umgehend verlautbaren ließ: Es war gar kein Bier. Es war nicht einmal ein saurer Radler. Es waren zwei Zentimeter Bier, gemischt mit Wasser. 

Kinder aller Altersstufen, denkt immer daran: Er hat euch belogen. Alle coolen Hunde, die starke Sprüche, weitreichende Gesten oder relevante Images zelebrieren, belügen euch. Lacht über sie, ignoriert sie, überbietet sie. Aber tut es um euretwillen, für euren Spaß. Nicht um deretwillen. 

Dipo Faloyin, Afrika ist kein Land

Ich kann die Begeisterung über dieses Buch nicht ganz nachvollziehen. Faloyin tritt an, um Pauschalierungen zu entkräften – und flieht dann selbst sehr schnell und aerodynamisch pointiert über den ganzen Kontinent. Er möchte Brüche und Nuancen zeigen, bügelt dann aber auch wieder zahlreiche Zwischentöne platt. Wer sich ein wenig mit Geschichte und Politik einiger afrikanischer Länder beschäftigt hat, erfährt wenig Neues und vermisst eher sogar manches. Wer sich dem Thema mit Vorurteilen nähert, wird sie bestätigt finden – alles irre Diktatoren. 

Dennoch ist so ein Buch, leicht fasslich geschrieben, offenbar dringend notwendig. Es vermittelt keinen Sinn für Politik, Geschichte und Kultur. Aber es könnte jene, für die Europas Nachbarkontinent ein blinder Fleck ist, auf die Idee bringen, dass man dort auch recht normal leben kann, sogar mit Internet, Mode oder Kunst. Auch wenn man nach der Lektüre vielleicht nur insofern schlauer ist, als man nicht mehr nur glaubt, dass AfrikanerInnen permanent singen und tanzen oder verhungern. Man weiss dann auch, dass viele von ihnen über das richtige Rezept für Jollof-Reis streiten (den besten gibt es übrigens in Ghana. Auch wenn Nigerianer am lautesten sind und Senegalesen historisch belegbare Erfinderansprüche stellen können).

Seitenhiebe auf die (Selbst)Entwicklungshilfeindustrie können nicht oft genug verteilt werden. Die schädliche Wirkung der permanenten Opferbilder des Kontinents in den Medien von Hilfsorganisationen muss immer wieder klargestellt werden. Und tatsächlich sind einige der lustigsten Instagram- und TikTok-Accounts kenianischer oder nigerianischer Herkunft.

Wer gar keine Vorstellung davon hat, was ausser leiden man in Afrika tun könnte, wird mit diesem Buch gut bedient sein. 

Wer ein wenig darüber hinaus ist, wird sich recht langweilen und sollte eher Howard Frenchs „Afrika“ lesen. French gräbt tief bis in spätmittelalterliche Geschichte, zeigt afrikanische Entdecker, Händler und Kämpfer und tritt vehement dafür ein, die aktive Rolle des Kontinents in der Geschichte begreifbar zu machen.

Man muss sowieso einfach beide Bücher lesen.

Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang

Feyerabend wehrt sich gegen eines der ihm am häufigsten zugeschriebenen Zitate, lustiger weise schon bevor es ihm noch flächendeckend zugeschrieben werden konnte: Er distanziert sich von “anything goes”. Das sei die Diagnose zur Bewertung unterschiedlicher konkurrierende Theorien, kein Aufruf, jegliche Methode über Bord zu werfen. 

Feyerabends Text ist weniger Programmatik als eine detaillierte Analyse der großen Wendungen in der Astronomie. Wie konnte sich ein heliozentrisches Weltbild durchsetzen; hätte Galilei mit als heute wissenschaftlich anerkannten Methoden seine Beobachtungen etablieren können? Eine der zentralen Rahmenbedingungen traditioneller Wissenschaft hätte das verhindert. Die Konsistenzbedingung verlangt, dass neue Forschung mit anerkannten Theorien übereinstimmen müsse – das rettet alte Theorien und verhindert neue. Ähnliche Schwierigkeiten in der Erkenntnis und Bewertung von Neuem haben Carnap und Bar Hillel in ihrem Informationsparadoxon formuliert. Für Feyerabend ist das eine der großen Hürden beim Versuch, neues durchzusetzen.

Eine zweite Hürde bauen sogenannte natürliche Interpretationen auf. Das sind Annahmen und Vorurteile, die so etabliert sind, dass sie unhinterfragt angewendet werden. Sie nehmen aber nicht nur Zusammenhänge vorweg, deren Erkenntnis auch neu hergeleitet werden könnte, sie beruhen auch auf einem Gerüst von Annahmen und Voraussetzungen, die viel weitreichendere Bedingungen mit sich bringen. Interpretationen funktionieren nur vor einem ganzen Horizont von Gerüsten und Vorentscheidungen – und es ist auch nicht möglich, hinter diese Gerüste und Vorentscheidungen zu kommen.

Feyerabend kritisiert Bacon und dessen Vorstellung, mit wissenschaftlicher Analyse den Schleier dieser Vorentscheidungen lüften zu können. Eine modernere Anwendung dieser Kritik ist die Skepsis gegenüber dem Glauben, Bias in Algorithmen und Data Science Methoden beseitigen zu können. Gerade weil Bias nicht eliminiert werden kann und weil der Schleier nicht entfernt werden kann, gilt “anything goes” – als neutrale und beobachtende Diagnose, nicht als auffordernde Programmatik.

Kritik und die Hervorhebung von natürlichen Interpretationen führen zu neuen natürlichen Interpretationen, die ihrerseits wieder durch Gewohnheit versteckt werden. Dem liegen Entscheidungen zugrunde – und diese Abläufe wiederum erinnern an Dewey und dessen Beharren darauf, dass stets, in jedem Forschungs- und Erkenntnisschritt, Entscheidungen notwendig sind. Allerdings, meint Dewey, gebe es eben manche Entscheidungen, die das Bewusstsein betäuben, dass Entscheidungen getroffen wurden.

Welchen Regeln folgen wissenschaftliche Entscheidungen? Für Feyerabend sind es keine wissenschaftlichen Regeln; Entscheidungen zwischen konkurrierenden Theorien werden mit Propaganda und psychologischen Tricks herbeigeführt. Feyerabend diskutiert das wieder an Galilei; Harry Collins lieferte – meines Wissens ohne auf Feyerabend zu verweisen – in seiner Diskussion der Wieder- bzw. Nichtentdeckung von Gravitationswellen einen Beleg dafür, wie sehr psychologische Tricks hochwissenschaftliche Konkurrenzen entscheiden. 

In Collins Beispiel waren es Konkurrenz und Macht, die Tricks auf den Plan riefen, für Feyerabend sind es auch Inkommensurabilitäten zwischen verschiedenen Kosmologien. Es gibt nicht immer eine Basis, auf der man sich überhaupt verständigen könnte. 

Theorien werden über Interpretationen entschieden, weniger über Fakten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Fakten uns für Feyerabend auch eher in Interpretationen begegnen. Zuletzt verweist er auf seine Dissertation, in der er sich auf die Suche nach dem “Gegebenen” machte und zu dem Entschluss kam: “Das ‘Gegebene’ ist phänomenologisch nicht auffindbar.”

Nicht zuletzt deshalb lese ich Feyerabends Methodenkritik heute auch als Kritik an neu eingeforderter Wissenschaftsorientierung, an Technikgläubigkeit und and der Überschätzung von Daten als neue Orientierung gebende Universalmythologie einer spätmodernen Welt. Nichts davon – Wissenschaft, Technik, Daten – funktioniert per se und ohne sich auf ein Beziehungsgeflecht zu stützen, dessen Wurzeln mitunter weit entfernt von ihren eigenen sachlich neutralen Ansprüchen sind. Vieles davon stützt sich auf Voraussetzungen, die es eigentlich ablehnt. Darauf hinzuweisen, das ist die Essenz von “anything goes”.

Anne Graefer: Media and the Politics of Offence

Ein ganzer medien- und politikwissenschaftlicher Sammelband widmet sich dem Thema der Beleidigung. Beleidigungen treten dabei als Geschäftsmodell auf oder als Eintrittskarte in liberale Demokratien; Zensur wird zum Garanten der Möglichkeit des Zusammenlebens – und erschreckend oft zur Selbstverständlichkeit. Man darf nicht alles sagen und zeigen dürfen, sind sich erstaunlich viele AutorInnen gleich einig. 

Beleidigungen sind aus zeitgenössischer kritischer Perspektive Machtinstrument. Wer Standards festlegen kann, kann beleidigen und damit Macht ausüben. Umgekehrt sind Beleidigungen als Mittel, sich Gehör zu verschaffen, auch Instrumente der Bottom Up-Kritik. Als Beispiel dafür wird etwa Trump-Kritik diskutiert. 

Die meisten Beiträge siedeln Beleidigungen in Beziehungsräumen an, in denen Offence Givers und Offence Takers notwendig sind, damit Beleidigung effektiv stattfindet. Nachdem Beleidigung beim Offence Taker ankommt, entscheidet auch dieser darüber, was Beleidigung ist. Das heisst auch: Die Ausrede oder Entschuldigung, es wäre nicht so gemeint gewesen, greift in modernen Beleidigungskonzepten nicht. Damit rücken auch Minderheiten in den Blickpunkt. Beleidigend ist, was als beleidigend empfunden wird.

Trotzdem bleibt die Frage, ob Beleidigungen vermieden werden müssen. Das wird zusehendes zum Generationenthema: Ältere sprechen sich für Beleidigungstoleranz aus, Jüngere sind dagegen. Eine andere Trennlinie verläuft über Machtfragen. Beleidigungen nach oben sind zuspitzendes, aber legitimes Mittel der Kritik, Beleidigungen von oben sind ausschliessender und nicht zu tolerierender Machtmissbrauch. 

Legitime Fälle von Beleidigungen erschweren es, generelle Regeln zum Umgang mit und zur Vermeidung von Beleidigungen zu formulieren. Naheliegend wäre: Beleidigungen sind generell zu vermeiden. Das diskreditiert allerdings viele Kritikformen, verbietet abweichende Meinungen, die von herrschenden Lehren als beleidigend empfunden werden (man denke etwa an Religionskritik) und zwingt zu verlogenem Konsens. Die Idee der respektvollen Konsensorientierung ist schön – aber wenn diese Haltung nicht nur in Sinn von Rücksicht von Stärkeren eingefordert wird, wenn Konsensorientierung auch von Schwächeren und Minderheiten verlangt wird, ist sie ein Unterdrückungsinstrument.

Die Idee, sozialen Seelenfrieden an die Spitze zu stellen, wirft die Frage auf, wessen Friede es sein soll. Und der Zwang. zustimmen zu müssen. Konsens finden zu müssen, kann eine schlimmere Niederlage sein, als überstimmt und gezwungen zu werden, aber nach wie vor dagegen sein zu dürfen. – Dieser Zwang ist grausamer als oft kritisierte neoliberale Psychopolitik.

Als Beispiele für Offence werden auch Bilder von Grausamkeiten in Medien diskutiert. Mit der Verbreitung von Social Media stellen Autoren den Übergang von einer economy of decency and taste zu einer economy of display fest – wo User selbst entscheiden, wir mehr gezeigt. Auch wenn es umgekehrt User sind, die sagen; sie entscheiden selbst, was sie ansehen, und sie sanktionieren unerwünschte Bilder mit Nichtnutzung. Hier ist – zwischen den Zeilen kann man das lesen – weniger die tatsächliche Darstellung entscheidend dafür, was als beleidigend empfunden wird, sondern die Frage, wer wie darüber entscheidet, was warum gezeigt wird.

Bemerkenswert ist die große Bandbreite der potenziellen Beleidigungen oder Kränkungen in den verschiedenen Beiträgen. Zum Teil liegt das wohl daran, dass „Offence“ ein weiter gefasster Sammelband ist, der Beleidigung, Kränkung, Verstörung und andere unangenehme Empfindungen abdeckt. So wird etwa auch diskutiert, wie „offensive“ die Netflixserie „Crazy Ex Girlfriend“ ist. Die Protagonistin stolpert von einer peinlichen Szene ins nächste Fettnäpfchen. Ausgelöste Emotionen sind je nach Empfinden Fremdscham, Mitleid, oder Gedanken an die eigenen ähnlichen Unzulänglichkeiten. All das kann offensive sein, all das erfordert möglicherweise Triggerwarnungen.

Deren Notwendigkeit wird ebenfalls in einigen Beiträgen diskutiert. Die Triggerwarninganalyse scheint ein recht neues Feld zu sein, das noch keine besonders starken Querverbindungen entwickelt hat. So ist es recht absurd, wenn Trigger als „Offense“ so weit gefasst werden, dass Texte, Bilder und Menschen gleichermaßen Trigger sein können. In einem der Beiträge etwa wird infrage gestellt, ob man tatsächlich von einem bloßen Körper getriggert werden könne, ob nicht vielmehr Texte oder Bilder viel stärkere Trigger wären. Diese Diskussion bezieht sich auf Transmenschen und die Frage, ob Frauen tatsächlich durch Self ID von Männern als Frauen offended sein könnten. – Ich denke, das ist ein Hinweis darauf, dass weder das Konzept des Triggers noch das der Offence hier gut abgegrenzt sind. Möglicherweise ist es auch wieder ein Hinweis darauf, dass es tolerierte und nicht tolerierte Kränkungen oder Beleidigungen gibt. Die Frage der Toleranz ist nicht von der tatsächlichen Handlung abhängig, sondern vom sozialen Machgefüge, in dem diese Handlung stattfindet.

Offence, das ist ein anderer nicht ganz offensichtlicher Aspekt, kann auch passiv begabgen werden. Es kann beleidigend sein, etwas nicht zu erwähnen, eine bestimmte Perspektive auszulassen und nicht ausreichend auf Diversity zu achten. Auch dabei zählt weniger die Sache als die Beziehung. 

Das trifft auf alle Spielarten von Offence zu, zieht sich durch viele Analysen und ist nicht wirklich eine neue Erkenntnis oder eine, die sich vorrangig auf das Beleidigungsthema anwenden lässt. Trotzdem ist der Sammelband ein spannender, oft auch anstrengender Streifzug durch eine Reihe neuer Empfindsam- und Empfindlichkeiten.

Jack Mapanje: And Crocodiles are Hungry at Night

Prison Memoirs werden auf „And Crocodiles are hungry at night“ als eigenes im Barcode codiertes Genre geführt. Jack Mapanje beschreibt das Ende der jahrzehntelangen Diktatur in Malawi, als es eine realistische Option für politische Gefangene war, von Krokodilen gefressen zu werden. Mapanje verbrachte diese Jahre – in seinem Fall fast vier – selbst als politischer Gefangener ohne Anklage, ohne Prozess und ohne andere Rechtsgrundlage. 

Malawi wurde bis in die frühen 90er Jahre von Hastings Banda regiert. Banda, der in England Medizin studiert hatte, war, wie viele politische Führer der ersten Jahre nach der Kolonialzeit, schnell vom Hoffnungsträger zum Despoten mutiert. Das lag gar nicht nur an ihm, sondern an einem schnell entstandenen Netzwerk rund um seine Geliebte und deren Verwandte, in dem letztlich kaum noch jemand die Kontrolle hatte – aber jeder einen Grund fand, im anderen eine Bedrohung zu sehen. Für Menschen bedeutete das: Sowohl Kritik an Banda war gefährlich als auch Nähe, denn wer zu erfolgreich war oder Respekt und Aufmerksamkeit des Diktators hatte, wurde zur Bedrohung für dessen Netzwerk.

Mapanje beschreibt diese Ausweglosigkeit indirekt über die Ratlosigkeit der Polizeibehörden, die auch nicht wissen, warum er eingesperrt wurde und das offen sagen, über Gefängniswärter, die teils Tyrannen, teils mitleidige Kollaborateure sind, über andere Häftlinge, die ratlose Leidensgenossen oder misstrauische Kritiker sind – kaum jemand findet in diesem Netzwerk aus Neid, Misstrauen und Angst seinen Platz.

Wie in vielen Diktaturen schuf Banda neben Polizei und Militär eine Reihe weiterer Unterdrückungsapparate, besonders berüchtigt waren die Young Pioneers, eine Schlägertruppe wie die Interahamwe, die in Ruanda während des Genozids zu gefürchteten Mördern wurden.

Mapanje beschreibt Unterhaltungen mit Polizisten, die selbst in ständiger Angst vor anderen „higher authorities“ lebten. 

An diesem Trupps und Organisationen vorbei empfahl der nationale Polizeikommandant immer wieder Mapanjes Freilassung. Banda lehnte sie immer wieder ab. 

Mapanje, der einige Jahre vor seiner Verhaftung einen als kritisch-politisch beurteilten Gedichtband veröffentlicht hatte, fand viel Beachtung über den PEN und andere Netzwerke; er wurde in Abwesenheit mit Preisen ausgezeichnet, die stellvertretend Größen wie Nobelpreisträger Wole Soyinka entgegennahmen. Harold Pinter demonstrierte für seine Freilassung, die Universität York bot ihm Jobs an – ob diese internationalen Aktionen oder die Empfehlungen der Polizei ausschlaggebend für die Freilassung waren, bleibt ebenso im Dunkeln wie die eigentlichen Gründe der Verhaftung. 

Auch nach der Freilassung zeigte sich die Komplexität der politischen Lage. Banda hatte Mapanje zugesagt, er könne in seinen Job an der Universität zurückkehren. Dort – irgendwo an der Universität, unter den Verwandten von Bandas Geliebter, musste das Komplott gegen Mapanje seinen Ausgang genommen haben – sabotierte man die Anordnungen des Diktators. 

Mapanje nahm den Job in York an, auch seine Ausreise scheiterte fast trotz der von Banda bewilligten Reisefreiheit. 

Mapanjes Memoiren sind ein Baustein, um Diktaturen, Widerstand und die Ratlosigkeit den für sich genommen kleinen, in Summe aber unlösbaren Problemen gegenüber kennenzulernen. Der Text erzählt ohne eigentlich Höhepunkte, ohne besondere Spannung dahin – aber trotzdem will man weiterlesen. Und erst nach den letzten Seiten setzt sich die eigentliche große Frage fest: Wir lebt es sich mit der Ungewissheit darüber, warum und auf wessen Betreiben genau man fast vier Jahre im Gefängnis verbrachte?

Die Frage beantwortet Mapanje nicht. Aber er lebt heute noch im britischen Exil.

Leo Gilbert: Seine Exzellenz, der Android

Das Buch ist über 100 Jahre alt – im Wien des Jahres 1907 versetzt künstliche Intelligenz die Gesellschaft in Angst und Schrecken. Der Wissenschaftsjournalist Leo Gilbert erzählt die Geschichte eines armen Wissenschaftlers, der mit Robotern experimentiert und dem tatsächlich der große Wurf gelingt: ein lebensechter Android. Industrielle und Kapitalisten wittern gute Geschäfte. Der Android soll Maskottchen und Werbegag für eine Fabrik werden, diese Rechnung aber ist ohne den Androiden gemacht. Kaum ist er aktiviert, verselbständigt er sich, taucht unter und geht dann seinen eigenen Geschäften nach.

Der Erfinder verzweifelt darüber und wir als Spinner verlacht. 

Gilbert nimmt praktisch alle Ängste, Hoffnungen  und Missverständnisse rund um Künstliche Intelligenz vorweg, die heute wieder so hyperaktiv ventiliert werden. Der superrationale Android ist Rechenkünstler und auf Optimierung gedrillt; er hat kein Herz, also wird er Geschäftsmann. Als kalter Rechner ist er nicht sehr beliebt; nach einem Schlag auf den Kopf verliert er Teile seiner Rechenkapazität – ohne Hirn wird er Politiker.

Gilbert beschreibt die Schaffung künstlicher Intelligenz erstaunlich präzise. Der Android ist etwa auf dem Level einfacher Chatbots, die aus vorgefertigten Bausteinen die passenden wählen und neu kombinieren können. Und so wie sich Generative Künstliche Intelligenz am Durchschnitt orientiert und wiederholt, was alle sagen, ist auch der Android auf Platitüden spezialisiert und sichert sich damit Zustimmung und Bewunderung. Die Witze des Androiden folgen dem gleichen Prinzip: Er verfügt über ein Arsenal vorprogrammierter Witze, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden – das macht ihn zu einem gesellschaftlich kompatiblen amüsanten Gesprächspartner. Der Android kann auf viele Situationen reagieren, in Situationen auf die er nicht vorbereitet ist, reagiert er mit Arroganz.

Die Wiederholungen machen ihn überdies zu einem entschlossenen Zeitgenossen, der weiß was er will und sich durchsetzen kann. Eine seiner fixen Ideen, die ihm sein Erfinder grundsätzlich als Scherz einprogrammiert hat, ist ebenfalls bemerkenswert: Man müsste, erzählt der Android immer wieder gern, zwanzig mittelgroße Zeitungen aufkaufen, mit der Kontrolle über die veröffentlichte Meinung die Regierung vor sich hertreiben und mit der Kontrolle über den Anzeigenmarkt eigene Produkte in den Markt drücken. Oft genug vor Industriellen wiederholt fand der Plan Investoren – und mit der unbeirrbaren Hartnäckigkeit des Androiden Erfolg.

Weil der Android auf alles eine Antwort hat, auf jede Situation vorbereitet ist und sonst mit Unverschämtheit einen Ausweg findet, fällt es seinem Erfinder überaus schwer, mit seiner eigenen Erfindung mitzuhalten. 

Wir haben noch keine Ahnung, was Künstliche Intelligenz alles verändern wird, sagen heute noch Ahnungslose und selbsterklärte Experten gleichermaßen. Im Visionstaumel verzichtet man gern auf Erklärungen und gibt sich stattdessen mit Prophezeiungen ab. Die aufregendsten Visionen müssen dabei am nachhaltigsten verdrängen, wie viel in unserem Alltag jetzt schon auf KI beruht – und wie wenig fremd und bedrohlich sich das anfühlt.

Natürlich wird sich viel verändern. Natürlich hat jede Technologie auch eine Reihe unerwünschter Auswirkungen, oft gerade für jene, die sich am wenigsten ein konkretes Bild davon machen können. 

Dagegen kann es sehr hilfreich sein, sich vor Augen zu halten, welche Visionen schon vor über hundert Jahren auf der Hand lagen.

Das Märchen vom digital innovativen ORF

Das Märchen, der ORF sei eben früher innovativer gewesen als andere Medien, ist schleicht ein falsches Märchen. Viele, die nicht dabei waren, erzählen die Gründungsgeschichte digtialer Medien in Österreich so, als sei orf.at das auf geniale Weise erste Onlinemedium mit einer Fülle von Inhalten, dessen Siegeszug in Reichweitenanalysennur eine logische Folge der visionären journalistischen Innovationskraft sei. 

Das Problem: Der ORF war weder das erste noch das einzige Medium in Österreich, das früh digital experimentierte. Er war nur das einzige Medium, das sich nicht die kommerzielle Sinnfrage stellen musste. Auch die Frage der Kannibalisierung von Umsätzen oder anderen Reichweiten stellte sich nicht. Text-Informationen waren etwas gänzlich anderes als Fernsehen. Auch Bilder waren in den Frühzeiten des Internet noch ein gewichtigtes Ladeproblem.

Umfassende redaktionelle Information im Internet war für den ORF ein willkommener Werbekanal. Für private Medien war das von Anfang eine Gefahr. Schon früh stand die Frage im Raum: Wer soll das Heft kaufen, wenn wir schon alles ins Internet schreiben?

Gehen wir zurück in die späten Neunziger Jahre: News war damals als Wochenmagazin gefürchtet, verachtet und geliebt. Es gab häufig Donnerstage, an denen das Heft Gesprächsstoff lieferte – und es gab früh digitale Gehversuche. Ich erinnere mich, wie wir in der Redaktion diskutiert haben, ob Mailadressen der Redaktion öffentlich sein sollten. Das wirkte nach unliebsamer Nähe, als würde man Fremde zu sich nach Hause einladen. Digitalthemen waren in der Chronik-Redaktion angesiedelt, denn das Internet bestand aus Bombenbauanleitungen und Pornos (und ich als dienstjüngster Chronik-Redakteur bekam alle Digitalthemen umgehängt). Und es gab eine Webseite – mit Buttons, Frames und gifs.

Eine Webseite, auf der auch schon früh die spannenden Geschichten zu lesen waren. „Lesen Sie diese Story in voller Länge und MAILEN Sie uns Ihre Meinung!“

Solange fast noch niemand im Internet war, war das egal. Aber kaum wurde die Webseite wahrgenommen, wurde das ein Problem. 

Daraus entstanden viele interne Diskussionen. Und viele Zwischenphasen, in denen Onlinemedien Tummelplätze für Chat-Nerds, Singelbörsen-User und Moorhuhn-Spieler waren, und in denen das Internet die Müllhalde jener Beiträge war, die es nicht ins Heft geschafft hatten.

Umwege, die sich ein Öffentlich-Rechtlicher, der sich keine Gedanken über sein Geschäftsmodell zu machen brauchte, erspart hat. 

Ein paar Jahre später, in den frühen 2000ern, war der ORF übrigens noch immer nicht die Nummer eins im Internet. Damals war aon.at (mit Ostbahnkurti-Werbung) das führende Onlinemedium Österreichs. Was für ein einzigartiger innovativer Zugang schaffte die Grundlage für diesen Erfolg? Die Seite aon.at war als Browserstartseite auf den CD Roms mit den Internet-Installationspaketen für alle Internet-Accesskunden Österreichs voreingestellt.

Als das Geheimnis um die Browsereinstellungen dann auch für breitere Bevölkerungsschichten keines mehr war (und nachdem die Bemühungen, aon.at als jet2web.net in ein „multimediales horizontales Destinationportal“ zu verwandeln, gescheitert waren), wurde der Platz an der Spitze für orf.at frei. 

Auch bei diesen Entwicklungen steckten private Medien in der Zwickmühle. Während der Jahre rund um 2000, als Telekomunternehmen meinten, sie würden nun die besseren Medienhäuser, boten eben diese Telekomunternehmen schiere Unsummen für redaktionelle Inhalte. Und Zeitungen mussten sich der Frage stellen: Sollten sie sich dem Internet verweigern? Sollten sie ihre Inhalte verkaufen und damit die eigenen Konkurrenz füttern? Sollten sie auf diese Einnahmen verzichten und damit zwei Konkurrenten füttern, nämlich die Telekoms und die anderen Zeitungen, bei denen diese dann einkaufen würden? Oder sollten sie darum kämpfen, die in uninteressante Ablagen verwandelten eigenen Onlineauftritte ernst zu nehmen und Geschäftsmodelle dafür zu entwickeln?

Auch das ist nämlich eine Phase, die dem ORF bis heute erspart blieb: Im eigenen Unternehmen dafür kämpfen zu müssen, dass das mit dem Internet auch mal kommerziell (und nicht nur im Verdrängungswettbewerb um kaum monetarisierbare Reichweite) etwas werden sollte – zu einer Zeit, als Elektronik-Ketten in Österreich online den Umsatz einer halben kleinen Filiale erwirtschafteten, oder als Controller in der Telekom uns Onliner mit großen Augen fassungslos ansahen, wenn wir unsere Umsätze präsentierten: Nein, wir rechneten nicht in Tausendern, wie rechneten in einzeln Euros. Es waren keine 10 Millionen Umsatz im Quartal, es waren zehntausend Euro. Einzelne Euro. 

Reichweite zu erzielen ist weniger das Problem, auch heute noch nicht. Die Hürde zur Bezahlung aber ist nach wie vor sehr hoch. Viele schwadronieren heute gönnerhaft zu ORF Gebühren und Haushaltsabgaben: „Niemand hat die anderen Medien davon abgehalten, slebst tolle Onlineversionen zu entwickeln“. Oder: „Nicht einmal ein Euro im Monat – das muss einem doch allein beste Radiosender der Welt einfach wert sein.“  

Ich möchte all diese Überzeugten gern einladen, sich dem Realitätsscheck zu stellen. Nicht über Umfragen, nicht über Berechnungen, sondern über Geld. Und nicht nur einmal, sondern über einen längeren Zeitraum – Abonnenten zu gewinnen ist um einiges leichter, als sie zu behalten.

Dann hätten wir wirklich angemessene Vergleichswerte, um Zugkraft, Innovation und Nutzen von Medienmarken gegenüberzustellen.

Die Geschichte von vor 25 Jahren spielt heute nicht mehr wirklich eine Rolle im Zustand der Medienlandschaft. Sie sollte allerdings, wenn sie schon erzählt wird, richtig erzählt werden. Und Reichweiten sind ein Maßstab aus dieser längst vergangenen Zeit, der heute weniger und weniger eine Rolle spielt.

Was sind schon eine Million Gelegenheitsuser gegen hundert aus eigenem Antrieb zahlende Kunden? Die Antwort auf diese Frage wird gerade konkreter.