Falsche Diskurse

Gianni Versace war eben ermordet worden. “Passt”, sagte der Magazinherausgeber. “Wir versuchen eh immer, zwei Covers pro Jahr für diese Zielgruppe zu machen”, erklärte er uns angehenden Jungjournalisten in der Morgensitzung. “Dann haben wir schon unser erstes Homo-Cover für heuer.” Repräsentation,  Empowerment, Identität – das waren damals, 1997, weniger wichtige Themen in der damals größten Wochenzeitschrift Österreichs. Die Zielgruppe war bedient. Oder noch wichtiger: Den Werbekunden konnte erzählt werden, dass die Zielgruppe bedient worden sei.

Homosexualität, Mode, Luxus, Konsumfreude – das gehörte doch zusammen. Oder? 

Heute wirkt das befremdlich. Zuschreibungen von außen gelten als Mikroaggression; wenn sie kommerziellen Hintergrund haben – umso schlimmer. 

Heute nehmen “Zielgruppen” ihre Themen selbst in die Hand, kommunizieren in eigenen Medien oder auf Plattformen an traditionellen Medien vorbei, sie schaffen eigene Galionsfiguren, die als Testimonials auch kommerziell erfolgreich sind und ihre eigenen Geschichten schreiben. – Und das ist vielen dann auch wieder nicht recht. Man muss mit den Menschen reden statt über sie, das ist ein aktuelles Mantra in Minderheitenarbeit, politischer Kommunikation und kommerziellem Marketing. Wenn die Zielgruppen allerdings sprechen, dann ist das rhetorische Schlachtfeld erst recht eröffnet. Dabei ist man allerdings oft weniger in der Sache uneinig, als im Stil und stilbildenden Details. 

Unter anderem steht immer wieder Feminismus in der Kritik. Von Ausverkauf ist die Rede, von Etikettenschwindel , davon, dass aus politischem Anliegen Lifestyle geworden sei. Produkte für Frauen werden nicht mehr der Hausfrau verkauft, die gerade ein paar Minuten Freizeit hat, bevor ER nach hause kommt, sondern der selbstbewussten unabhängigen Frau. Sie kauft nicht mehr, um ihm zu gefallen, sondern um selbst zufrieden zu sein.

Opportunistische Feministinnen

Das sei falsch, wird kritisiert. Das berge die Gefahr der Verflachung und öffne der Vereinnahmung durch das etablierte Patriarchat Tür und Tor. Der politische Kampf müsse immer auch ein Klassenkampf sein, alles andere sei Kosmetik. 

Politische emanzipatorische Ziele nicht-linker Feministinnen? Das sind halbseidene Auswüchse einer vorweggenommenen Unterwerfung. Feminismus ohne Klassenkampf wird als Opportunismus jener diskreditiert, die ihre Schäfchen im Trockenen hätten. 

Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen: Solche Argumente werden aktuell gern mit Hinweisen auf Karl Polanyi untermauert. Polanyi analysierte  soziale Transformationsprozesse und stellte dabei stets gegenläufige Bewegungen zwischen liberalisierenden und protektionistischen Strömungen fest. Polanyis Stärke liegt in dem Argument, Laissez Faire-Kapitalismus als Beispiel einer freien Wirtschaft ohne staatliche Einmischung sei alles andere als die Freiheit von staatlicher Einmischung – es brauche im Gegenteil eine Reihe staatlicher Eingriffe, um die Voraussetzungen für diese Freiheit zu schaffen. Polanyis Schwäche liegt in dem weniger deutlich ausgesprochenen Gegenargument, dass Gemeinschaften und das Soziale betonende Kulturen viel eher ohne Verordnung durch Regeln und Behörden entstehen als die Freiheit betonenden Ordnungen – den Menschen also näher sind. Mit dieser Tendenz hin zum Protektionistischen ist es ein Leichtes,  Argumente für Schutz, Gemeinschaft, Kultur und Zusammengehörigkeit als geradezu natürlich, im Sinn des Menschen und der Menschheit zu kennzeichnen. Aus dieser Perspektive macht es auch Sinn, Feminismus als weiteren Klassenkampf-Schauplatz zu sehen und mit einer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zu kombinieren.

Was bei Polanyi allerdings kaum vorkommt, sind Trennlinien wie Herkunft oder Geschlecht. Emanzipation von sexistischen und rassistischen Ausschlüssen wäre in Polanyis Perspektive nur als Liberalisierung möglich – und damit als Zerstörung jener sozialen Ordnung, die Menschen eigentlich glücklich machen sollte. Feminismus als Zerstörung sozialer Ordnung? Das klingt eher nach den Erkenntnissen einer hyperkonservativen Bibelgruppe als nach linker progressiver Politik. – Das stellte auch die Philosophin Nancy Fraser in ihren Überlegungen, ob Feminismus zwangsläufig antikapitalistisch sein müsse, fest. Die Erzählung, dass liberale Feminismus Unterwerfung sei gerät damit ins Stocken. Umgekehrt müsste sich linke Feminismus fragen lassen, warum Befreiung dem Kollektiv untergeordnet sein soll oder welches Kollektiv hier denn nun entscheidend wäre.

Dummes Volk

Feminismusdebatten sind ein plakatives Beispiel. Das Motiv der falschen Diskurse finden wir heute in vielen weiteren sozialen Auseinandersetzungen: In vielen wohlhabenden Ländern Europas rücken WählerInnen nach rechts, ausländerfeindliche und rassistische Parolen finden sich häufig in ruhigen, reichen Gegenenden, in denen Begegnungen mit fremden Kulturen gar nicht stattfinden. PolitikerInnen machen es WählerInnen recht und setzen auf angriffige, populistische und oft hetzerische Politik. – Was kann man dem schon entgegensetzen, klagen dann jene, die es  anders machen wollen? Es gehe hier ja schon längst nicht mehr um Fakten, das Volk sei williges Opfer populistischer Verführer. Nüchterne PopulismusgegnerInnen scheitern bei ihren Versuchen, andere Politik machen zu wollen, andere pfeifen auf ihre einstigen Ideale und setzen auf linken Populismus – der seinen rechten Vorbildern oft an Rassismus und Sexismus um nichts nachsteht. Dann fordern auch SozialistInnen Integration vor Zuzug oder Vorrang für Eingeborene auf dem Arbeitsmarkt.

Die generelle Erzählung dabei: Man kommt ja nicht anders durch. In den reichsten Ländern sind ökonomische Sorgen der Wohlhabenden kein ernstzunehmendes Thema. Würden sich die Menschen nur darauf besinnen, wie gut es ihnen geht, dann wären sie wohl auch offener – aber derzeit sind sie Opfer ihrer Instinkte, die von gewissenlosen Puppenspielern manipuliert werden. Sie beschäftigen sich mit Statusfragen und kulturell überhöhten  Luxusthemen, statt sich mit Fragen der Menschlichkeit und der besten Lösung für alle zu beschäftigen. Und sie haben relevante ökonomische Fragen wie den Klassenkampf vergessen.

Auch hier sehen wir das Motiv der falschen Diskurse, mit dem Gutmeinende anderen erklären, dass sie falsche Prioritäten setzen. Der Politikwissenschaftler Philip Manow setzt dem die Frage nach einer politischen Ökonomie des Populismus entgegen. Die Kulturalisierungshypothese allein, die den Kulturkampf in jeden Schrebergarten trägt (in dem es gar keine unterschiedlichen Kulturen gibt), sei nicht haltbar. Manow zieht eine Fülle ökonomischer Daten heran, um nach Zusammenhängen in der Entwicklung von populistischer Politik gesteuerten Ländern zu suchen. 

Die vereinfachte  Hypothese aus diesen Analysen: Für die politischen Entscheidungen der Menschen sind oft nicht deren Zukunftserwartungen  ausschlaggebend, anders als man es wohl vermuten würde. Es ist auch gar nicht die Gegenwart, die Entscheidungen am stärksten prägt. Für die Bewertung politischer Szenarien ziehen Menschen offenbar die Vergangenheit heran. Erlebte Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit – auch nur als soziales Phänomen, gar nicht notwendigerweise als persönliches Schicksal – ist hier offenbar relevanter als die Sorge, in naher Zukunft selbst von Arbeitslosigkeit betroffen zu sein. Mit dieser These liefert Manow einen Gegenentwurf zu wütenden alten Männern oder zornigen Globalisierungsverlierern als Erklärmodell für das Wachstum radikaler populistischer Politik. Das Erklärmodell der psychologisierten, kulturalisierten Unzufriedenheit stellt sich als ein anderes Beispiel falscher Diskurse heraus: Den Unzufriedenen vermeintlichen Populismusopfern werden irrationale Instinkte unterstellt – ihre Entscheidungen lassen sich allerdings auf reale Erlebnisse zurückführen. 

Wie kann man nur so unvernünftig sein ..!

Ein Umfeld voll drängender Entscheidungen schafft ein fruchtbares Klima für das Motiv der falschen Diskurse. In besonders plakativer Weise ist das überall dort zu beobachten, wo die Wissenschaft angerufen wird. Ob Klimawandel, Coronavirus oder Krieg: PolitikerInnen, EntscheiderInnen – wichtige Menschen sollen auf “die Wissenschaft” hören, wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Richtlinien, an denen man sich doch problemlos orientieren könnte – und doch läuft aus der Perspektive der kritischen Beobachter nichts so, wie es laufen sollte. Dann hören wir wieder: “Ihr redet vom Falschen”. Unvernunft, Dummheit, Egoismus, Ignoranz – wie kann man angesichts so klarer Tatsachen nur so unvernünftig sein. Ähnlich wie beim Vorwurf des feministischen Ausverkaufs oder bei der Unterstellung irrationaler Ängste in der Politik richtet sich auch hier die Kritik auf ein formales Kriterium: Vernunft, Logik und Daten geben das abstrakte Geländer vor, an dem sich Entscheidungen orientieren sollen. Reale Entscheidungen des praktischen Alltags dagegen laufen nicht so klar: Sie müssen sich mit verworrenen Tatsachen, Wertfragen, nicht ganz klar vorhersehbaren Zusammenhängen und auch noch mit Launen beschäftigen. Das ist unvernünftig. Aber es ist nun mal angemessen. Wissenschaft liefert Antworten auf wissenschaftliche Fragen, nicht auf Problemstellungen des Alltagslebens. Die können mitunter daraus abgleitet werden. Aber streng genommen entscheidet Wissenschaft gar nichts: Sie liefert Tatsachen. Was daraus folgt, wer warum wie reagieren sollte – das steht auf einem anderen Blatt Papier. Und dazu muss man noch gar kein gefinkelter Relativist sein. Im Gegenteil: Abgrenzung ist eine der wichtigsten Eigenschaften wissenschaftlicher Expertise.

Der Wissenssoziologe Harry Collins führt in seinen Arbeiten zu Expertise mehrere Spielarten fachlichen und sachlichen Wissens an, die auf den ersten Blick bald auch den Eindruck strenger Wissenschaftlichkeit erfüllen: Fakten und Zahlen werden präsentiert, Menschen zitieren aus wissenschaftlichen Studien, praktisches Knowhow stützt sich auch auf feste Tatsachen und nicht bloß auf persönliche Vorlieben – aber erfüllt das schon die Kriterien, die wissenschaftliche Zugänge auszeichnen soll? Collins ist skeptisch und führt eine weitere Ebene von Expertise ein; der allgegenwärtige Ruf nach praktisch anwendbarer fundierter Expertise hat seiner Einschätzung nach dem Begriff der wissenschaftlichen Expertise nichts gutes getan und einen eben auch allgegenwärtigen, gemeinplatzhaften Begriff von Expertise erzeugt. Wissenschaftliche Expertise dagegen, die Wissen hervorbringt, Unerwartetes einschätzen kann und auch in unklaren Situationen klare Sicht behält, ist oft weniger schnell mit Empfehlungen und Entscheidungen bei der Hand. Deshalb findet sie auch weniger leicht Gehör als andere Formen von Expertise, wissenschaftliche Expertise konkurriert mit anderen Wissensformen und in dieser Vielfalt der formal gleichwertigen Ansichten gedeiht der Vorwurf der falschen Diskurse besonders gut. 

Harry Collins plädiert angesichts dessen für die Rückkehr des Elfenbeinturms: Expertise und wissenschaftliches Wissen bräuchten Respekt. WissenschaftlerInnen können sich nicht immer, zu jedem Thema und bei jeder Gelegenheit mit jeder anderen Ansicht um die Vorherrschaft in tagesaktuellen Angelegenheiten streiten. Sie wollen sich oft nicht so eindeutig festlegen, wie es der Wunsch nach klaren Entscheidungen erfordern würde. Sie formulieren anders, als es der Wunsch nach Imperativen sinnvoll erscheinen lassen würde.

Das Diskussionsmuster der falschen Diskurse lässt Skepsis wachsen: Wer sich zurückzieht, wird vergessen, wer sich nicht einmischt, und seine Position nicht verteidigt, wird überrannt und ignoriert. 

Im Fall der Wissenschaft und der sachlichen und klaren Entscheidungen mag das besonders tragisch sein (selbst wenn auch die scheinbar sachlichen, neutralen und wertfreien Entscheidungen der Wissenschaft nie so sachlich sind, wie sie gesehen werden möchten – schon das Formulieren einer Fragestellung beruht auf einer Wertentscheidung: Was ist wichtig genug, Gegenstand der Forschung zu sein?). Im Zusammenhang mit den anderen kurz angerissenen Fragestellungen ruft das Motiv der falschen Diskurse eine andere vergessen geglaubte Fragestellung auf den Plan: Es ist die Frage nach Positionskämpfen: Wer spricht von wo aus? Wer beansprucht auf Grund welcher Voraussetzungen welche Autorität? Warum und mit welchen Mitteln wird diese Autorität über andere ausgedehnt?

Wissenschafts- und ExpertInnenkritik war mal ein aufklärerisches und antiautoritäres Projekt, schreibt der Soziologe Alexander Bogner in “Die Epistemisierung des Politischen”. In den Sechziger Jahren richtete sich Kritik gegen Traditionen, auf unklaren Grundlagen beruhende Autoritäten und gegen ignorante Macht, die keine alternativen Ansätze gelten ließ.

Heute ist die unter vorgeblich ähnlichen Vorzeichen geübte Kritik esoterisch und obskur. KritikerInnen und Quer- oder SelbstdenkerInnen nehmen den Namen der Aufklärung für sich in Anspruch und sind in ihrer Kritik dennoch in Form und Inhalt esoterisch: Im Mittelpunkt steht geheimes Wissen, sie behaupten den Zugang zu besonderen Informationen – und sie müssen deshalb voraussetzen, dass Informationen unterdrückt, verheimlicht und manipuliert werden. Dieser doppelt esoterische Schachzug, der gleichzeitig Zugang zu Geheiminformationen behauptet und unterstellt, dass die relevanten Informationen verschwiegen werden, schafft den Freiraum für Kritik. Denn der Vollständigkeitsbeweis ist um einiges schwieriger anzutreten; punktuelle Kritik ist die weitaus leichtere Übung.

Vollständigkeit ist grundsätzlich auch ein Status, den Wissenschaft nicht für sich in Anspruch nimmt. Wissenschaftliches Wissen kristallisiert sich aus einzelnen Beobachtungen oder Ergebnissen in spezifischen Situationen zur reproduzierbaren Ergebnissen in weniger spezifischen Situationen und kann so im Lauf der Zeit ausgedehntere Gültigkeit und die Erklärung von Zusammenhängen für sich beanspruchen – als Information und Wissen sind wissenschaftliche Aussagen aber stets auf konkrete Kontexte und konkrete Fragestellungen unter klar abgegrenzten Rahmenbedingungen bezogen. Wenn dem entgegen Wissenschaft medial gefordert ist, wenn politische oder andere unwissenschaftliche Fragestellungen wissenschaftlich entschieden werden sollen, dann ist das eine Überstrapazierung von Wissenschaft. Das schürt falsche Erwartungen, schafft falschen Druck – und verleitet dazu, Unsinn zu behaupten. Wer sich dazu verleiten lässt, begibt sich selbst in das Fahrwasser des Vorwurfs der falschen Diskurse. Der Vorwurf ist nicht mehr nötig. 

Falsche Diskurse, falsche Schwerpunkte, falscher Stil – all das sind kritische destruktive Taktiken, die eine entscheidende Instanz außerhalb des eigentlichen Themas anrufen. Richtig und falsch ist dann nicht mehr eine Frage der Sache sondern eine Frage sondern eine Angelegenheit eines übergeordneten Wertegerüsts. Das allein ist gar nicht problematisch. Wo soziale, politische oder ethische Fragen debattiert werden, ist es letztlich immer ein externe Bezugsrahmen, der vorgibt, was richtig, akzeptiert oder wünschenswert ist. Über die Wahl dieses Bezugsrahmen kann sogar noch mehr diskutiert werden als über die inhaltliche Ebene – denn hier sind wahr oder falsch weitaus komplexer als in Sachfragen. Problematisch ist, wenn die Wahl des Bezugsrahmens außer Diskussion gestellt werden soll, wenn also eine Seite der anderen vorgeben will, welche Werte, politischen Ideen oder Ziele zu akzeptieren wären – ohne Argumente dazu zuzulassen. – Dann greifen eben nur noch Verbote und Unterstellungen. Und es ist fatal, wenn es diesen gelingt, sich als Notwendigkeiten zu inszenieren. Ich bin eigentlich allergisch auf Philosophen-Zitate, aber dieses ist aktuell tatsächlich eines der relevantesten: „Notwendigkeit ist Aberglaube“, meinte John Dewey, in Europa sträflich unterschätzter Gründungsvater des Pragmatismus.

Bildung, Daten und Evidenz werden uns auch nicht helfen

Sie haben korrekt zitierte Studien bei der Hand. Sie können Daten und Tabellen interpretieren und eigene Visualisierungen erstellen. Sie kennen die relevanten Datenpools, sie können die Insignien wissenschaftlicher Autorität lesen und ausspielen – und sie sind Verschwörungstheoretiker, Impfgegner oder Söldner politischer Kampagnen.

Bildung ist das beste Rezept gegen den Erfolg von Populisten, gegen gesellschaftliche Spaltungstendenzen und hin zu einer friedlicheren Zukunft, in der relevante Probleme gelöst werden können – das ist das Mantra der Optimisten, die sich in allen politischen Sphären finden können. Gebildete Menschen werden bessere Entscheidungen treffen.

Ein großer Teil jener Verschwörungstheoretiker, Impfgegner und geheimen Militärstrategen oder jener vermeintlichen Opfer populistischer Politiker ist allerdings alles andere als ungebildet. Ihre Behauptungen instrumentalisieren wissenschaftliche Studien, argumentieren mit gründlich durchforsteten Datensätzen, erstellen Visualisierungen, kritisieren Informations- und Argumentationslücken in veröffentlichten Unterlagen und fordern die Einhaltung komplexer logischer Zusammenhänge, die die logische Stringenz des Alltags – in dem nicht alles in geordneten Bahnen verläuft – überfordert.

Welche Bildung möchte man jenen Menschen nahelegen, die mühelos auf einem mathematisch-logisch-wissenschaftlichen Instrumentarium spielen?

“Wir müssen besser kommunizieren” – das sagen PolitikerInnen nach Wahlniederlagen. “Wissenschaftskommunikation ist so wichtig”, sagen WissenschaftlerInnen und UniversitätsmanagerInnen und organisieren Veranstaltungen, bei denen als Fruchtfliegen oder Elektronen verkleidete NachwuchsforscherInnen lustige Effekte auf Bühnen demonstrieren. “Wir müssen die Menschen und ihre Sorgen ernst nehmen”, sagen bedächtige VerantwortungsträgerInnen.

All diesen Ankündigungen sind einige Grundsätze gemein:

Erstens sehen sie Defizite beim Kunden, bei den viel strapazierten Menschen da draußen. Sie verstehen das Angebot nicht – also muss es besser kommuniziert werden. Die Option, dass das Angebot nicht interessant ist, wird nicht in Betracht gezogen. Das ist das Zeugen-Jehovas-Prinzip der Kommunikation: Man läutet an irgendeiner Tür und versucht, sein Gegenüber in ein Gespräch über bestimmte Themen zu verwickeln – ohne Rücksicht darauf,  ob der- oder diejenige das will, gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt ist oder vielleicht nur auf die Toilette muss. Die Annahme ist: Wenn sie nur wüssten, wie toll wir sind, dann werden sie uns auch toll finden.

Der zweite gemeinsame Grundsatz: Bestehende Rezepte gelten als Lösungen. Es gibt wenig Grund, sie zu verändern. Das Problem liegt nicht an Ideen und Konzepten, es liegt an den Menschen, die sich nicht ausreichend mit diesen auseinandergesetzt haben.

Ein dritter gemeinsamer Punkt betrifft weitere Unterstellungen an die Zielgruppe: In der Politik heißt es, Menschen entschieden nach kulturellen Gesichtspunkten, nach bloßen Wohlfühlkriterien – deshalb lassen sie sich von xenophobem Marketing beeindrucken, ohne die Konsequenzen von Migration auf das Wirtschaftswachstum zu berücksichtigen. Sie stimmen Law- & Order-Politik zu, ohne problematische soziale Erfahrungen gemacht zu haben. Sie haben zu wenig technisch-mathematisches Knowhow, um technische Abläufe einschätzen zu können, zu wenig Erfahrung mit komplexen abstrakten Zusammenhängen, um wissenschaftliche Aussagen einordnen zu können.

Ein kleiner Einschub dazu: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es solche Gruppen von Menschen gibt. Es ist durchaus zu bezweifeln, ob manche Gruppen von Menschen mit irgendwelchen Botschaften über irgendwelche Kanäle überhaupt erreicht werden können und was aus Inhalten, die sie auf verschlungenen Wegen erreicht haben dann wird. Die Rhetorik vergangener Jahrzehnte, die gerne Massen oder noch lieber “die Masse” instrumentalisiert, ist aber schon durch die simple Tatsache angekratzt, dass die Massen heute selbst reden. Vermeintliche Eliten konnten schon länger vermeintliche Sozialhilfeempfänger  in der sozialen Hängematte denunzieren, die morgens nicht aufstehen. Das Bild ist eine Karikatur. Und die vermeintlichen Sozialhilfeempfänger können heute ihrerseits vermeintliche Eliten karikieren, die schon im Elitekindergarten Elitekontakte knüpfen und nie vor der Herausforderung standen, ein lebensnahes Problem selbst bewältigen zu müssen. Auch in dieser Charakteristik werden sich nur wenige Menschen wiederfinden.

Mehr Menschen haben also mehr Möglichkeiten, Phantombilder von denen da draußen, denen da unten oder denen da oben zu zeichnen – und die Menge dieser Bilder macht die Situation nicht gerade übersichtlicher.

Eines dieser Bilder ist die Legende vom vom Populisten verführten Arbeiter, der gegen seine eigenen Interessen entscheidet. Dazu hat Philipp Manow relevante Ergebnisse geliefert.

Ein anderes Bild ist eben das der Unbedarften wenig Gebildeten, denen Bildung zu einer besseren Zukunft verhelfen wird. Das Zukunftsversprechen von Bildung ist natürlich politisch geprägt: Der gebildete Sozialist wird die Notwendigkeit der Revolution erkennen, die gebildete Liberale wird ihr Leben selbst in die Hand nehmen, der gebildete Konservative wird den Vorfahren und den Mächtigen Respekt zollen. – Allein diese schon an der Oberfläche so unterschiedlichen Verheißungen von Bildung sollten uns zu denken geben. Aber was sind ganz konkrete und etwas spezifischere Themenfelder, in denen Bildung als spielentscheidend betrachtet wird?

In den letzten zwei Jahren beschäftigen sich viele Studien mit dem epistemischen Weltbild von Corona-LeugnerInnen und ImpfskeptikerInnen. Die Frage nach dem epistemischen Weltbild zielt darauf ab, was jenen Menschen einen Grund gibt, Aussagen oder Daten zu akzeptieren, was also als Wahrheitskriterium gilt. Eine erste Unterstellung ist oft, mystische Weltbilder und Esoterik zu vermuten. Das steht nun in krassem Gegensatz zu jenen Situationen, in denen Menschen jenseits des wissenschaftlichen Konsenses umso strenger mit techno-mathematischen Argumenten punkten wollen. Dieser Fokus auf Mathematik kann manchmal plump und manchmal auch falsch sein: So bezweifelte der österreichische Fernsehsender Servus TV in seiner Corona-Berichterstattung die Gültigkeit von  Statistiken, die Aussagen über kleine Populationen treffen und insinuierte in seiner Berichterstattung, durch solche Statistiken würden Infektionszahlen in die Höhe getrieben. Konkret: Wie könne ein Dorf mit nur 1000 EinwohnerInnen eine Inzidenz von 200 pro 100000 EinwohnerInnen haben? Wenn es die 100000 EinwohnerInnen nicht gibt, dann könne es ja auch die 200 Infizierten nicht geben – also seien alle Zahlen in Zweifel zu ziehen.

Das ist ein plumpes und dummes Beispiel. Es hilft aber, ein Muster in anderen Kritikformen zu diagnostizieren, auch wenn diese deutlich besser argumentieren und nicht auf simple Rechenfehler angewiesen sind, um ihren Punkt machen zu können.

Forscherinnen des MIT haben 2021 verschiedene Gruppen von Corona- und ImpfgegnerInnen beobachtet, ihre Rhetorik analysiert und vor allem ihren Gebrauch von Daten, wissenschaftlichen Studien und Visualisierungen untersucht. Die Detailergebnisse lassen Rückschlüsse darauf zu, welche Art von Visualisierungen bei welchen Gruppen besonders populär sind – und es sind, für manche vielleicht überraschend, die besonders komplexen, besonders detailreichen Visualisierungstypen, die bevorzugt in der Verteidigung wissenschaftlich unorthodoxer Positionen eingesetzt werden. Die Komplexität wird dabei auch nicht als Nebelgranate eingesetzt, die mehr Verwirrung stiften als Klarheit schaffen soll. Die Komplexität und die damit zunehmende Vielschichtigkeit, wie Daten interpretiert werden können und welche Lücken sich in der zugrundeliegenden Datenbasis vermuten lassen, wird vielmehr dazu eingesetzt, Schwächen in den offiziellen Schlüssen aus diesen Daten aufzuzeigen. Daten werden dann als nicht detailreich genug infrage gestellt, es wird hinterfragt, warum nicht alle Erhebungsmethoden, Rohdaten und Berechnungsschritte offengelegt sind – und es wird besonderes Augenmerk auf mathematische Ausreißer gelegt, die mit der offiziellen Hypothese nicht ausreichend erklärt werden können.

An mangelnder Bildung oder mangelndem mathematisch-technischem Knowhow kann es also nicht liegen, dass Ergebnisse und Einschätzung oft diametral jenen offizieller Institutionen entsprechen. Der aufklärerische Gestus legt auch nahe, dass Gegenwissenschaften sich selbst – und ihren volksbildenden Anspruch – durchaus ernst nehmen. Die mathematischen und statistischen Argumente sind oft korrekt.

Wo ist der Fehler dann zu suchen?

Die Betonung von Komplexität, die Suche nach Details und das Beharren auf methodisch überkorrekten Ableitungen sind oft Indizien für die Überstrapazierung von Wissenschaft. Wissenschaft soll Handlungsanleitungen und Empfehlungen für sozial und politisch richtige Entscheidungen geben. Etwas, das Wissenschaft als Methode nie für sich in Anspruch genommen hat. 

Wissenschaftliche Ergebnisse gelten unter bestimmten Bedingungen für bestimmte Situationen, auch ihre Extrapolation oder Interpretation unterliegt strengen Regeln. Mit jeder Erweiterung nimmt die exakte Gültigkeit ab. 

WissenschaftlerInnen und ExpertInnen wissen um den Geltungsbereich ihrer Ergebnisse. Der Versuch, diesen Geltungsbereich zu  verlassen, käme dem Versuch gleich, mit Dunning-Kruger-Patienten mithalten zu wollen, die mit voller Überzeugung ihre eigene Ahnungslosigkeit ignorieren, aber umso sendungsbewusster sind.

Harry Collins kam in seinem Versuch, wissenschaftliche Expertise von anderen Formen des Know Hows abzugrenzen, letztlich auch nur zu dem Schluss, an goodwill zu appellieren: Wissenschaftliche Expertise unterscheidet sich dann maßgeblich von anderen Formen des Wissens, wenn diese Unterschiede akzeptiert werden und vor allem auch die Grenzen der Wissenschaftlichkeit als Stärke anerkannt werden und nicht in ihrer Beschränktheit eine auszunutzende Schwäche gesucht wird.

Mathematische Disziplinen oder auch Felder angewandter Informatik die Data Science fördern diese ungünstige Entwicklung. Starke Orientierung auf den Prozess und eine schwache Verbindung zur Ausgangslage, zum eigentlichen Gegenstand, von dem stark abstrahiert wird, verstärken das Problem. Die Perspektive auf Denken und Forschen als Gespräch geht verloren.

Der Fokus auf die Methode liegt durchaus im Kern der Wissenschaftlichkeit. Allerdings begründet diese Ausrichtung oft Missverständnisse, wenn vorausgesetzt wird, dass formale Methoden auch auf Gegenstände angewendet werden könnten, deren Formalisierungsregeln erst ausgearbeitet werden müssen. 

Häufige Beispiele dafür finden sich in mathematischen Metaphern und Modellen für wirtschaftliche Fragestellungen. Da werden Gleichungen aufgestellt, Formeln bemüht, manchmal schwappt Mathematik auch in Physik über und wir haben es mit Waagen, Röhren, Gefäßen und Fließbewegungen zu tun. Mathematische Metaphern können sehr nützlich sein, wenn sie punktuelle Sachverhalte veranschaulichen sollen. Die Regeln der Mathematik sind klar, damit sind auch die Aussagen der Metaphern klar. Allerdings bergen sie Missverständnisse: Gleichungen etwa werfen die Frage auf, ob sie Identität oder Gleichgewicht ausdrücken sollen. Bei allen Modellen steht die Frage im Raum, ob sie einen Zustand, ein Ziel oder vielleicht gar ein Problem beschreiben. Und Mathematik und Physik als klar definierte Regelsysteme können stets weiter ausgebaut werden. In der Mathematik können Gleichungen umgeformt werden, die Anwendung von Grundrechenarten gibt die Regeln für Erweiterungen und Reduktionen vor.

Auf Sachverhalte können diese Regeln meist nicht angewendet werden. Dieses Missverständnis entsteht aber oft – und es verfälscht die Perspektive darauf, sie sich Sachverhalte und Theorien dazu entwickeln können. Wir können nicht alles auf sinnvolle Art und Weise halbieren, es ist nicht immer möglich, zwei zu addieren.

Die mathematische Extrapolation von allem und jedem ist eine andere Spielart der Verallgemeinerung persönlicher Perspektiven und Vorurteile – sie benötigt zwar mehr formale Bildung, führt aber zu ebenso falschen Ergebnissen.

Das sind methodische Probleme. Diese finden wir bei jenen, die der Faszination von Zahlen erliegen und plötzlich alles datengetrieben vorantreiben möchten. Wir finden sie aber auch bei jenen, die mit vermeintlicher Logik und Rationalität die Schwächen anderer aufdecken möchten

Logik und Rationalität müssen sich ihrer eigenen Schwächen bewusst sein. Sie funktionieren nur innerhalb ihrer Systemgrenzen. Sie selbst können nicht entscheiden, wie zwischen diesen Systemen gewechselt werden kann. 

Das klingt auf den ersten Blick esoterisch, ist aber der Kern von David Bloors Soziologie des Wissens. Es ist ein Irrtum, Rationalität alle Fortschritte in Wissen und Erkenntnis zuzuschreiben und Irrtümer mit auszuräumender Irrationalität zu verbinden. Rationalität beschreibt eine Methode, die verlässlich und eindeutig funktioniert, solange wenig Alternativen zur Diskussion stehen. Sobald Alternativen und Optionen verfügbar sind, reicht Rationalität nicht mehr aus. Werte, Vorlieben und Vorurteile sind jetzt die Regelsysteme, nach denen wir die wirklich großen Entscheidungen treffen. Danach regiert dann wieder Rationalität – bis die nächste große Entscheidung ansteht.

Evidenz, Daten oder Mathematik helfen nicht dabei, das letzte Argument zu finden. Das rationale Argument ergibt nur dann Sinn, wenn es eine wertgetriebene Entscheidung unterstützt (oder ihr widerspricht). Im Rahmen einer anderen wertgestützten Entscheidung ergibt es keinen Sinn – es stützt sich auf Prämissen, die es hier nicht gibt.  

Der Versuch, mit rationalen Argumenten, Mathematik oder formell einwandfreier Wissenschaftlichkeit letzte Gründe und Argumente finden oder gar Fragen nach dem Sinn beantworten soll, ist stets manipulativ. Dieser Versuch ist vor allem ein Versuch, die Entscheidung und ihre Gründe zu überdecken. 

Bei allem Respekt für mathematische Gründlichkeit, logische Stringenz und rationale Unaufgeregtheit ist es doch genau dieser Weg der Überstrapazierung von Wissenschaft und wissenschaftlicher Methode, der geradewegs in jene Pizzerien-Keller führt, in denen kosmopolitische Eliten Kinderblut trinken. 

Jede stringente Wissenstheorie schließt auch den Punkt ein, der mit den Argumenten dieser Wissenstheorie nicht erklärt werden kann. Ich nenne diese Punkte Rumpelkammern und sie erfüllen einen wichtigen Zweck: So wie Rumpelkammern in Häusern nehmen diese Rumpelkammern der Theorie all das auf, das wir im Moment nicht brauchen können. Wir haben keine Verwendung dafür, wissen gerade vielleicht auch gar nicht, was es überhaupt ist – aber wir können und wollen uns davon nicht trennen. Vielleicht fällt uns zu einem späteren Zeitpunkt ein, was wir damit machen können, vielleicht werfen wir es später auch weg. Rumpelkammern sind sehr nützlich und sie erleichtern unser Leben – solange, bis sie sich doch unvermittelt und plötzlich ins Rampenlicht drängen, etwa weil sie ausgeräumt, übersiedelt, aufgeräumt oder geputzt werden sollen. Dann sind sie ein großes Problem.

Der Umgang mit Anomalien in Kuhns „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ist so eine Rumpelkammer, Lakatos‘ Schutzgürtel von Hilfshypothesen ist eine Rumpelkammer, jede Formulierung, die Annahmen als Selbstverständlichkeiten oder als nicht zur Diskussion Stehendes einmahnt, ist eine Rumpelkammer. 

Rumpelkammern sind kein Problem für Wissenstheorie. Aber es ist eine Herausforderung für Wissensphilosophie, vor allem in Hinblick auf datengetriebenes Wissen, eine Theorie zur angemessenen Einbindung von Rumpelkammern zu entwickeln. Das ist nützlicher, als auf Daten, Evidenz und Bildung zu beharren. 

Mein Leben mit Sh*tcoins

Wer Bitcoin buchstabieren kann, ist Experte für alles: Viren, Spionage, erfüllenden Sex, Militärstrategie. Das lerne ich täglich auf LinkedIn und Twitter. 

All dies Insiderwissen ist von großen Versprechen getragen: Bitcoin schafft Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Sicherheit, Souveränität – das unterscheidet Bitcoiner von altmodischen Münzensammlern. In der Nähe der Bitcoiner sind gern auch Menschen, die Dinge wie „Ich liebe Freiheit“ sagen. Ich verstehe manchmal nicht ganz, wovon und wofür digitale Währungen frei machen, wenn es letzten Endes immer darum geht, dass spicke Digitalwährungen besonders viel wert sind, sich also besonders gut in alte verachtete Papier- und Metallgelder umwechseln lassen. 

Aber es ist ein grobes Missverständnis, rund um Bitcoin und Blockchain mehr verstehen zu wollen als die Informatik dahinter. Das wichtigste am digitalen Finanzexpertentum ist nämlich: Du darfst nie verstanden werden. Sobald du einen verständlichen und noch dazu im schlimmsten Fall eindeutigen Satz von dir gibts, bist du geächtet, musst in der Ecke stehen und wirst angehalten, deinen Mund mit Seife auszuwaschen. 

Bitcoin ist für Insider.

Als Experte auf diesem Gebiet musst du stets mit der gleichen Präzision sprechen wie das Orakel von Delphi, dessen Sprüche großen Interpretationsspielraum lassen und die dann am beliebtesten sind, wenn gar nicht sicher ist, ob das Orakel überhaupt etwas gesagt hat. 

Dabei kann ich mich ja gar nicht beschweren. Ich habe vor zwei Jahren mal eine Reihe von Coins gekauft. Da hatte ich doch mal zufällig etwas verstanden. Was, hatte nämlich ein Bitcoiner gefragt, was sagst du deinen Enkeln, wenn sie dir sagen: „Hättest du damals bloß einen Satoshi gekauft, dann hätten wir jetzt ein Leben in Saus und Braus und könnten zwischen Miami, Sansibar und Berlin hin- und her jetten.“ 

Gute Frage. 

Ich habe ein paar Tage damit verbracht, in jede Coin, derer ich habhaft werden konnte, einen Euro zu investieren. Mein Portfolio ist jetzt ein farbenfrohes Schauspiel, herrlich anzusehen – wenn man ein Faible für Rot hat. 

Ich habe natürlich Terra. Ich mochte den Crash, die kurzfristige Auferstehung und die mythisch-metaphysische Kombination der Kennzahlen „Wertentwicklung: +127,39%“ und „Wert: 0,0000€“. Aus Nostalgie für Pirate Bay-Zeiten habe ich auch BitTorrents gekauft. Nach ein paar Splits und Umreihungen habe ich jetzt über 5 Millionen davon – ohne auch nur einmal nachgekauft zu haben. Das nenne ich eine wundersame Vermehrung. Und ich bin glücklich, wenn mehr als 90 Prozent meines Portfolios weniger als 90% Verlust hingelegt haben. 

Dabei habe ich viel gelernt über diese Freiheit, Souveränität und die Expertise, von der Krypta-Buben schwärmen. Ein paar Coins haben nämlich funktioniert. Die Gewinne habe ich zum Großteil rausgenommen. Ein Teil davon lag in Fondsparplänen und ist dort, gemütlicher als im Kryptowallet aber doch, langsamer geworden. Der Rest liegt auf einem Konto und schmilzt fröhlich mit der Inflationn dahin – aber er ist wenigstens noch da. Das ist auch nicht weniger als 0,0000. 

Aber die Aufklärung …!

Aufklärer sind nun viele: Corona-Leugner belächeln Schlafschafe, Qs Vertraute kennen geheime Wahrheiten, für deren Erkenntnis andere noch nicht reif sind. Impfgegner wünschen sich verlässliche und vertrauenerweckende Empirie, die wir bei weit riskanteren und alltäglicheren Dingen auch nicht haben. Kriegs-Experten und Militärstrategen sind ebenfalls gut informiert und sendebewusst.

Erklärer und Rationalisten dagegen wundern sich: Wie kann man trotz aller Fortschritte nur solchem Unsinn nachhängen? Wissen wir es nicht besser? Hat uns die Aufklärung nicht gelehrt, Fragwürdiges mit unserem Verstand zu prüfen und Logik und Fakten gelten zu lassen?

Superlativmänner lassen keinen Widerspruch gelten, können alles erklären und wissen alles besser – wie “Affen auf dem Rücken des Bärs”. Superlativmänner – diese schöne Wortkreation und das Bild des bärenreitenden Affen entstammen der Feder von Leopold Alois Hoffmann, der im späten 18. Jahrhundert in seiner “Wiener Zeitschrift” erbost gegen die Unsitten der Aufklärung ausritt. Anhänger der Aufklärung seien von Dämonen begleitet, der ihnen einrede, dass nichts zähle – außer dem Urteil ihrer eigenen Vernunft. Aufklärung sei allwissende Nichtwisserei, die Würden und Titel als Kindertand betrachte und die Jugend mit sich reiße, damit “Knaben und Mädchen Geheimnisse und Abscheulichkeiten der Onanie und der sinnlichen Wollust erfahren”. Aufklärung schließlich vermittle auch unangemessenes Selbstbewusstsein: “Seid stolz und übermüthig gegen Groß und Klein, denn dadurch erwirbst du Ansehen und Gewalt. Niemand ist ohnehin mehr als du, und weil du aufgeklärt bist, so darfst du mit Recht fordern, daß jedermann deine Einsichten respektire, und dir überall zugestehe, du seist klüger und weiser, als die ganze übrige Welt.”

Hoffmann selbst war allerdings auch nicht kleinlich, was die Einschätzung seiner eigenen Fähigkeiten betraf. Der Aufsatz, aus dem diese Zitate stammen, nennt sich stolz “Definitiv-Urtheil der gesunden Vernunft über Aufklärung und Aufklärerei” und erschien 1793.

Hängt hier ein Konservativer besseren Zeiten nach, kann jemand nicht mehr Schritt halten und neuen rasanten Entwicklungen rund um ihn  nicht mehr folgen? Hoffmanns Geschichte dürfte Abwechslungsreicher gewesen sein. Er zog als junger Dichter von Böhmen nach Wien gab ein eigenes Wochenblatt für Predigten-Kritik heraus und war einer der jüngsten Freimaurer seiner Zeit – er wurde schon als nicht einmal 24jähriger in eine Loge aufgenommen.

In seinen “Wöchentlichen Wahrheiten für und über die Prediger in WIen”, legte Hoffmann aufklärerische Maßstäbe an Kirchenpredigten an und ritt damit eine Welle seiner Zeit, die ihn 1785 mit gerade mal 25 Jahren zum Professor für deutsche Sprache machte, 1790 wurde er als Professor für “Deutsche Sprache, den Geschäftsstil und die praktische Beredsamkeit” nach Wien berufen.

Für diesen Aufstieg mochten allerdings andere als wissenschaftliche und philosophische Fähigkeiten ausschlaggebend gewesen sein. Hoffmann, der mit Verlegern und Kollegen immer schon Kleinkriege um Honorare und nicht eingehaltene Versprechen geführt haben soll, hatte Kontakte zur Polizei geknüpft und sich als Spion, Konfident und Denunziant betätigt. Von Kaiser Leopold II, den Hoffmann in seiner WIener Zeitschrift über alle Maßen als gerechten und umsichtigen Weisen lobte,  ist eine wenig schmeichelhafte Einschätzung überliefert: „Der Kerl ist ein Esel, ich weiß es; aber er leistet mir als Spion sehr gute Dienste.“

Hoffmann arbeitete auch nach dem Tod Leopolds weiter für die Polizei, verlor ohne mächtigen Vertrauten aber schnell an Einfluss und Ansehen, wurde als nur 33jähriger bei halbiertem Gehalt pensioniert und zog sich ins intellektuelle Exil nach Wiener Neustadt zurück.

Vom Aufklärer zum Denunzianten, vom Freigeist zum Reaktionär – das mag eine persönliche Wendung gewesen sein. Aber wen verfolgte Hoffmann mit seinem Zorn, gegen welche Eigenschaften richteten sich seine Argumente?

Die Feindbilder sind vielfältig.

Freizügigkeit, Verkommenheit und Zügellosigkeit sin ein großer Streitpunkt. Menschen leben nicht mehr nach traditionellen, bekannten, vorhersehbaren und kontrollierbaren Wertvorstellungen. Sie unterwerfen sich nicht mehr dem, was sich gehört. Das macht sie mitunter zu einer Bedrohung – vor allem für jene, die sich von Tradition und ihren Regeln beschützt gesehen haben.

Selbstüberschätzung, Rechthaberei und Egoismus sind andere Kritikpunkte. Die kritisierten Aufklärungsschwärmer sind von sich selbst überzeugt, kennen wenig Zweifel, haben ihre eigenen Interessen im Blick, vertrauen nur auf sich selbst, respektieren nur ihre eigenen Meinungen. Sie erfinden jeden Tag die Welt neu und erzählen anderen davon – ohne einen Blick darauf zu verschwenden, was die Welt schon über ihre Erkenntnisse weiß. Vielleicht ist ja nicht alles neu, aufregend und revolutionär, aber die Schwärmer kümmert das nicht.

Das Vertrauen, dass sie sich selbst entgegenbringen, lassen sie anderen nicht zuteil werden. Hoffmann wendet sich mit Zorn gegen ihren Skeptizismus, gegen sie Unsitte, alles zu hinterfragen, alles wissen zu wollen, sich mit Fragen zu beschäftigen, die andere schon geklärt  und gelehrt haben. Wissensdurst ist ein Problem.

Ganz am Anfang seiner Polemik schließlich steht die Kritik des Widerspruchsgeists. Müssen sie denn immer zurückreden? Können diese Aufgeklärten denn die Dinge nicht einfach gelten lassen, so wie die Gelehrten und Herrschenden sie festgelegt haben?

Stattdessen wollen sie einfach und direkt ihre Meinung setzen – ihre Meinung gegen das erprobte und bewährte Wissen von Experten der vergangenen Jahrhunderte.

Der Reaktionär geißelt also jene, die Gewohntes und Bewährtes in Frage stellen, die Unterwerfung und Einordnung nicht akzeptieren wollen und sie selbst, mit eigenen Sinnen und eigenen Argumenten verstehen und diskutieren wollen. Sie misstrauen der üblichen Ordnung, sie haben anderes im Sinn.

Und was halten verschwörerisch Aufgeklärte und humanistisch Aufgeklärte einander vor?

Ihr gebt euch zufrieden, sagen die Verschwörungstheoretiker. Ihr schwimmt mit dem Mainstream, gebt euch mit allem zufrieden was man euch sagt. Ihr hinterfragt nicht, denkt nicht selber und lasst euch belügen.  

Die humanistisch Aufgeklärten bremsen. Es gibt Tatsachen, sagen sie, gesichertes Wissen, Spielregeln der Demokratie. Nicht alle können gleichberechtigt überall mitreden, Expertise und  Spezialistentum machen Sinn. Es kann nicht bei allen Entscheidungen um Meinung gehen.

Klingen Rationalisten, die sich auf Vernunft, Wissen, und Argumente berufen, heute wie die zornigen Anti-Aufklärer vor 250 Jahren? Sind die Argumente, mit denen man sich gegen Esoteriker und Verschwörungstheoretiker wendet, die gleichen, mit denen sich enttäuschte Nicht-mehr-Aufklärer gegen die Radikalen des 18. Jahrhunderts wandten?

Natürlich wissen wir heute viel mehr. Wir müssen weit weniger ungeklärte Voraussetzungen wie Traditionen oder Religionen beanspruchen, um Wissensansprüche zu untermauern.

Trotzdem finden sich jene, die nur auf Vernunft pochen, immer wieder in der schwächeren Position. Auf der anderen Seite gibt es immer weitere Verlockungen …

Eine mögliche Schwachstelle: Der Glaube an die Vernunft ist das auf verschlungenen Wegen erreichte Ergebnis spekulativer Philosophie. Die Beweisführung der führenden Köpfe ihrer Zeit wäre uns heute, begegnete sie uns in modernem Gewand und ohne den Charme des lang vergangenen, allenfalls hochgezogene Augenbrauen wert, gerunzelte Stirnen; wird würden über die Wortführer solcher Argumentationen hinter ihrem Rücken kichern.

Vernunft setzt sich durch, weil sie sich über Widersprüche hinweg ihren Weg bahnt? Dank der “List der Vernunft” funktioniert das auch dann, wenn Menschen ganz und gar unvernünftig und egoistisch handeln? Der Weltgeist bei der Arbeit ordnet alles im Sinn der Vernunft? Stehen wir kurz vor der Lösung, gibt es immer nur noch eine letzte Hürde, die auf dem Weg zum Sieg der Vernunft überwunden werden muss? – Das sind alles Versatzstücke aus Hegels Schriften, der Galionsfigur der spekulativen Philosophie.

“Hegel”, “Dialektik”, sagen heute viele Zitatedropper-PhilosophInnen auf Twitter, wenn etwas anders kommt, als manche glauben möchten. Die twitterphilosophische Interpretation dieses Schlachtrufs bedeutet dann allerdings oft, frei übersetzt: “Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.” Manchmal auch: “Wie man in den Wald ruft, so kommt es zurück.” Oder gar: “Auge um Auge, Zahn um Zahn.” Oder wienerisch: “Ana hot immer des Bummerl.”

Dialektik wird zum tröstlichen Ausgleich, demzufolge mal der eine, mal die andere oben ist, nichts ist für immer, und es kommt oft anders, als man glaubt. Das wäre eine sehr ausgleichende Vorstellung, in der irgendeine ausgleichende Macht als treibende Kraft dafür sorgt, dass nichts je zur Ruhe kommt.

Woher kommt denn der Widerspruch, der sich immer wieder gegen einmal formulierte Thesen stellt?

In einer naiv-brutalistischen Interpretation aufklärerischer Dialektik ist die Realität selbst im eklatanten Widerspruch zu dem, was sein soll. Widersprüche – das ist der Treibstoff marxistischer Utopisten, die Geschichte als Entwicklung hin zu einem kommunistischen Endstadium sehen. Was nicht kommunistisch ist, ist falsch, es widerspricht Vernunft und Freiheit, also ist es ein Widerspruch, den es zu überwinden gilt.

Fraglich ist aber, wie Widersprüche überwunden werden, was die revolutionäre Dialektik in Gang setzt. Ist es die Notwendigkeit des kommunistischen Endstadiums, das, als einzig vernünftiges Ergebnis der Weltgeschichte mal eintreten muss? Oder muss der Notwendigkeit doch mithilfe revolutionärer Subjekte nachgeholfen werden? Das Dilemma der Revolution – Wer soll revoltieren? Wann? Mit welchem Ziel? Oder bleibt die Revolution ein Dauerzustand? – ist also eine zutiefst aufklärerische Angelegenheit, eine, das durch die angenommene Entwicklung hin zu Vernunft befeuert und zugleich auch gebremst wird.

Vielleicht hatten die aufklärerischen Erfinder etwas anderes im Sinn: Hegels Dialektik beschreibt vielmehr die Gewissheit, dass nichts der Weisheit letzter Schluss sein kann. Wir lernen etwas, erklären es uns, verstehen es, bilden eine These, können etwas über die Welt sagen – und lernen im gleichen Moment, dass es auch anders sein könnte. Das Spiel wiederholt sich, das gleiche gilt auch für die nächste These. Und damit ist dafür gesorgt, dass nichts zum Stillstand kommt – denn auch die neueste These ist dem gleichen Schicksal ausgesetzt.

Der Glaube an die sich durchsetzende Vernunft ist eine Art globale Midlifecrisis, die alles Erreichte immer wieder mit quälend nagenden Zweifeln infrage stellt. War es das schon? Ist das wirklich alles? Das kann es doch noch nicht gewesen sein … Alles Erreichte wird, verglichen mit einem Ideal, ein vorläufiger Murks.

Das beschwört aber nur ein weiteres Ideal: Wenn wir der Vernunft nachhängen, die alles klären wird, dann gehen wir davon aus, dass Fehler auf Einflüsse und Abweichungen zurückzuführen sind, auf unvernünftige Störfaktoren, die die Klarheit der Vernunft vernebeln. Die vernünftige Wahrheit tritt dort ans Licht, wo Fehler und Einflüsse ausgeschlossen wurden. Schwebt die vernünftige Wahrheit also voraussetzungslos im luftleeren Raum, wo sie keiner Verschmutzung durch Umstände, Vorlieben oder Vorurteile ausgesetzt ist? Was für eine Wahrheit ist das dann, wessen Wahrheit ist keinen sozialen, historischen oder technischen Einflüssen ausgesetzt?

Bahnt sich die leuchtende Vernunft der Aufklärung ganz allein ihren Weg durch ein verlassenes Universum, in dem sie von uns Menschen nicht mehr gestört wird?

Zornigen Alt-Aufklärern wäre das vielleicht gar nicht so unrecht. Ratlose Welterklärer können sich ebenfalls damit anfreunden, sich in einer leeren Welt nicht mehr mit unsinnigen Einwürfen auseinandersetzen zu müssen.

Leider liegt beidem der gleiche Irrtum zugrunde: Es gibt keinen unverstellten Blick auf die Dinge und keine unverfälschte Rationalität, die “der Wahrheit” zum Durchbruch verhelfen wird. Das können wir erkenntnistheoretisch untermauern, wissenschaftstheoretisch bei David Bloor nachlesen, mit Cognitive Sciences und Neurophysiologie argumentieren oder auch mit den Methoden von Mathematik und Informatik argumentieren. Aber natürlich kann man auch die Augen schließen und sich von all dem nicht stören lassen und weiter einfach behaupten, recht zu haben.

Der ORF und die bissigen Papiertiger

Wilde Papiertiger setzen dazu an, den ORF zu zerfleischen. Ich habe seit 20 Jahren kein Fernsehgerät mehr, der ORF begegnet mit häufiger auf Twitter als in der Form von Streaming, Video on Demand oder Nachrichtenportalen und der ORF war immer eher etwas wie die Nationalbank für mich: Ein Ort, an den Mitarbeiterkinder Praktika machen, von denen sie nahtlos in gut bezahlte Jobs übergehen. Das ist natürlich ebenso ein Vorurteil wie die Idee, man könnte dem ORF einfach den Finanzstecker ziehen und weitermachen wie bisher, halt mit ein paar kleinen Einschränkungen und mehr Orientierung am Publikum. 

Man kann ihn zusperren. Das ist eine realistische Option, über deren Konsequenzen man sich unterhalten müsste. Aber man kann nur als dogmatischer Papiertiger sagen: „Die anderen schaffen es doch auch.“ Die anderen haben private Financiers in Hintergrund, gehören zu Konzernen, die im Medien-Dauerentwicklungsland Österreich Platz besetzen, oder sie sind gut geförderte Testballons anderer Medienhäuser.

In knapp 30 Jahren habe ich verschiedene Medien aller Größenordnungen und Formate kennengelernt. Ich kenne Auflage und Einnahmen von „Subkultur und Untergrund“ (besser bekannt als Skug, damals, als es noch eine Printausgabe gab), von Indie-Comicverlagen in Ö und D. Ich weiss, was solide Corporate Publishing-Projekte kosten und was sie bewegen können und ich kenne die Zahlen, die die Kronen Zeitung täglich in Internet bewegt ebenso detailliert wie Click- und Conversionrates der Kampagnen großer ECommerce-Betreiber. 

Und ich kann rechnen.

Das ist offenbar ein großes Handicap gegenüber all jenen, die selektiv ein wenig  ~liberale~ Ökonomie gelesen haben, mal ein Zeitungsabo gekündigt, einen Fernseher abgemeldet oder einen Streaming Account bezahlt haben, und mit dieser Erfahrung jetzt solide Medienexperten mit felsenfester Meinung sind.

 Sie werden die Medienlandschaft bekommen, die ihnen gerecht wird. Im schlimmsten Fall eine, in der sich wenig verändert. 

Aber woher sollen sie es denn auch wissen. Medien, allen voran gewisse Fernsehsender, laden ja mit Vorliebe 80jährige ein, um über die Journalismuszukunft zu referieren und diskutieren. Die dann im besten Fall sagen, dass die Jungen es schon irgendwann richten werden.

Arthur Rimbaud, Lettres du Harar

Arthur Rimbaud hätte man ja eher als coolen Hund in Erinnerung. Poesie, Eskapaden, dann die Ausstiegsszenarien Seefahrt und Afrika und ein paar wilde Jahre als Draufgänger, die dann halt letztlich das Leben kosten. Nach einer Reise nach Harar habe ich seine Briefe auf Harar, Djibouti und Aden gelesen, und die zeichnen ein deutlich anderes Bild.

In seinen ersten Reisejahren war Rimbaud der neugierige Unternehmer, der alles mögliche lernen und ausprobieren wollte. Das lassen seine Buchbestellungen vermuten: Rimbaud ließ sich meterweise Fachliteratur schicken – über Landwirtschaft, Viehzucht, Eisenbahnbau und diverse andere technische Fächer. 

In die Pläne mischt sich bald Enttäuschung. Die Bezahlung ist mau, die Geschäfte sind wenig aufregend, Chefs und Geschäftspartner halten ihre Versprechen nicht, alles dauert. Schon nach relativ kurzer Zeit redet Rimbaud von Rückkehr: Sein Ziel ist es, Geld zu sparen, es anzulegen und auch in Europa von den Zinsen leben zu können. Vom draufgängerischen Aussteiger keine Spur. Rimbaud beklagt auch, dass er sein Geld weder anlegen noch jemandem anvertrauen kann – es trägt es immer bei sich in seinem Gürtel und klagt über Hüftschmerzen. Der Geldgürtel aus Goldfrancs wiegt acht Kilo. 

Dann mischen sich rassistische Töne über die dummen und faulen Einheimischen in die Briefe; Rimbaud scheint sich mit allen zu überwerfen: Mit den Menschen vor Ort, seinen Geschäftspartnern, den Kunden und den Behörden. Menelik II., Kaiser von Äthiopien, überlistet ihn bei einem Waffendeal und zwingt ihn, ihm die ganze Lieferung zum Vorteilspreis zu überlassen. Nach dem Tod eines seiner Geschäftspartner kassieren dessen Gläubiger angebliche Schulden bei Rimbaud doppelt. Die französischen Behörden verweigern ihm neuerliche Lizenzen für den Waffenhandel. Eine Geschäftsidee, eine neue Maultiersorte zu züchten kommt nicht vom Fleck; Rimbaud sucht zwar per Brief im Nahen Osten nach den besten Eseln, viel weiter entwickelt sich die Idee aber offenbar nicht. 

Dann beginnen die Schmerzen in den Beinen. Rimbaud lässt sich Kompressionsstrümpfe schicken, besucht verschiedene Ärzte, es hilft nichts. So sehr er auch über die Hitze gejammert hat, so abschreckend bleibt dennoch die Vorstellung, ins kalte Europa zurückzukehren. Dann wagt er doch die Überfahrt. 

In Marseille wird ihm ein Bein abgenommen. Zu den Schmerzen gesellt sich die Angst: Wie wird er einbeinig leben können? Und gilt der Rückkehrer der französischen Armee als Deserteur, wird ihn das Militär verfolgen. 

Rimbaud besucht seine Familie für einige Wochen, hadert mit den Ärzten, schlechter Wundheilung und dem Holzbein und stirbt einige Monate nach der Amputation in Marseille. 

Don Ihde: Technology and the Lifeworld

Heute ist der Begriff der Kulturtechnik mit all seinen befreundeten Begriffen und Derivaten so weit verbreitet, dass man sich erst einmal versichern muss, was damit gemeint war. Reden wir von der klassischen Bedeutung der Kultivierung der Natur mit verschiedenen Technologien? Beziehen wir uns auf kulturelle Errungenschaften und deren Beherrschung? Oder reden wir von unterschiedlich vermittelten und zielorientierten Strategien, mit denen wir auf unsere Umgebung einwirken? 

Don Ihde arbeitete in den 80er Jahren zu einem neuen Technologiebegriff, das Buch erschien 1990 und für Ihde war es damals noch notwendig, vorauszuschicken, das er Technologie als kulturelles Instrument betrachtet. Das war eine relevante Abgrenzung gegenüber diversen deterministischen Positionen, die Technologie als selbstständigen Block betrachteten, der entweder (technisch-deterministisch) Natur und Gesellschaft bestimmte oder (sozial-deterministisch) von der Gesellschaft bestimmt wurde, jedenfalls aber etwas von Natur und Gesellschaft verschiedenes war.

Ihde muss deshalb auch ausholen und erklären, dass es keinen technologiefreien Natur- oder Urzustand geben kann. Jeder Stock, jeder Stein, der zwischen seinem Anwender und einem Ziel vermittelt, ist Technologie.

Mit seiner Version, eine Trennung von Natur und Technik zu hinterfragen, erinnert Ihde auf den ersten Blick an Latour, er setzt allerdings andere Schwerpunkte. Ihde kritisiert auch die Vorstellung, bewegliche oder relative Konzepte von einer unabhängigen Position aus betrachten zu können, die letztlich selbst auch wieder relativiert werden können. Es muss zumindest auch deutlich gemacht werden, wie die vermeintlich bevorzugte Position zu ihrer bevorzugten Position gekommen ist und welches Konzept der Privilegiertheit dadurch zum Ausdruck gebracht wird. Diese Form der Reflexivität (in dem Sinn, dass sich die eigenen Ansprüche an andere Positionen auch auf die eigenen Positionen und deren Fundamente anwenden lassen müssen) erinnert an David Bloors Strong Programme der Wissenssoziologie und die Mahnung, dass Wahrheit nicht durch mangelnde Rationalität verstellt wird – nicht weil das nicht so wäre, sondern weil sowohl Wahrheit als auch Rationalität bewegliche Begriffe sind. Wir befinden uns nicht auf einem immer klarer werdenden Königsweg zur Klarheit, sondern auf verschiedenen Wegen, die teilweise auch wieder revidiert werden müssen.

Und natürlich klingt auch Dewey hier an, wenn dieser feststellt, dass Notwendigkeit purer Aberglaube ist.

Wahrnehmung ist Gestaltung, Beobachtung erst recht

Ihde möchte mit seinen Hinweisen auf die wandelbare Relevanz von Positionen vor allem die Situiertheit von Wahrnehmungen und Perspektiven deutlich machen. Jede Auswahl einer Perspektive (oder schon eines Themas, das in die Perspektive genommen wird) ist Auswahl und Einschränkung und damit nicht nur Abbildung, sondern auch Gestaltung. Phänomenologie beschäftigt sich nicht nur mit Erscheinungen, also mit Oberflächen von Dingen, die so gegeben sind. Die Wahrnehmung, die in der Phänomenologie thematisiert wird, gestaltet auch. Damit sind der Wahrnehmende und dessen Position unverzichtbarer Bestandteil der Wahrnehmung. Es gibt keine bloße Wahrnehmung und kein Ding an sich, es gibt immer nur Wahrnehmung als etwas und Wahrnehmung von einer Position aus.

Wird Wahrnehmung damit ein überdehnter überstrapazierter Begriff? 

Ihde schlägt vor, Wahrnehmung, so wie Husserl sie in den Mittelpunkt rückt, schärfer zu beschreiben: Ihde unterscheidet zwischen Mikroperzeption als Sinneswahrnehmung und Makroperzeption als kulturell und hermeneutisch vermittelter Wahrnehmung, die also noch deutlicher auch eine Interpretations- und damit Gestaltungsleistung enthält.

Was haben all diese Überlegungen mit Technologie zu tun? 

Technologie ist für Ihde zumindest in Hinblick auf Wahrnehmung, Wissenschaft und Erkenntnis in Mittel, Sinne und Wahrnehmungsfelder zu erweitern. Das schließt an alte Technologie- und Wissenschaftskonzeptionen an, in denen Instrumente eine zentrale Rolle spielen.

Neue Techniken und Instrumente bringen neue Wahrnehmungen und neue Erkenntnisse; damit verändern sie den Wahrnehmenden und die Wahrnehmung. Ihde unterscheidet diverse Beziehungsformen, in denen neue Erkenntnisse und Wahrnehmungen geschaffen werden. Damit rücken Fragen des Lernens und Vermittelns in den Blickpunkt: Wie lernen wir von neuen Techniken, wie ordnen wir neue, bislang unbekannte Informationen ein, wie erkennen und bewerten wir sie überhaupt – und wie wird aus Signalen, Daten, Geräuschen oder Flecken Information?

Technologie verändert Wahrnehmung

Ihde streift, vermutlich eher unabsichtlich, datenrelevante Fragen: Welche Signal- oder Textarten vermitteln wieviel Information, wie direkt, und auf welchen Kanälen? Ihde räumt dabei visuellen Darstellungsformen einen gewissen Vorrang ein. Grafiken etwa erlauben für ihn nicht nur hermeneutisches Verstehen (also Makroperzeption), sie vermitteln auch auf sinnlicher anschaulicher Ebene, funktionieren also auch im Bereich der Mikroperzeption. Schriftlicher Text, vor allem in Alphabeten kodifiziert, erlaubt nur hermeneutisches Verstehen, hier sind größere Übersetzungsleistungen notwendig.

Diese Sonderstellung von Visualisierungen, also von aufbereiteten Daten, schließt an Ideen zur Sonderstellung von Daten an, die im Datendiskurs öfter vorgebracht werden. So wie in den meisten Fällen liefert aber auch Ihde kein Argument für den direkten Vorteil von Daten. Sie können ihren Vorsprung erst dann umsetzen, wenn sie aufbereitet sind und einem uns bekannten Wahrnehmungsschema entsprechen. Daten nehmen hier dennoch insofern eine Sonderstellung ein, als sie eine Doppelrolle einnehmen: Sie sind Material und Werkzeug zugleich; sie liefern die Bausteine und den Bauplan und sie sind gleichzeitig Repräsentation und Relation. Daten bilden etwas ab (als Relation), indem sie die Grundlage für Darstellungsformen schaffen (also Repräsentation fördern), sie müssen den Bauplan für ihre eigene Anordnung mitbringen, weil sie sonst nichtssagendes Rauschen wären. Sie werden anhand eines Bauplans geschaffen, obwohl sie für sich in Anspruch nehmen sie könnten als unvoreingenommen Vorgefundenes betrachtet werden.

Das wissen wir, unklar ist allerdings, in welcher Reihenfolge das geschieht, welche Wirkungen mit welchen Ursachen zusammenhängen und welche Rolle unsere Wahrnehmung dabei spielt, insbesondere, inwieweit sie dabei gestalterisch eingreift. Mit mehr Optionen (und Technik schafft mehr Optionen) werden Entscheidungen immer relevanter: Mehr Entscheidungen müssen getroffen werden, sie haben auch weitreichendere Konsequenzen (In Analysen zu Data Science-Prozesse und der Frage, wo in diesen Prozessen Entscheidungen getroffen werden (Am Ende? Am Anfang? Mit jedem Schritt?) sind diese Fragestellungen zentral.).

Technik und Wissenschaft: Vernetzte Zusammenhänge oder klare Abgrenzungen?

Ihde führt das nicht viel weiter aus. Seine Mission ist mit dem Verdeutlichen dieser Verzweigungen und Abhängigkeiten erfüllt. Wir erinnern uns: Ihde Anliegen war es, Technologie als kulturelles Instrument sichtbar zu machen. Technologie ist nicht unabhängig von Welt, Natur oder Gesellschaft zu betrachten, sondern in all diese Bereiche verwoben. Fraglich ist eher, ob es etwas wie Technologie allein, Technik an sich gibt, oder ob es Technologie, so wie für Ihde generell alles, nur in Kontexten und Beziehungen gibt. 

Ihde schafft also ein Bild von Technik und Technologie als Netzwerke von Beziehungen. Technologie ist eine vermittelnde Verbindung, nicht etwas, das abseits der Dinge steht oder von außen an diese herangetragen wird. Eine Uhr misst nicht nur die Zeit, die schafft eine konkrete Vorstellung von Zeit und durch diese Strukturierung schafft sie eigentlich überhaupt erst das, was sie in anderen Technik-Perspektiven nur zu messen vorgibt.

Bei all der Konzentration darauf, den Beziehungscharakter von Technik herauszuarbeiten, kann man Ihde durchaus entgegenhalten, wenig Substantielles zum Technikbegriff gesagt zu haben. Was ist nun Technik? Wie und wovon grenzen wir sie ab? Was ist keine Technik?

In den 80er Jahren war das ein neuartiger Weg; heute, wo sich dieser Gedanke durchgesetzt hat, wünscht man sich eher auch wieder konkrete Diagnosen. Ihde verweigert das und sieht in der Unschärfe neue relevante Wege zum Technologieverständnis.

Allerdings diagnostizierte auch Ihde schon Gegenwind zu diesen Positionen: In den 80er Jahren wurden erstmals seit langem wieder Sparmaßnahmen und Kürzungen in politischen Budgets diskutiert, allen voran in Thatcher-England; einige davon betrafen Wissenschaft und Universitäten. Viele Wissenschaftler hatten damals beklagt, dass diese Kürzungen auch auf die Aufweichung des Wissenschaftsbegriffs zurückzuführen seien. Wissenschaft, die einst harte Fakten geliefert habe, sei nun in vagen Relativismen verstrickt, die sogar Gesetze der Technik und Physik in Frage stellten – die Postmoderne dräute herauf (noch bevor Quantenmechanik dann zur vagen Generalentschuldigung jeder Unsicherheit wurde). Einen derart aufgeweichten Wissenschaftsbegriff könne niemand mehr finanzieren wollen, es sei kein Wunder, dass sich bei derart zerstörerischer Kritik von innen die Öffentlichkeit abwende. Wissenschaft und Technologie müssten mit Klarheit vorangehen. Ihde verwehrte sich dagegen – und rückte zusätzlich damals so avantgarditische Themen wie Umweltzerstörung, Nachhaltigkeit und Klimawandel in den Mittelpunkt des Philosophierens über Technik und Technikfolgen.

Zur gleichen Zeit entstanden im übrigen auch die ersten formellen Ansätze von Wissenschaftskommunikation, die ihrerseits auch noch ganz darauf ausgerichtet waren, Defizite im Publikum zu beseitigen, das der Wissenschaft eben noch nicht ausreichend Respekt und Aufmerksamkeit entgegenbringe, um die Klarheit und den Vorsprung der Wissenschaft zu schätzen. Wissenschaftskommunikation ist seither lange Wege zwischen Evangelismus, Clownerie, Wissenschaftsüberforderung, Besserwisserei und solider Öffentlichkeitsarbeit gegangen

Wo Ihde mit der Auflösung von Grenzen zwischen Technologie und Lebenswelten beschäftigt war, wünschen sich manche heute wieder schärfere Grenzen, mehr Respekt und klarere Ansagen. 

Das ist verständlich. Es ist aber nicht nur angesichts von Ihdes Ausführungen auch fragwürdig, Technik und Wissenschaft als losgelöste unabhängige Autoritäten betrachten zu wollen. 

Ihde hat die Verworrenheit von Technologie und Lebenswelt deutlich herausgestellt, seine Konzepte sind allerdings nicht besonders produktiv operationalisierbar. Im Vorwort deutet Ihde auch an, dass ein Text nur der erste einer Reihe ist, die neue und andere Technologiebegriffe herausarbeiten sollen. 

Wesentlich bleibt aber der Beziehungsaspekt, der integraler Bestandteil auch von Konzepten wie Technologie ist und auf vielfache Weise beschrieben wird: Ihde unterscheidet embodiment, hermeneutic, alterity und background relations. Vor allem die Analyse der alterity Relations (die Idee vom relevanten Anderen ist dabei von Lévinas entlehnt) eignet sich, um monolithische Technologiekonzepte in beziehungsorientierte Konzepte zurückzuübersetzen, Entropomorphismen zu entlarven und Debatten um Agency und Verantwortung von (nicht für) Maschinen anders zu betrachten.

Daten lösen keine Probleme

Daten liefern Antworten. Daten helfen zu besseren Entscheidungen. Daten lösen Probleme. Das ist das Credo jener, die evidenzbasierte Entscheidungen wollen, die Daten das Primat über Emotion und Vorlieben einräumen möchten und die Daten als Königsweg zur unverstellten Rationalität betrachten.

Diese Einstellung ist nicht selten. 

Und sie ist in etwa so absurd wie die Vorstellung, Probleme und Folgen des Klimawandels wären mit der Erfindung des Thermometers ausreichend bekämpft.

Daten können vieles sein. In einer technisierten, heute vorherrschenden Perspektive, sind es zähl- und sortierbare Platzhalter, die auf etwas anderes verweisen. Daten unterscheiden sich nicht wesentlich von Alphabeten: Sie bedürfen einer Konvention, um Bedeutung zu schaffen. Sie sind auf Beziehungen angewiesen, um Sinn zu ergeben. Sie können beliebig kombiniert werden, ergeben dann aber nicht unbedingt konkrete Aussagen. 

Manchmal vermutet man in Daten insofern eine Sonderstellung, als sie besonders klare, eindeutige und repräsentative Repräsentanten ihrer Art sein sollen. Diese Sonderstellung wird ihnen aber vor allem deshalb zuteil, weil sie ihnen eingeräumt wird. Das Konzept ist zirkulär – aber geschlossene Kreisläufe erhalten sich schließlich leichter selbst und sind weniger anfällig für Störungen von außen. 

Thermometer sind nun auch besonders repräsentative Repräsentanten ihrer Art (wenn wir ihre digitalen Erscheinungsbilder mal außer Acht lassen). Säulen steigen, Zeiger schlagen aus – das sind eindeutige Datenvisualisierungen, die uns zeigen: Es wird mehr. Die Temperatur steigt. Wir können das eindeutig ablesen, wir haben Interpretationsmöglichkeiten, die keiner Übersetzung, keines Thesaurus bedürfen, die noch leichter verständlich und deutlicher ist, als unsere Alltagssprache.

Das Thermometer hat alle Daten-, Repräsentations- und Relationsprobleme rund um Temperaturfragen gelöst, verschiedene Skalen und Kalibrierungen funktionieren nach dem gleichen Muster.

Ein simples Säulenthermometer kann als Sinnbild für komplexe Datenaggregierungen und -visualisierungen gelten und hat vieles auf den Punkt gebracht. Die Existenz des Thermometers aber hat noch nichts dazu beigetragen, Probleme und Folgen des Klimawandels zu lösen. Sie wird es auch nicht tun.

Vielleicht ist die Existenz des Thermometers unverzichtbar, um Probleme und Folgen des Klimawandels feststellen, beschreiben und kategorisieren zu können. Das wäre viel. Aber warum tun wir so, als könnten wir von anderen Daten und ihren Erscheinungsformen so leicht so viel mehr erwarten?