Die Meinung hat einen schlechten Ruf. Meinung, das ist etwas für Schwurbler, Coronaleugner und Nazis. Wer etwas auf sich hält und der Realität ins Auge blickt, der hat Fakten, oder noch besser: Daten. Aber wie unterscheidet sich die Meinung, der richtigen Realität anhand der realen Fakten ins Auge zu sehen, von der falschen und als beliebig kritisierten Meinung? Wie kommen wir zur Meinung, keine Meinung sondern die Wahrheit zu haben?
Der Schriftsteller Robert Menasse hat sich unlängst in Rage geschrieben, als eine Politikerin anregte, über die Marktdominanz des ORF im Digitalen nachzudenken. Der Inhalt seines Wutposts ist wenig relevant, bemerkenswert ist ein kontextlos eingestreutes Hegel-Zitat über Meinungen: “Eine Meinung ist mein, und kann ich genauso gut für mich behalten. (sic)”. Im übrigen ist das eher ein Menasse- als ein Hegel-Zitat; bei Hegel überliefert ist: “Eine Meinung ist mein, sie [ist] nicht ein in sich allgemeiner, and und für sich seiender Gedanke.” (aus der Einleitung zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie). Bevor ich zum eigentlichen Thema kommen kann, ist auch das noch interpretationsbedürftig. Möchte der Herr andeuten, dass es im Journalismus keine Meinungen geben darf? Wovon unterscheidet sich die Meinung, dass etwas wahr ist, von der Tatsache, dass etwas wahr ist? Oder von der Meinung, dass es eine Tatsache ist, dass etwas wahr ist? Sollen PolitikerInnen keine Meinung äußern dürfen? Sollen PolitikerInnen und Medienmenschen nicht nur keine Meinung zu Fakten haben, sondern diese Meinung auch als Fakten verkaufen müssen?
Mit Weltgeist und dem Absoluten gegen die Meinung
Wie dem auch sei, ausgerechnet Hegel als Säulenheiligen für Meinungsfragen anzurufen, ist ein gewagtes Unterfangen. Hegel ist Idealist und Absolutist. Als großer Systematiker ist er auf Zusammenhänge aus, für alles gibt es übergeordnete Ziele. Der Weltgeist wirkt und setzt sich durch und treibt die Entwicklung voran. Was nicht zum System des Weltgeists passt, löst einen Widerspruch aus, der in einer dialektischen Bewegung bearbeitet wird. Entscheidend für den Widerspruch ist dabei das Verhältnis des Widersprüchlichen zum System. Etwas, das dem System widerspricht, kann nicht sein, weil es eben nicht zum System passt – und das System hat immer recht.
Das ist eine reichlich autoritäre Perspektive. Aus dieser ist es natürlich ein leichtes, Meinungen zu verachten. Das System gibt vor, was richtig und falsch ist, das System hat keine Meinungen. Meinungen, die dem System widersprechen (und alle Meinungen widersprechen dem System, denn was zum System passt, ist keine Meinung, sondern Notwendigkeit) sind demnach irrelevant: Sie können nicht gültig sein, weil das System es nicht erlaubt. Insofern kann man Hegel auch die Meinung zuschreiben, man könne Meinungen getrost für sich behalten.
Hegel hatte es nicht leicht, seine Meinung durchzusetzen, und soll sich, neueren Biographien zufolge, mit Wein getröstet haben. Heute reiten wir mit dieser Ansicht in den Kampf in Telegram-Channels oder WhatsApp-Gruppen, in denen mit ähnlicher Überzeugung vor Reptiloiden, Transatlantikern und Bilderbergern gewarnt wird.
War Hegel also ein Schwurbler? Sind Weltgeist, Idealismus und Dialektik auch nur Meinungen, die man für sich behalten oder gegen Reptiloiden-Sagas austauschen kann?
Hegel wird heute häufig durch die Brille von Marx gelesen. Dazu muss man kein politischer Marxist sein, Marx war einfach der pragmatischere Denker, der greifbarere Anhaltspunkte lieferte. Was bei Hegel vielfältig und zugleich nirgendwo anwendbare sphärische Herr-Knecht-Verhältnisse waren, wurde bei Marx zu praktischen ökonomischen Machtverhältnissen zwischen Kapitalist und Arbeiter. Plötzlich wurde die Sache vorstellbar.
Marx legte Fakten auf den Tisch (nämlich die Produktionsverhältnisse) zu denen man eine (Achtung!) Meinung haben konnte. Jetzt war auch Marx eher dogmatisch veranlagt und hätte es nicht gern gesehen, wenn sein Konzept als Meinung abgetan würde, aber das ist politischen Aktivisten ja auch nicht zu verdenken. Meinungen sind schließlich klarer, deutlicher und prägnanter als Fakten, die oftmals unordentlich sind.
Meinungen sind deutlicher als Fakten
Diese Eigenschaft ist es, die dem Konzept Meinung heute häufig zum Verhängnis wird. Meinung ist ein Synonym für Lüge und Betrug geworden, etwas, das man sich zurechtlegt, um sich über die Realität hinwegzusetzen, etwas Irrelevantes, dem mit Fakten begegnet werden soll, etwas Verwerfliches, das sich nicht mit Wissenschaft verträgt.
Das stürzt uns in ein erkenntnis- und wahrheitstheoretisches Dilemma, denn wodurch unterscheiden sich die Meinung oder der Gedanke, dass etwas eine Tatsache ist, von der Tatsache, dass etwas eine Tatsache ist? Diese Diskussion ist seit Frege noch offen.
Meinungen sagen etwas, Fakten nicht immer
Meinungen haben aber, abgesehen von diesem Dilemma, einen großen Vorteil: Sie können diskutiert werden. Meinungen binden die Meinenden mit ein und bringen einen Bezugsrahmen mit, der es erlaubt, Perspektiven und Tatsachen zu diskutieren – ohne einen Absolutheitsanspruch stellen zu müssen, der nicht nur Einwände unmöglich, sondern auch jeder Erklärung, jede Chance, zu verstehen, illusorisch macht.
Auf dieser Erkenntnis, das wird manche überraschen, beruhen die Anfänge der modernen Wissenschaft.
Wir sind jetzt im England des 17. Jahrhunderts. In den Bürgerkriegsnachwehen wird Thomas Hobbes‘ Leviathan populär, die Royal Society nimmt erste Formen an. Hobbes war nicht nur politischer Autor, sondern vorrangig Mathematiker, Logiker und überzeugter Rationalist. Logik und göttliche Vorsehung gaben Gesetzmäßigkeiten vor, aus denen ließen sich Regeln ableiten, diese bestimmten die Fakten. Meinungen waren dabei ebenso überflüssig wie konkrete Beispiele; es zählte nur die Überzeugung. Eine dieser logisch aus Gesetzmäßigkeiten abgeleiteten Überzeugungen war es, dass es keine Leere geben könne. Die Natur fürchtet das Leere, deshalb entsteht etwas – und dort, wo nicht einmal mehr Luft ist, ist Äther.
Auf der anderen Seite experimentierte Robert Boyle vor den kritischen Augen der Mitglieder der Royal Society mit dem Vakuum. Es gelang ihm, in einem geschlossenen Gefäß einen Luftleeren Raum zu schaffen – Kleintiere erstickten (ok, Äther kann man nicht atmen), Federn lagen still (sie hätten sich im Zug des einziehende Äthers bewegen müssen), Quecksilbersäulen nahmen den Raum ein, der von Äther hätte ausgefüllt sein müssen (wie verschwand der Äther vor dem Quecksilber?), und wie und woher hätte Äther in den leeren Raum gelangen sollen, wenn er nicht vorher dort war, wo eigentlich Luft war …? Das sorgte für Diskussionsstoff. Zur Diskussion standen die Meinungen der Gentlemen der Royal Society, deren Anwesenheit und Zeugenschaft Experimente erst gültig machte.
Dem ging ein mehrstufiger Prozess voran, den jedes Experiment zu durchlaufen hatte. Die erste Phase entspricht dem, was wir heute Forschung nennen würden. Neue Abläufe und Anordnungen sollten gesuchte Ergebnisse bringen. Die zweite Phase bestand in der Konsolidierung. Das Experiment wurde wiederholt und abgesichert, um reproduzierbare Ergebnisse zu erreichen. Erst in der dritten Phase gelangte das Experiment an die Öffentlichkeit: Es wurde den Mitgliedern der Royal Society vorgeführt. Diese befanden darüber, ob hier etwas neues zu sehen war, was hier zu sehen war und wie die Ergebnisse einzuschätzen waren.
Experimente beschäftigten sich also durchaus mit Fakten – entscheidend war aber deren Interpretation. Interpretationen stützten sich auf die Meinungen von Royal Society-Mitgliedern. Diese sollten gebildete, wohlerzogene, vor allem aber ökonomisch unabhängige Gentlemen sein – um sicherzustellen, dass sie keinen politischen oder finanziellen Interessen Raum gaben. Das kann als reichlich elitäres System betrachtet werden, Historiker und Soziologen sehen darin aber auch das Bestreben, nach dem Bürgerkrieg nicht gleich wieder Krieg führen zu müssen. Apodiktische Beweisführungen, die keinen Zweifel zuließen, richtig und falsch eng mit gut und böse verknüpften und Irrtum mit Charakter- oder Persönlichkeitsmängeln gleichsetzten, rückten in den Hintergrund. Man konnte streiten, ohne Feindschaften auf Leben und Tod zu begründen, ohne einander jeglichen Sinn für Realität und Ordnung absprechen zu müssen.
Dementsprechend vorsichtig sind viele von Boyles Erkenntnissen formuliert, und viele aus diesen Konstellationen entstandene Regeln wirken auch heute noch in den Standards für wissenschaftliches Arbeiten nach: Wir geben Rahmenbedingungen an, unter denen Beobachtungen gemacht wurden. Wir weisen Schlüsse als solche aus – und behaupten sie nicht als Gegebenheiten. Wir unterscheiden zwischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Wir trennen Kausalität von Korrelation. Wir sind unterschiedlichen Interpretationen gegenüber offen. Wir legen an unsere eigenen Positionen die gleichen Maßstäbe an wie an uns widersprechende Positionen. Und neuerdings müssen wir immer häufiger die Frage stellen, ob Daten ihrem Namen gerecht werden, also tatsächlich schlicht Gegebenes sind, oder ob sie nicht vielmehr ebenfalls gemacht oder sonst wie durch die Relation mit ihrer Umgebung verändert wurden.
Der Zugang von Boyle und der Royal Society hat sich durchgesetzt. Ist Wissenschaft also nichts als kenntlich gemachte Meinung? – Jedenfalls eher, als das Bewusstsein, umittelbar und unabdingbar recht zu haben. Wichtiger ist allerdings das Bewusstsein, stets vor einem ganzen System von Regeln zu argumentieren, Beweise in einem dichten Netz von Abhängigkeiten zu entfalten, und sich vorsichtig entlang von reproduzierbaren Fakten weiterzuarbeiten.
Man kann durchaus irgendwann aufhören, Wissen als bloße Interpretation und Meinung zu behandeln und davon ausgehen, dass der Inhalt der Meinung einer Tatsache entspricht. Wir wissen allerdings (und das ist eine recht gut abgesicherte Tatsache), dass sich dieser Punkt im Lauf der Geschichte häufig verschiebt. Bei wissenschaftlichen Tatsachen vollziehen sich diese Verschiebungen oft längerfristig, bei Tatsachen die Gegenstand journalistischer Berichterstattung sind, kann das auch in kürzeren Zeithorizonten passieren. Meinungen werden wir jedenfalls nie ganz los; beim Übergang von der Meinung zur Tatsache (und zurück) kommt man allerdings leicht vom Weg ab. Wie beim Spazierengehen kommt man allerdings noch leichter vom Weg ab, wenn man nicht auf seine Umgebung achtet oder überhaupt der Meinung (!) ist, es sei unmöglich, sich zu verirren.
Deshalb ist es auch ein wenig lächerlich, mit Hegel gegen Meinungen argumentieren zu wollen.
Latours Text ist als Essay über die Rolle der Dinge bekannt geworden. Rückblickend – mit der Entwicklung der Actor Network Theory, die menschliche Akteure und nicht menschliche Aktanten und deren Netzwerke als Aktivposten der Soziologie begreift, ist “Wir sind nie modern gewesen” einer der einflussreichsten Texte für technophilosophische oder -soziologische Ansätze der letzten dreißig Jahre geworden.
Latours blumige Sprache braucht aber immer auch noch eine andere, ergänzenden Perspektive – die Essenz dessen, was als Latours Konzept in Lehrbücher eingeht, lässt sich aus seinen eigenen Texten nur mühsam herausdestillieren. Manchmal lenkt die Sprache ab, noch öfter ist es aber die Schwerpunktsetzung seiner Texte.
In diesem Essay schreibt Latour ganz in der französischen Tradition der Anthropologie von Lévi-Strauss und der Strukturalisten. Merkwürdig sind daran nicht die in den 80er Jahren vielleicht noch auffälligen strukturalistischen Elemente, heute sind es die Haltung und das Selbstverständnis der Anthropologie, die in die Jahre gekommen sind. Eine Anthropologie, die in Riten und Gebräuchen indigener Völker Anderes zu entdecken vermeint, die eine Technokratie der Naturbeherrschung einer Mystik gegenüberstellt, die neue Argumentations- und Wissensformen zu entdecken vermeint, ist auf eine Technologiegläubigkeit, die Atomkraftwerke und Verbrennungsmotoren als Hoffnungsträger der Zukunft hervorgebracht hat, angewiesen. Hinter der Neugier und der Hoffnung, das Andere im Urwald zu entdecken, steckt das Selbstverständnis, Natur und Gesellschaft technisch beherrschen zu können und stets in einer eindeutigen Logik agieren zu können.
Heute sind diese Einstellungen Nachwehen der 60er Jahre. Wir sind Vermischung weit mehr gewohnt, es ist im Gegenteil geradezu anrüchig, zu klare Trennlinien ziehen oder gar zwischen verschiedenen Gesellschafts-, Diskurs- und Wissensformen urteilen zu wollen. Latour dagegen verwendet in den 80er Jahren noch viel Zeit und Worte darauf, gegen das Selbstbewusstsein der Kontrollierbarkeit von allem und jedem anzuschreiben.
In seiner wissenschaftshistorischen Kritik kann Latour schneller zur Sache kommen. Was bleibt: In der Moderne haben wir viele Kritikformen gefunden, die Brüche und Risse dort bloßstellen, wo Selbstverständlichkeiten vermutet wurden. Die Ursache waren unterschiedlich – erst wurden sie für Irrtümer gehalten, dann für diverse Störfaktoren, später für soziale Einflüsse. Latour geht ausführlich auf David Bloors Strong Programme für eine Wissenssoziologie ein, um es zu verwerfen – denn in Latours Perspektive bleib die Idee von Einflüssen auf Objekte immer noch dem veralteten Dualismus von Natur und Kultur verhaftet. Stattdessen setzt Latour eben auf ein viel breiteres Repertoire handelnder Entitäten, zu denen eben auch nichtmenschliche Aktanten gehören, und auf die Verbindungen und Netzwerke zwischen diesen als eigentlich relevante Triebkräfte. – “Wirklich wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft, existenziell wie das Sein, so sind die Quasi-Objekte”, die in Latours Theorie alls traditionellen klaren Trennungen verwischen.
Weg mit den Bremsern, der Trägheit, den Paragraphen und Formularen – diesen Ruf hören wir tausendfach von Innovatoren, Unternehmern, Freigeistern, Politikern, Gründern, Versicherungsnehmern oder Bankkunden, ja sogar von Beamten. Jeder auch noch so kleine Berührungspunkt mit Bürokratie scheint diesen Reflex auszulösen, es ist ein Minimum, ein kleinster Rückzugsort gemeinsamen Verständnisses, etwas, das überall und von allen selbstverständlich abgenickt wird – damit man weitermachen kann wie bisher.
Ich habe Einwände.
Ein erste Einwand ist: Wenn viele Leute seit langem einig sind, wie ein Problem zu lösen sei, wenn sie einander dessen wieder und wieder versichern, dann sind Zweifel angebracht, ob diese Lösung denn eine Lösung ist. Das Problem zeigt sich offenbar unbeeindruckt davon. schlimmer noch: Möglicherweise trägt diese Lösung dazu bei, das Problem zu reproduzieren. Redundanz ist ein starker Überlebensfaktor.
Ein zweiter Einwand könnte sich mit den Vorzügen von Bürokratie befassen: Auch Freigeister wie Hanna Arendt sahen in Bürokratie einen Meilenstein der Demokratie, Bürokratie als Herrschaft des Niemand, der über Vorschriften und hinter Formularbergen regiert, schützt vor Willkür. Bürokratie liefet Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden und schafft Klarheit.
Das befreit.
Ich möchte aber aus eine ganz anderen Perspektive und mit anderen Argumenten die beliebte Verdammung der Bürokratie infrage stellen. Denn was täten all jene Freigeister, die bürokratische Hürden beklagen, die Stolpersteine in ihrem Weg sehen, wenn es diese Bremsklötze und Hindernisse nicht gäbe? Sie hätten keine Zeit mehr für ihre Klagen, keinen Leerlauf in den Leerräumen zwischen Regeln und Paragraphen – denn sie müssten in einem fort all das umsetzen, woran allein die Bürokratie sie hindert. Sie fassen einen Plan – sie schreiten zur Tat. Eine schnelle Geschäftsidee – schon umgesetzt. Optimierungspotenzial erkannt und gleich genutzt.
Über zu viel Bürokratie klagen, eine Ende der Bürokratie fordern und das goldene Zeitalter der Postbürokratie verheißen – das macht nur für jene Sinn, die unter dem Schutzmantel der Bürokratie Freiräume finden. Bürokratie ist das notwendige Sicherheitsnetz, das eigentliche Sprungbrett für InnovatorInnen, die neue Pläne am laufenden Band ankündigen – und sich darauf verlassen können, dass irgendein Controller-Bürokrat Zweifel anmelden und nach bedächtigerer Vorgangsweise rufen wird. Alle Entscheidungen fällen sich leichter, wenn gewiss ist, dass sie ohnehin von Bedenkenträgergremien ab- und rundgeschliffen werden. Und weitreichende Pläne sind schnell gefasst, wenn die Weitergabe an eine Organisation statt der Sorge um die Umsetzung Spielraum für das Reifen der nächsten Pläne schafft.
Die Klagen über Bremsen und Hürden, die Verheißungen der besseren Welt nach dem Ende dieser Hindernisse sind Hohn für jene, die nicht in den Genuss der bremsenden Sicherheit kommen. Wie schwer ist es, Entscheidungen zu treffen, wenn man weiß, dass niemand ihnen widersprechen wird! Sie gelten dann, sofort, und sie zeigen Wirkung. Wie vorsichtig und gut überlegt muss ein Plan sein, wenn man weiß, dass man ihn auch selbst umsetzen muss! Wenn man außerdem weiß, dass für die nächste Zeit die Entscheidung für diesen einen Plan die Entscheidung gegen alle anderen Pläne ist – denn es bleiben dann keine Zeit und keine Spielräume mehr für andere Pläne.
Niemand entscheidet also zögerlicher als die, die frei von jeder Bürokratie sind. Sie verfügen über kein bremsendes Sicherheitsnetz, das sie vor ihrem eigenen Elan schützt. Sie sind sich selbst verantwortlich und müssen mit sich selbst verhandeln, welche Pläne mit welcher Priorität abgehandelt werden. Sie müssen sich selbst eingestehen, Pläne und Ziele nicht ausreichend verfolgt zu haben. Und sie müssen mit sich selbst verhandeln, wann es an der Zeit ist, von Plänen abzulassen und sich neu zu orientieren – sie sind Richter über ihr eigenes Scheitern. Die Freiheit, sich für alles entscheiden zu können, gepaart mit dem Anspruch, Entscheidungen auch umzusetzen, schränkt enger ein als die sprödeste Bürokratie.
Es sei denn, man begnügt sich mit dem schalen Hauch heißer Luft. Auch das kann unterhaltsam sein, manchmal sogar zufriedenstellend – aber diese Haltung trägt Züge eines performativen Widerspruchs, mit dem es sich aber gut leben lässt: In der Umgebung der Bürokratie-Gegner ist es für eine gelungene Macher-Attitüde ausreichend, oft und deutlich genug zu sagen, dass man diese Attitüde für sich beansprucht.
Bürokratie ist ein unverzichtbarer Katalysator für Ideen und Innovation. Wer in Bürokratie ein ernstzunehmendes Hindernis sieht, hatte entweder noch nie eine Idee – oder kam noch nie auf Idee, dass man Ideen auch selbst umsetzen könnte.
Die Situation ist ernst, aber wir können uns nicht mit dem Gedanken anfreunden, die Welt nicht unter Kontrolle zu haben – deshalb müssen wir so tun, all ob wir daran glauben würden, dass Technologie auch die aktuellen großen Probleme lösen wird, deshalb müssen wir noch immer Geschichten mit Happy End erzählen. So oder ähnlich lautete der Befund von Philip Blom diese Woche bei einer Diskussion im Angewandte Interdisciplinary Lab.
Ich habe Zweifel.
Dabei zweifle ich gar nicht so sehr an der Wahrscheinlichkeit eines unkontrollierten Ausgangs unserer aktuellen Multiproblemlagen, ich habe Zweifel an der Tendenz zum Happy End. Die Wort- und Meinungsführer unserer Zeit machen sich in aller Regel kaum noch die Mühe, Happy End-Stories zu entwickeln. Probleme, Meinungen und Situationen sind vielfach auch zu divers um sich darauf einigen zu können, was erstens ein Ende und zweitens happy sein könnte. Statt Stories zu erfinden beschäftigen wir uns mit als Stories erzählten Problemen. Die Diagnose ist die Königsdisziplin in der Diskussionslage unserer Zeit; dass es auch eine Therapie geben könnte, haben wir vielfach vergessen.
Nachdem sich die Diagnose nicht durch eine Therapie oder andere Lösungen als Form des Realitätschecks beweisen kann, braucht sie andere Formen der Selbstvergewisserung. Diese findet sie in der Redundanz.
Immer mehr Menschen wiederholen immer öfter die gleichen Worte. Ich formuliere das gezielt so umständlich, denn ich bin mir nicht sicher, ob sie das gleiche sagen oder dasselbe meinen. Sie verwenden ähnliche, oft idente Worte und Formulierungen, können einander zustimmen, ohne sich über die Bedeutung ihrer Worte austauschen zu müssen und tragen so zur immer weitere Kreise ziehenden Redundanz unklarer Aussagen zu.
Die Aussagen sind vielleicht unzutreffend oder möglicherweise sogar sinnlos – aber wenn alle („alle“ muss hier im Licht des schönen Wortes salient verstanden werden: alle sind die , von denen ich will, dass es alle sind, von denen ich meinen Horizont abstecken lassen möchte) das sagen, dann muss es richtig sein. Wer wäre ich denn, mich dagegen zu stellen?
Redundanz ist tröstlich. Die Wiederholung schafft Vertrautheit und Nestwärme. Und zugleich verstellt sie die mögliche Sicht auf anderen Perspektiven, die zusätzliche Facetten eines Problems erkennen lassen würden, die vielleicht weiteres zu einer Lösung beitragen könnten.
Damit leistet Redundanz, vielleicht ist es ja auch Entropie, auf allen Ebenen das gleiche wie die Sehnsucht nach einem Happy End: Sie tröstet, verstellt den Blick auf das Problem und behütet davor, handeln zu müssen.
Diese Theorieebene mutet ein wenig abstrakt an.
Woran lässt sich das konkret festmachen?
Alle Guten fühlen sich wohl mit Stehsätzen wie „Bildung ist so wichtig“, „Menschenrechte!“ oder: „Wir erleben einen dramatischen Fachkräftemangel.“
Als Menschenrechte erfunden wurden, galten sie nicht für alle Menschen. Bildung hat, je nach Perspektive, eine dynamisch-durchlässige Grenze zu nutzlosem Wissen. Aber bleiben wir beim banalsten praktischen Problem: „Der Fachkräftemangel!“
Diese Bedrohung unseres Wohlstands wird seit gut fünf Jahren thematisiert. Pandemie, Lockdowns, Kurzarbeit, Ausfallszahlungen haben für viele Menschen die rein wirtschaftlichen Grenzen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit weiter verschwimmen lassen. Fachkräftemangel ist seit dem Abklingen der Pandemie ein dominierendes Thema – und eines, das sich auch praktisch bemerkbar macht. Florierende Bäckereien müssen trotz großer Nachfrage Schließtage einführen, weil es an Personal fehlt. Gastronomen können keine zusätzlichen Locations bespielen, weil es an Personal fehlt. Findige UnternehmerInnen können ihre neue App-Idee nicht umsetzen lassen, weil es an Personal fehlt.
Was bedeutet Fachkräftemangel?
Gibt es weniger Menschen? Sind aussterbende spezialisierte Fachkenntnisse gefragt? Sind arbeitende Menschen unverantwortlich gierig?
Oder ist vielleicht das Anstellungsmodell, in dem Fachkräfte üblicherweise gesehen werden, einfach keine heute attraktive Vision mehr? Warum sollen UnternehmerInnen flexible Vertrauensarbeitszeit und Pflegeurlaub und Verkehrszuschüsse und Umzugsfreitage und vierzehn Gehälter und Urlaub und Freistellungen für Amtswege finanzieren? Warum sollten Angestellte Präsenz statt Effizienz bieten, sich von Konkurrenzklauseln beschneiden lassen, mit Mehrfachversicherungen Geld verlieren, Rechte an Innovationen und Ideen an das Unternehmen verlieren oder ihr Leben einer intransparenten Dienstplaneinteilung unterordnen?
Es gibt viel konkrete Möglichkeiten, was die abstrakte Formulierung eigentlich bedeuten könnte.
Die Möglichkeiten liefern viele Angriffspunkte. Ob die Beschäftigung mit diesen Erfolg bringt, ist ungewiss. Viel gewisser ist, dass die redundante Wiederholung der Abstraktion vielmehr Trost bringt. Denn sie schafft Einigkeit und das Gefühl, verstanden zu werden und zu verstehen.
Das ist um einiges tröstlicher, als tatsächlich zu verstehen. Denn dann wird auch klar, dass damit noch nichts gewonnen ist. Es wartet das nächste Problem, oder noch schlimmer: es muss etwas getan werden. Und das sind eher die Gegenteile von Happy Ends, es sind ja nicht mal ordentliche Enden.
Narrativ und Storytelling gelten als Essenz aller Vorhaben. Wiedererkennbare eingängige Geschichten könnten auch ihre Vorteile haben. Sie sind praktische Abkürzungen und Generalisierungen, es sind Vereinfachungen, denen es gelingt, mit wenigen Andeutungen ein gemeinsames Bild zu schaffen, das in den Köpfen aller ähnlich aussieht.
Die Stärke starker Storys sollte es sein, sie spätestens beim dritten Mal nicht mehr erzählen zu müssen. Die Reaktion auf eine zum dritten Mal erzählte Story sollte sein: “Jaja, wissen wir, weiter, was jetzt?” Weil aber Narrative so beliebt und gemütlich sind, wiederholt man sie aber wieder und wieder. Es ist angenehmer, am Lagerfeuer sitzen zu bleiben und Geschichten zu wiederholen.
Insofern könnte man auch infrage stellen, ob es wirklich ein Symptom einzigartig schnellen Technologiewandels ist, dass wir so ratlos sind. Das lähmende Lagerfeuer war für Vilem Flusser schon das Fernsehgerät; Dystopien sind nicht neu. Vielleicht macht es uns ja auch aus, uns in Narrativen zu verlieren.
Die Zukunft, findet Blom übrigens, gehört den Mikroben. Von diesen sind noch keine Narrative bekannt.
Technik soll Ethik lernen – mit dem IEEE 7000 gibt es auch seit einem halben Jahr den passenden Standard dafür. Das klingt vielversprechend. Ethische Überlegungen sollen schon in frühen Phasen, möglichst in der Modellierung von Systemen einfliessen und sicherstellen, dass IT und andere Technik nicht nur einfach den schnellsten und direktesten Weg gehen, sondern auch das Gute für die Gesellschaft im Blick behalten.
Wessen Gutes, muss man da gleich fragen, und was ist eigentlich gut? – Das wären ja Fragen, die ohne weiteres in jedem Konzeptionsprozess gestellt werden könnten. Sie müssten auch gestellt werden, auch wenn das aufwendig und redundant klingt. Es ist schließlich ein zunehmend wichtiges Merkmal, das Technik und vor allem Informationstechnologie auszeichnet: Sie kann praktisch unverändert in unterschiedlichsten Szenarien überall auf der Welt zum Einsatz kommen – und bedeutet dort unter Umständen jedes Mal und immer wieder etwas anderes. Dazu müssen wir keine großen kulturellen Unterschiede zwischen Kontinenten strapazieren. Die unterschiedliche Einstellung verschiedener Menschen, gerade auch von ITlern älterer Semester, zu Smartphones ist schon ausreichend.
Standards sind sinnvolle Prozessrichtlinien. Ethische Standards können Eckdaten vorgeben. Wenn gerade Techniker in Diskussionen soziale Beliebigkeit, Relativismus und „Postmoderne“ beklagen, muss man skeptisch werden. Und gerade das habe ich in den letzten Monaten, seit sich der IEEE 7000-Standard um Bekanntheit bemüht, öfters gehört. Philosophie und Sozialwissenschaften hätten ja die Wahrheit aufgegeben – und deshalb seien Standards wichtig, deshalb müssen eben andere Bereiche einspringen. Das halte ich für ein Missverständnis. Die Möglichkeit, Aussagen zu relativieren, also sie in einen Kontext zu stellen, ihre Gültigkeit im Licht unterschiedlicher Voraussetzungen einzuschätzen, ihre Voraussetzungen und ihre Konsequenzen infrage zu stellen, ist keine Sache von Postmoderne, Beliebigkeit oder Verzicht auf Wahrheit. Das ist im Gegenteil die konsequente Fortsetzung der grundlegendsten demokratischen Prinzipien, das ist nichts anderes als die Weigerung, Autoritäten nur um ihrer Autorität willen zu akzeptieren – und nicht aus sachlichen Gründen, die man feststellen kann, oder aus sozialen oder politischen Gründen, die man verhandeln muss.
Die Aufforderung, diesen „postmodernen“ relativierenden Kram zur Seite zu schieben, unterscheidet sich nur graduell vom Ruf nach neuen Autoritäten – und sie verkennt die sachliche Stoßrichtung von Absolutismus-Kritik. Der angeblich jeden Unsinn als gleichwertige Wahrheit behandelnde Radikal-Relativismus existiert praktisch nur in den Karikaturen seiner Gegner. Selbst radikale Standard-Kritiker wie der besonders gern missverstandene Paul Feyerabend richten ihre Kritik (und die noch lieber missverstandene „Anything goes“ Maxime) auf Methoden, nicht auf Ergebnisse.
Relativismus und „Postmoderne“ (das Konzept funktioniert leider nur noch unter Anführungszeichen) eignen sich also dafür, Autoritäten und andere Wahrheitsquellen auf den Prüfstand zu stellen, um ihnen dann einen nachvollziehbaren Platz zuzuweisen. Das ist grundsätzlich nichts, was beklagt werden müsste. Das vermeintliche Schreckgespenst des Relativismus zu relativieren ist auch eine redundante und teilweise lästige, aber nicht überfordernde Angelegenheit.
Allerdings ist es tragisch, wenn der unbedachte Ruf der Relativismus-Skeptiker nach Autoritäten die Debatte abzukürzen versucht und – gerade bei der Suche nach ethischen Standards und gesellschaftlich nützlicher Technologie – das Ergebnis vorwegnehmen möchte. In einer Diskussion über digitale Kriegsführung stellte unlängst tatsächlich ein Technologiemanager die Vermutung in den Raum, dass die Welt wohl anders wäre, wenn ein tatsächlich (technisch) neutraler, überall erreichbarer Informationskanal Menschen auf der ganzen Welt, vor allem in Russland, die Wahrheit vermitteln würde. – Es müsste doch das Ziel von Technologie im Dienst der Gesellschaft sein, solche Werkzeuge zu schaffen.
Das ist eine süße Vision eines alternden „Realisten“, also eigentlich Absolutisten. Zugleich ist es ein groteskes Beispiel für die Verabsolutierung der eigenen Perspektive, der eigenen Sozialromantik und für die Ignoranz gegenüber Realitäten, die sonst so gern Relativisten und Postmodernen unterstellt wird.
Um die Groteske zu erfassen müssen wir noch gar nicht darüber nachdenken, was in diesem Fall als Wahrheit gelten soll und nach welchen Kriterien sie im Einzelfall festgestellt und verbreitet (oder eben nicht) werden soll. Es würde reichen, uns vor Augen zu führen, dass diese Vorstellung keine Vision der Zukunft ist. Es ist ein Bild aus der Vergangenheit.
Ein neutrales, überall erreichbares, nur minimalen politischen Einflüssen unterliegendes Internet hatten wir schon. Dann haben wir aus verschiedensten Überlegungen – kommerzielle, politische aber auch gut gemeinte soziale über den Nutzen für die Gesellschaft – die Desinformationsmaschine wachsen lassen, die das Internet heute ist. Eine Maschine, die sich aus einer Vielzahl von Perspektiven als das beste für die Gesellschaft erklären lässt – je nachdem, welchen Standards man folgen möchte.
Gegenüber solchen Ansätzen habe ich als Relativist einen weit radikaleren Realismusbegriff als solche Relativismuskritiker, die ihre eigene Vorstellung gern als Wahrheit ansetzen möchten und dabei die Augen davor verschließen, dass die Antwort auf ihre Vision schon lange auf sie wartet. Insofern bin ich skeptisch ob Standards, die Technikern allein überlassen bleiben, nicht-technische Probleme von Technologie lösen können.
Jetzt ist wirklich etwas passiert. – Das erinnert an eine österreichische Kriminalromanserie: Der Autor Wolf Haas ließ seinen Detektiv Brenner neue Fälle stets mit dem Stoßseufzer »Jetzt ist schon wieder etwas passiert« beginnen. Der Seufzer brachte die Mischung aus Abneigung gegenüber neuem, Lust an Leid und Drama und einer morbiden Sehnsucht nach etwas Großem auf den Punkt.
Jetzt ist wirklich etwas passiert – und das lässt praktisch vergessen, dass sich vor gar nicht langer Zeit noch große Teile unserer Gesellschaft in einem ähnlichen morbiden Sehnsuchtsmodus befanden. Vor drei Jahren erschien der Reader »Die große Regression« in vierzehn Sprachen gleichzeitig. Was für ein Knall – und was für Fehleinschätzungen versammelten sich in diesem Band. Intellektuelle mokierten sich über Donald Trump, damals neu gewählter Präsident, und Sebastian Kurz, damals in Warteposition. Beide seien Symbolfiguren inhaltsleerer Politik, reiner Politinszenierung, die den idealen Kontrast zu solider (sozial-)demokratischer Politik böten. Sie seien geradezu die unfreiwilligen Garanten (sozial-)demokratischen Erfolgs.
Rechtspopulistische Wahlerfolge, autoritäre Tendenzen in Osteuropa, erstarkende Faschisten auch im Westen – das bildete auch wieder einen soliden Bodensatz, gegen den sich neues gut abheben könnte. Es sollte Anlass genug sein, Gegenstrategien zu entwickeln, etwas ganz anderes planen zu können.
Klimawandel, stotternde Konjunktur, Preisblasen, die traditionellen Gesetzen der Ökonomie nicht mehr gehorchten, aus dem Tritt kommende Zyklen von Zinsen und Inflation – es gab zahlreiche Diagnosen, die das Andere erwartbar machten, die dazu aufforderten, sich bereit für etwas Neues zu machen.
Aber wo soll man schon anfangen? Wie den ersten Schritt setzen? Wie ein ausreichend starkes Moment erzeugen, das andere mitreißt? Das diejenigen, die die ersten Schritte setzen, nicht als merkwürdige Clowns an den Straßenrand stellt? Das in aller Deutlichkeit jedes Aber ausschließt?
Visionen, Ideen und Plänen blieb ihr größter Bonus, der zugleich ihre große Schwäche ist, erhalten: Sie beziehen sich auf die Zukunft, sie bezeichnen etwas, das sein könnte, wenn es ausreichend unterschiedliche Anlässe gäbe, wenn die Voraussetzungen zuträfen, wenn bestimmte notwendige Bedingungen einträten. Solange das so ist, müssen sie sich nicht an realen Ereignissen messen lassen. Sie haben vielleicht gruppendynamisch wirksamen Motivationscharakter, vielleicht beruhigende Funktion – aber sie kommen selten an den Punkt, an dem über richtig und falsch entschieden werden muss. Das hält sie am Leben.
Mit der Pandemie war wirklich etwas anders, jetzt war wirklich etwas passiert.
Endlich Krise, die so bedrohlich sie auch sein mag, manchen als eine rettende Krise erscheint, als eine, die es erlaubt, alles über Bord zu werfen und sich lächelnd von den Überzeugungen von gestern zu verabschieden.
Gott klopft an unsere Tür, vermutete ein Kardinal.
Ein Sendbote aus der Zukunft macht, ja was eigentlich, ein Terminator-Reenactment?, orakelte ein prominenter Zukunftsforscher.
PolitikerInnen, ehemalige PolitikerInnen, GründerInnen, InvestorInnen – viele ergingen sich in Visionen und Prognosen, dass nun endgültig kein Stein mehr auf dem anderen bleibe, in der Fragestellung, ob das Virus nicht auch etwas Gutes habe oder ob die Krise nicht auch eine Chance böte.
Endlich gab es die rettende Krise, endlich das Ereignis, das alle betrifft und alles Störende außer Kraft setzt.
Eines, das es erlaubt, zu bunten Bildern anzusetzen. Und eines, das alle Visionäre und Propheten der ersten Hürde für alle Visionen und Prophezeiungen enthebt – nämlich jener, erklären zu müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen, warum ihre Vision gerade jetzt die richtige ist. Egal was die Frage war, die Antwort ist: Corona.
Dieser Verzicht auf das Argument befreit ungemein.
Visionen und Prophezeiungen sind spektakuläre Exemplare von Gedankengebäuden, die ohne viel Fundament in die Höhe wachsen. Ihre Kriterien, ihre Währung sind ihre Farben, Versprechungen und Folgen. Welches Bild ist spektakulärer, regt mehr an. Vielleicht eignet es sich für neue Geschäftsfelder? Ihre Herkunft ist weniger relevant.
Visionen haben den Vorteil, den nächsten, naheliegenden Schritt zu überspringen. Das verschafft ihnen Freiheit. Der Nachteil ist: Es nimmt ihnen Nachvollziehbarkeit. Visionen, die schillernde mögliche Ereignisse an einem fernen Horizont beschreiben, überspringen Argumente und Logik. Sie befreien sich forsch aus dem Sumpf ihrer Umgebung. Sie machen sich nicht die Mühe, verständlich zu machen, wie und warum sie zu ihren Folgerungen gekommen sind.
Die 2019 verstorbene Agnes Heller veröffentlichte 2016 den Essay »Von der Utopie zur Dystopie«, das war noch lange vor der Pandemie. Beides, Utopien und Dystopien sind für Heller Produkte der Einbildungskraft, beide verbinden Ansichten ihrer Zeit mit bestimmten »Leidenschaften«. Im Fall von Utopien, schreibt Heller, ist es die Leidenschaft der Hoffnung. Dystopien werden von der Leidenschaft der Furcht getrieben.
In beiden Fällen also nehmen Erzählungen vage Bezug auf die Wahrnehmung der Gegenwart, dann kommen Disposition und Laune als Katalysatoren hinzu – und es entpuppt sich eine Vision.
Es spricht nichts dagegen, meint Heller. Sowohl Utopien als auch Dystopien können unterhaltsam sein. Sie können auch anregend sein. Können sie mehr? Heller bezweifelt das. Sogar das visionäre Element in Utopien und Dystopien sollte Spurenelemente von Wahrscheinlichkeit enthalten, nicht nur Möglichkeit, wenn sie denn wirken möchten, wenn sie den Bezug zu ihrer Ausgangslage nicht verlieren möchten, wenn sie über mehr Auskunft geben möchten als über die Einbildungskraft ihrer AutorInnen.
Post-Covid-ProphetInnen beschäftigen sich weder mit Möglichkeiten noch mit Wahrscheinlichkeiten. Sie ziehen ihre vergessenen Lieblingsvisionen, die zu nahezu jedem Ereignis passen, aus der Tasche, und verpassen ihnen einen neuen Anstrich. Das ist insofern bemerkenswert, als viele dieser coronaspezifische Visionen und Prophezeiungen im Namen der Wissenschaft predigen. VirologInnen, EpidemiologInnen, MathematikerInnen, InformatikerInnen, ÖkonomInnen werden herangezogen, interpretiert, verteufelt, in Medien bloßgestellt oder als Retter charakterisiert. Wissenschaft, Hausverstand und Rationalität sind Leitprinzipien, die viele für sich beanspruchen. Das sorgt allerdings nicht für Einigkeit, Konsistenz oder bessere Verständigung. Es zeigt im Gegenteil, wie großzügig diese Konzepte und ihre Aussagen interpretiert werden können, wie dehnbar sie instrumentalisiert werden können.
VerschwörungstheoretikerInnen liefern die schlüssigsten Argumentationsketten mit den stringentesten Beweisfolgen. Eine Inschrift hier, ein Verwandtschaftsverhältnis dort, ähnliche Formulierungen da, dazu noch simplifizierte Erklärungen komplexer Technologie und aus ihrem Kontext entfernte Zitate – das ergibt erdrückende Beweise, gegen die man sich nur schwer zur Wehr setzen kann.
Jeder Versuch, einem Teilargument zu widersprechen, gibt diesem erst die richtig große Bühne. Der versuchte Widerspruch verschafft dem Argumentssurrogat erst recht Argumentscharakter, indem er es als Argument behandelt, das entkräftet oder widerlegt werden könnte. Und der oder die geübte VerschwörungstheoretikerIn wird immer weiter Belege aus dem Hut zaubern können, denn an Fülle und Überzeugungskraft mangelt es Verschwörungstheorien selten. Sie überspringen die Hürde vom Sein zum Sollen mühelos. Sie verwandeln zwei einander nicht berührende Behauptungen, die nicht einmal wahr sein müssen, in einen sozialen Imperativ, der uns zum Handeln zwingen soll. Sie erzeugen Zusammenhänge, deren wichtigstes Argument »Ist doch klar …« ist.
Das hat der blanken Wissenschaft einiges voraus. Vor allem aber auch jenen, die mit der faktischen Kraft wissenschaftlicher Ergebnisse argumentieren möchten. Der Verweis darauf, dass „die Wissenschaft“ dieses oder jenes sage, sagt noch recht wenig darüber, was nun zu geschehen habe. Wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Bausteine, die bei Entscheidungen behilflich sein können. Sie allein liefern aber keine Hinweise dazu, welche Entscheidungen getroffen werden sollen, sie liefern meist auch wenig Information darüber, welche Themen eigentlich zur Diskussion stehen. Diese Rolle fällt beispielsweise politischen und sozialen Fragestellungen oder Wertentscheidungen zu.
Das bedeutet auch, dass das Beharren auf der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse Gefahr läuft, mystische Untergrundwirkungen zu beanspruchen – oder die politischen und sozialen Fragestellungen außer Acht lässt. Fakten sind Fakten – aber sie sagen uns nur dann, was zu tun wäre, wenn wir uns über das Ziel einig sind.
Hier treffen einander Visionen und Prophezeiungen, schlüssige Verschwörungstheorien und die Apotheose isolierter Fakten. Sie alle überspringen den Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden. Entscheidungen sind bereits getroffen – allenfalls wird nach Möglichkeiten gesucht, sie zu bestärken.
Entscheidungen, Einwände und Argumente verschwinden in der Rumpelkammer. Die Rumpelkammer ist der Ort, aus dem Visionen und Prophezeiungen ihre Kraft beziehen.
Das Problem dabei: Diese Rumpelkammer erfüllt auch in der Wissenschaft einen wichtigen Zweck. WissenschaftshistorikerInnen und -philosophInnen haben in verschiedensten Theorien gezeigt, wie immer auch Platz für das Unpassende geschaffen wird, wie auch in den rationalsten Argumentationsgebäuden Platz für das Irrationale reserviert wird, wie auch klar der Theorie widersprechende Realität eher zum Schaden der Realität gereicht als zu jenem der Theorie. Thomas Kuhn beschrieb Paradigmen als leitende Prinzipien wissenschaftlicher Theorien – reale Widersprüche dagegen konnten als Anomalien in der Rumpelkammer verschwinden. Dort blieben sie zumindest solange, bis neue Theorien die Anomalien plausibler erklären konnten als die bislang geltende Realität. Imre Lakatos ging in seinem Konzept von Wissenschaftstheorie von einem harten Kern jeder Theorie aus, der strengen Regeln unterworfen sei. Rundherum bilde sich im Lauf der Zeit ein Schutzgürtel von Hilfshypothesen, die Unschärfen abfangen, Widersprüche verdaulich machen und Ausnahmen integrieren. Nur mit dieser Toleranz gegenüber Unklarheiten sind Entscheidungen möglich, ansonsten würde jede Theorie von einer Reihe von Kleinigkeiten ausgebremst. Ludwik Fleck verlagerte diese Unschärfen in die Sphäre des Sozialen und wies auf die Kraft prägender Denkstile und Denkkollektive hin, solche Unschärfen aufzulösen oder durch Entschlossenheit zu übergehen. In fraglos auch mit Naturwissenschaften verträglichen Konzepten sprachen Quine und Duhem von Unterbestimmtheit von Fakten, wenn diese nicht im Rahmen einer konkreten Theorie betrachtet werden – ohne Theorie können sie vieles bedeuten. Und es ist tückisch, dass die Theorie, mit der Fakten interpretiert werden sollen, zugleich auch Einfluss darauf hat, welche Fakten überhaupt gesucht und gefunden werden..
Es bleibt also immer ein unaufgeräumter dunkler Bereich übrig, irgendwo ist immer die Rumpelkammer. Sie ist auch notwendig; Dinge, die dort verstaut werden, wären sonst im Weg. Nachdem immer irgendetwas in der Rumpelkammer verschwindet, handeln wir nicht nur aufgrund klarer und argumentierbarer Entscheidungen. Wir entscheiden auch mit Handlungen. Die Unordnung in der Rumpelkammer, in der Unentscheidbares liegt, wird dabei größer.
Die längste Zeit war das kein Problem, die Richtung schien klar. Europäische Geschichte stellte den Anspruch, eine Erfolgsgeschichte sondergleichen und ein Vorbild für den Rest der Welt zu sein. Wachstum schien möglich. Politische Konzepte waren ausgereift und standen zur Wahl. Menschen konnten sich entscheiden, politisch konservativ oder progressiv zu sein, sie konnten sich für Karriere oder Freizeit entscheiden, für Handwerk oder Wissenschaft. Das geriet ins Wanken. Schon mit der Generation X wurde offenbar, dass berufliche und ökonomische Entscheidungen nicht mehr nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren, die Menschen jahrzehntelang gewohnt waren. Es ging nicht immer aufwärts. Klimafragen ließen erkennen, dass aller Wahlmöglichkeit trotz aller technischen und finanziellen Mittel immer noch Grenzen gesetzt sind: Ein lebensfreundlicher Planet ist noch immer eine unhintergehbare Bedingung für alle Menschen. Flucht-, Reise- und Migrationsbewegungen machten offenbar, dass die scheinbar universellen Rahmenbedingungen für viele Menschen völlig bedeutungslos sind. Sie leben in der gleichen, aber doch völlig anderen Welt, in der andere Fragestellungen ungleich relevanter sind – und sie sind nicht mehr weit weg, nicht mehr nur eine tragische, aber leicht zu vergessende Randnotiz.
Es war möglich, Entscheidungen zu treffen oder Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Man konnte Grenzen ziehen – geografische, zeitliche – und sich so im wahrsten Sinn des Wortes abgrenzen. Es betraf nicht uns, es betraf andere, wir würden es nicht mehr erleben.
Die Tür zur Rumpelkammer unserer Entscheidungen steht offen und ungelöste Fragen machen sich lautstark bemerkbar.
Es wird offensichtlich, dass jetzt – und schon längere Zeit – scheinbar erfolgversprechende Rezepte nicht mehr funktionieren. Staatliche Wirtschaftshilfen illustrieren, wie wenig staatliche Eingriffe abgesehen von der Bereitstellung von Rechtsordnung und Infrastruktur tatsächlich beitragen können, um Volkswirtschaften auf die Sprünge zu helfen. Politische Konzepte verlieren sich in Orientierungslosigkeit. Konservative können keine Ziele jenseits von Machterhalt und Machtgewinn formulieren. Sozialisten benennen wichtige Probleme, verstärken diese aber, statt sie zu lösen, indem sie Konzepte aus dem vorigen Jahrtausend predigen. Die Einschränkung von Grundrechten wird gegen das Überleben ausgespielt. Und viel von dem, was vor kurzem noch smart und praktikabel schien – Leben auf wenig Raum, grenzüberschreitende Mobilität, Just-in-time-Produktion – wird zum Ärgernis, wenn es keine Alternative gibt.
Jetzt öffnet sich also möglicherweise tatsächlich Spielraum. Jetzt könnten sich tatsächlich Verhältnisse ändern, jetzt könnten andere Schwerpunkte notwendig werden.
Und das sind wir nicht mehr gewohnt. Es war nicht so wichtig. Es ging ja um nichts, es ist ohnehin nie etwas passiert. Entscheidungen hatten wenig Konsequenzen, der Spielraum war zu klein und es blieb alles im Rahmen.
Heute stehen wir in manchen Ländern vor Arbeitslosenraten wie nach dem letzten Weltkrieg. Alte Konzepte wie die Ankurbelung von Nachfrage zur Belebung der Wirtschaft funktionieren nicht, weil es zu wenig Angebot gibt. Das wiederum liegt an durchbrochenen Lieferketten, großer Planungsunsicherheit, unklaren Regeln – und einer gewissen Müdigkeit.
Die Frage »Was jetzt?« könnte tatsächlich relevante Antworten brauchen. Und stattdessen müssen wir uns mit Visionen und Prophezeiungen auseinandersetzen.
Sind Visionen und Prophezeiungen nicht hilfreich? Sie zeigen uns Wege, eröffnen neue Perspektiven und fordern uns auf, uns auf Neues einzulassen. Vielleicht sind wir für das Neue sogar besser gerüstet, wenn wir uns mit Visionen und Prophezeiungen beschäftigen. Aber welcher Logik folgen Visionen und Prophezeiungen? Wie überspringen sie die Hürde vom Sein zum Sollen (und wieder zurück) anders als Verschwörungstheorien?
Visionen und Prophezeiungen werfen ein Bild in die Zukunft. Dieses Bild soll dann Anleitung geben, wie wir uns in der Gegenwart verhalten. Das ist riskant. Denn das Bild ist ohne viel Zusammenhang zur Gegenwart entstanden – manchmal aus einer Laune heraus, weil jemand es so wollte, weil jemand diese Vision interessant oder erstrebenswert fand.
Was fehlt, ist die Notwendigkeit.
Projektmanager kennen das aus oft bemühten Karikaturen, in denen ein ansonsten stringenter Projektplan, der aber nie in der gewünschten Zeit zum erwünschten Ergebnis führen würde, irgendwo die Markierung enthält: »Und hier geschieht ein Wunder«. Dieser Punkt löst alle Probleme, überwindet Hürden und setzt gewohnte Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Der Weg ist nicht mehr das Ziel; es zählt ausschließlich das Ergebnis.
Visionäre bedienen sich oft ebenfalls dieser Möglichkeiten – und das eröffnet Verlockungen. In den zweiten und weiteren Wellen der Pandemie sind sogar die ProphetInnen und VisionärInnen müde geworden. Es ist deutlich leiser als noch im Frühjahr 2020.
Jetzt ist die Zeit, sich über Gewohntes hinwegzusetzen. Gewohntes verspricht keinen Erfolg mehr.
Stattdessen könnten wir irgendetwas ausprobieren.
Das ist, was die vergangenen Jahrzehnte recht risikolos praktiziert wurde. Wir konnten irgendetwas ausprobieren, das meiste hatte kaum Wirkung, Scheitern gehörte dazu und wurde zu einer eigenen Kultur. Das war nicht tragisch, weil die Rahmenbedingungen recht unverändert blieben. Es stand trotz aller großen Geste nicht viel zur Debatte. Im Gegenteil: Es schien, die Geste wurde umso größer, je klarer war, dass wenig darauf folgen würde. Die Selbstkritik Arrivierter, die, nachdem sie sich Erfolg konsequent nach allen Regeln des Spiels erarbeitet haben, nun das Spiel kritisieren, ist dafür ein plakatives Beispiel – seien es spitze Reden bei Oscar-Verleihungen, sendungsbewusste Ex-Journalisten in der Politik oder Ex-Politiker auf missionarischer Selbstfindungsreise.
Der Form nach nützen wir diesen Spielraum schon längst. Alte Autoritäten haben an Relevanz verloren, Religion oder Tradition schaffen es kaum noch, Schreckgespenster an die Wand zu malen. Alle können sich selbst Stimme verleihen und Position beziehen. Aktivisten stilisieren sich als Wissenschaftler, Politiker als Anführer von Bewegungen. Alle können Raum greifen.
Was allerdings fehlt, sind verbindende Elemente zwischen all diesen besetzten Räumen.
Solange nichts geschehen konnte, was das egal. Je größer der Spielraum wird, desto wichtiger werden Möglichkeiten, die wachsenden Zwischenräume zu überbrücken.
Corona-Visionen und -Prophezeiungen sind nur ein Beispiel für auseinanderdriftende Zwischenräume, die Verbindung und Verständigung erschweren. Der Verzicht auf Argumente lässt sich in vielen anderen Fällen beobachten. Argumente, Zusammenhänge und Logik sind unnötig beschwerender Ballast, den Visionen gern hinter sich lassen. Fallweise ist zusammenhanglose Absurdität geradezu ein Erfolgsfaktor: Wer auf seiner Story bleibt, Einwände und widersprechende Fakten ignoriert und sich nicht beirren lässt, ist geradlinig, konsistent und glaubwürdig. – Das beobachten wir in politischer Kommunikation heute – gerade bei jenen, deren absurde Irrationalität ihren Gegnern noch vor wenigen Jahren eine Verheißung erschien.
Ignoranz, früher ein Makel der altmodischen Mächtigen, ist heute ein wichtiger Skill, um auf Schiene zu bleiben. Ignoranz füllt die Rumpelkammer ihrer eigenen Entscheidungen großzügig.
Coronabedingte Unsicherheit beschleunigt einen Prozess, dessen Zeugen wir gerade werden: Es entsteht die neue Kulturtechnik des Behauptens.
Behaupten ist eine vielschichtige Form des Aussagens. So vielschichtig, dass uns der Begriff »Behauptung« selten ohne ein begleitendes Adjektiv begegnet. Wir kennen gewagte Behauptungen, bloße Behauptungen – diese Beispiele zeigen, dass Behauptungen nicht immer den besten Ruf haben.
Wir kennen aber auch Selbstbehauptung oder die Möglichkeit, sich zu behaupten oder sich gegen etwas oder jemanden, meist eine Bedrohung, zu behaupten. Das sind Fälle, in denen der Begriff der Behauptung eine produktive, kreative Komponente bekommt.
Beiden Arten des Behauptens ist gemein, auch ohne viel Verbindung zur Außenwelt funktionieren zu können. Gewagte oder bloße Behauptungen zeichnen sich gerade dadurch aus, nicht viel auf Fakten zu geben. Selbstbehauptung oder das Sich-gegen-etwas-Behaupten konzentrieren sich auf eigene Positionen, setzen eigene Ansichten durch und brauchen andere allenfalls als Reibfläche.
Behaupten reduziert die Funktion und die Möglichkeiten der anderen. Sie sind Publikum. Die Aufgabe der anderen ist es, Beifall zu spenden, vielleicht auch, sich in Shitstorms zu verwickeln – jedenfalls sollen sie Reaktion zeigen. Reaktion braucht keine inhaltliche Qualität – sie muss in erster Linie auffällig und reichweitenfördernd sein, dann ist sie gut.
Das ist die nun schon lange eingeübte Logik öffentlichkeitsorientierter Kommunikation, die durch digitale Medien noch einen besonderen Anschub erfahren hat. Aufmerksamkeit und Beachtung sind wichtiges Kapital, das am leichtesten durch auffällige Inszenierungen und Behauptungen gewonnen und vermehrt wird. Sinn dieser Inszenierungen und Behauptungen ist es nicht mehr, Aussagen zu treffen, sondern Beachtung zu finden. Das ist die auf die Spitze getriebene Ökonomie der Aufmerksamkeit.
Die kreativen und produktiven Komponenten des Behauptens waren ursprünglich dort angesiedelt, wo Grenzen zu überwinden waren, wo neue Wege gesucht wurden. Populär- und Subkulturen waren die ersten großen Bühnen der Selbstbehauptung. Heute sind weitaus mehr Lebensbereiche kreativiert, Kulturkomponenten sind allgegenwärtig und von der Wahl beliebiger Accessoires wie Turnschuhe oder Trinkflaschen über Alltagshandlungen wie Lokalwahl oder Lebensmitteleinkauf ist vieles einkreativerAkt der Selbstbehauptung, der zur Bildung und Präzisierung von Identitäten beiträgt. So sind auch Handlungen Behauptungen geworden.
Behauptungen sind eine angemessene Technik, sich Beachtung zu verschaffen. Behauptungen entsprechen den Anforderungen der Öffentlichkeit – sie liefern klare Ansagen, sorgen für Unterhaltung und bieten schnell wechselndes Programm. Sie sind ein probates Mittel, Ambivalenz aus dem Weg zu räumen. Als klare Ansagen sind Behauptungen in der Regel eindeutig. Was nicht bedeutet, dass sie konsistent sein müssen: Am nächsten Tag oder schon wenige Klicks später kann alles anders aussehen; es gibt neuen Stoff für das Publikum. Behauptungen binden die Behauptenden nicht: Sie sind weder von Fakten noch von Geschichte eingeschränkt oder belastet. Entschlossene Behauptungen lassen diesen Ballast hinter sich.
Damit geben sie auch Verbindungen zu Mitmenschen, zu Argumenten oder Logik auf. Behauptungen verzichten darauf, verstanden werden zu können. Sie müssen keine Probleme lösen, nichts erklären, keine Verbindungen zu anderen Positionen herstellen. Sie müssen nur auffallen und unterhalten.
Das gilt auch für Visionen und Prophezeiungen rund um die Pandemie. Sie stellen Behauptungen in den Raum, deren vorrangige Funktion es ist, auffällig zu glänzen. Das ist weder neu noch einzigartig. Es ist nur ein exemplarischer Moment, in dem viele geradezu sehnsüchtig auf neue, noch glänzendere, auffälligere Behauptungen warten.
Behauptungen liefern Antworten, ohne gefragt zu haben, sie bieten Lösungen für Probleme, die es so nicht gibt. Das ist angesichts von Ratlosigkeit verlockend. Das erklärt die Beliebtheit von Behauptungen in turbulenten Zeiten. Entschlossenheit wird als Weisheit verstanden, als richtungsweisend.
Das ist lösungsorientiert, erfolgversprechend und zukunftsgerichtet. Und es überspringt die Mühen der Entscheidung und der Argumentation. Behaupten ist die natürliche Tätigkeit des gesunden Hausverstands, der überflüssige Gedanken scheut und schnell zur Sache kommt. »Ist halt so«, »Ist doch klar«, »Ist doch logisch« sind die Mantren dieser Kulturtechnik.
Das kann praktisch und angemessen sein, wo schnelle Entscheidungen notwendig sind. Es kann aber ein riskanter Blindflug sein, wo Entscheidungen zur Lösung relevanter Probleme beitragen sollen, wo Entscheidungen auf Analysen, Argumenten und Zielsetzungen beruhen.
Durch den Verzicht auf Argumente und logische oder historische Bezüge berauben uns Behauptungen der Möglichkeit, zu verstehen. Das ist nicht ihr Anliegen. Ihre Anliegen sind Beachtung, Beifall und Tempo. Die Techniken des Behauptens stehen allen offen. Damit finden alle den Weg ins Rampenlicht. Je mehr Menschen sich aber der Techniken des Behauptens bedienen, desto weiter sinken die Chancen auf Verstehen und Verständigung. Behauptungen schaffen isolierte Inseln, die ihre Umgebung nicht beachten. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, auf die eigene Story einzuzahlen, die eigene Positionierung zu stärken.
ErklärerInnen, PolitikerInnen, MoralistInnen, auch WissenschaftlerInnen – viele beklagen häufig Spaltung. Verschiedene Menschen fänden keinen Draht mehr zueinander. Logik, Fakten, Moral – das seien keine relevanten Kriterien mehr. Wir müssten einen Weg zurück finden. Uns besinnen.
Wege zurück haben allerdings noch selten dorthin geführt, wo Menschen, die mit dem Schritt zurück nach vorne wollten, ihr Ziel gesehen haben.
Funktionierende Kulturtechniken dagegen erfüllen ihren Zweck. Sie sind in der Regel Reaktionen auf Anforderungen oder Ansichten ihrer Zeit, wie es Agnes Heller nannte. Sie lösen Probleme, setzen sich durch und gestalten. Sie wissen, was sie in der Rumpelkammer lassen und was sie von dort bei Bedarf hervorholen. In der Rumpelkammer sind missglückte Argumente, störende Einwände, widersprüchliche Tatsachen – all das, was beim Formulieren einer entschlossenen Behauptung stört. Bis es bei Bedarf wieder hervorgeholt wird, weil es irgendeine Behauptung unterstützen kann, weil es einen unliebsamen Einwand entkräftet oder ihn zumindest auf eine lange Reise voll schwieriger Argumente schickt.
Wer das Arsenal seiner Rumpelkammer beherrscht, Beiseitegelegtes hervorholt, anderes aus dem Weg räumt, Störendes schnell wegwirft, kann schneller neue Visionen, Prophezeiungen und Utopien formulieren, als andere durch Instagram scrollen können.
Das ist auch eine Fähigkeit, vor allem in Zeiten, in denen sich alles so schnell zu ändern scheint.
Die Kulturtechnik des Behauptens erlaubt es, einander zu bewundern, zu verachten, zu übertönen, zu ignorieren, auszulachen, zu beschuldigen, bloßzustellen, auf die Schulter zu klopfen. Was sie nicht erlaubt, ist ein Problem zu erfassen, andere Sichtweisen gelten zu lassen, andere Positionen zu verstehen – das gehört nicht zu ihrem Repertoire.
Das überspringt die Kulturtechnik des Behauptens, so wie Visionen und Prophezeiungen ihre Gründe und Erklärungen überspringen. Beide gehen gleich zur Gewissheit über. Das ist ein Problem – vor allem wenn alle einander immer wieder versichern, wie zunehmend ungewiss und unsicher alles wird …
Informatik ist eine Kulturtechnik – computational know how hilft, sich besser in der Welt zurechtzufinden. Dieser Gedanke setzt sich zunehmend durch und findet seinen Niederschlag in bildungspolitischen Forderungen nach mehr, früherem und besserem Informatikunterricht in den Schulen, im Verlangen nach Interdisziplinarität, die Informatik nicht nur als hilfreichen Problemlöser wie einen Taschenrechner betrachtet und im Anspruch, Informatik als die Grundlagenwissenschaft unserer Zeit zu betrachten (so wie es früher Astronomie, Theologie oder Physik waren).
In diesem Fahrwasser schwimmt eine neue Technikgläubigkeit mit, die nicht nur digitale Technologie als Problemlöser schlechthin verehrt, sondern im Tech-Marketing auch eine neue intellektuelle Messlatte sieht, die das geistige Leben bestimmt. Die weit ausholenden Pitches von Tech-Giganten oder Startups und deren Versprechen und ideologische Visionen gelten als neue Philosophie, die erklärt, warum und wie plötzlich so vieles möglich wird. Dass diese Pitches und Predigten gemeinhin nichts erklären, sondern bestenfalls Behauptungen in den Raum stellen, bleibt dabei gern unbeachtet auf der Strecke.
Adrian Daub untersucht diese Entwicklung in „What Tech Calls Thinking“ und macht sich auf die Suche nach den Vorläufern dieser Erfolgsgeschichte.
Zentrale Figuren in dieser Linie sind Ayn Rand und der eigentlich schon wieder vergessene René Girard. Ayn Rand ist für Daub die Urmutter der rebellischen Pose, die sich weniger mit Verhältnissen oder Grundlagen beschäftigt, gegen die es zu rebellieren gelte, sondern mit der Inszenierung als Rebell. Dabei reichen persönliche Veränderungen, Beschriftungen – und Konsum. Wer ungern Steuern zahlt ist mit Ayn Rand kein korrupter Steuerbetrüger, sondern ein Rebell, der Zeichen gegen die totalitaristische Gleichmacherei des Staats setzt. Wer die richtigen wiederbefüllbaren Trinkflaschen verwendet, ist ein Öko-Aktivist. Wer die richtigen Tech-Gadgets verwendet, die alle verwenden, ist ein reflektierter Individualist, dem man nichts vormachen kann.
Die Pose des Rebellen kann vor allem dann umso leichter eingenommen werden, wenn die passende Ideologie alle anderen als gleichförmige graue Masse betrachten kann, von der man sich selbst dank bestimmter Einsichten abheben kann.
Das Rüstzeug dafür lieferte René Girard, der laut Daub vor allem Peter Thiel beeinflusst haben soll. Auf Wikipedia wird Girard als „Historiker und Polymath“ bezeichnet – Polymathie ist eine freundliche Umschreibung für Universaldilettantismus; die Herausgeber früher wissenschaftlicher Zeitschriften des 17. Jahrhunderts, die sich buchstäblich mit Gott und der Welt beschäftigen, galten als Polymathen (einen Überblick zur wissenschaftlich literarischen Medienbubble des 17 und 18. Jahrhunderts gibt es übrigens hier, eine punktuelle Auseinandersetzung mit einigen Polymathen der Aufklärung hier).
Als Polymath entwickelte Girard die Theorie des mimetischen Begehrens. Kurz erklärt: Alle wollen das gleiche. Das ist nun kein unplausibles Phänomen, auch der mimetische Aspekt (wir sehen (oder glauben), dass jemand dank der Erfüllung seines Begehrens glücklich wird und begehren ähnliches) ist nicht weltfremd.
Fragwürdig ist allerdings, darauf weist Daub hin, wie sich die Verabsolutierung dieser Diagnose argumentieren lässt, noch fragwürdiger ist, wie sich, wenn das Prinzip absolut gilt, dann doch einzelne Wissende diesem entziehen können.
Daub sieht in dieser kunstvollen Inszenierung den Archetyp des Pitches, wie es ihn seit den Zeitalter der Homeshopping-Fernsehkanäle gibt: Ein belangloses Problem wird zur unüberwindlichen Hürde erhoben, eine beliebige Idee wird zum allgemein gültigen Prinzip stilisiert, aus einer punktuellen Problemlösung wird die Zukunftsvision der Menschheit destilliert (wobei dahingestellt bleiben muss, ob das gelöste Problem eines war).
Das verlockende und gleichzeitig besonders perfide an diesem Spiel ist: Alle können mitmachen. Wenn Form, Stil und Pose passen, steht es allen offen, in diesem Chor der Begeisterung mitzusingen. Es wäre in Gegenteil überaus unsportlich und ein Zeichen von schlechtem Benehmen, auf Schwächen in der Erzählung hinzuweisen, Fragen zur Relevanz zu stellen oder die allgemeine Begeisterung nicht zu teilen.
Einer der zentralen Begriffe des Tech-Diskurses, an dem diese Phänomene mühelos durchdekliniert werden können, ist etwa „Disruption“: Vom großen Versprechen, alles von Grund auf zu ändern, bleibt in der Regel eine Ayn-Rand-hafte Pose, die Bestehendes ein wenig anders arrangiert und eventuell neu einfärbt.
Wo es um Technik zu zeitgemäße Medien geht, ist natürlich auch McLuhan nicht weit. Daub schlägt dabei vor, McLuhans Diagnose des Primats von Medium über Message (was zählt, ist die mediale Form, der Content ist Nebensache) auf Plattformen und Social Media anzuwenden: Reich und berühmt wird nicht, wer Inhalte schafft und Medien am Leben erhält – die Erfinder und Betreiber der Plattformen gelten als die Medienvisionäre der Zukunft. Ihre Relevanz beruht dabei auf formalen Kriterien wie Reichweite, Reichtum und Wachstum. Inhalte und Innovation sind nebensächlich.
Daub analysiert mit großer Schärfe, detaillierter Recherche und viel Wissen Kommunikationsmodelle, die wohl vielen BeobachterInnen schon übel aufgestoßen sind, die aber kaum noch so klar beschrieben und vor allem so stringent hergeleitet wurden. Seine Untersuchung lässt erahnen, wie weit diese Kommunikations- und Denkmuster auch andere Bereiche beeinflussen: Journalismus, Politik, politische Analyse verfallen zunehmend Alles-oder-nichts-Mustern, in denen die eigenen (im Sinn von Ayn Rand selbst geschaffenen) Weltbilder die letzte Instanz sind, die über Realität oder Illusion entscheiden – und in denen gegen Feindbilder angeschrieben wird, die zuvor selbst erstellt wurden. Man denke nur an den Alltag auf Plattformen des sozialen Allwissens wie Twitter oder an „Journalisten“, die den Kommentar für die wichtigste Mediengattung halten.
Data Science ist Handwerk. Und wie bei den meisten handwerklichen Tätigkeiten fließt der meiste – und am wenigsten beachtete – Aufwand in die Vorbereitung. Ohne saubere Schnittstellen im Material kann nicht ordentlich geschweißt werden, Anstriche auf der falschen Grundierung halten nicht und ohne ausreichend gesammelte, vorbereitete und aufbereitete Daten führen auch die fortgeschrittenste Mathematik oder erprobte Algorithmen nicht zu nennenswerten Ergebnissen. Das ist eine der Kernaussagen von John Kellehers und Brendan Tierneys Grundlagentext zu Data Science.
Ein entscheidender Faktor für gelingende oder scheiternde Data Science Projekte steht also ganz am Anfang, ein anderer steht am Ende: Die Integration in relevante Prozesse ist, wie in vielen Fällen technisch-organisatorisch-inhaltlicher Projekte, ausschlaggebend dafür, ob Ergebnisse als sinnvoll empfunden werden. Leisten sie das nicht, dann gelten die trotz aller technischen Finesse schnell als fehlgeschlagene Zeitverschwendung.
In Hinblick auf eine kritische Auseinandersetzung mit Data Science und mit anderen mit Daten verknüpften Verheißungen, wie sie etwa Open Data bietet, zeigen sich Kelleher und Tierney als Skeptiker. Data Science könne viele Antworten liefern, allerdings sei es sehr leicht und wahrscheinlich, die falschen Fragen zu stellen. Data Science, Analyse und Statistik müssen von fachspezifischem Knowhow begleitet werden, um sinnvolle Ergebnisse zu liefern. Die laufend – in mehreren Iterationen – notwendige Kontextualisierung von Daten ist ein wesentliches Element diverser Hierarchie-Pyramiden, mit denen Kelleher und Tierney Data Science-Prozesse beschreiben. In der DIKW (Data-Information-Knowledge-Wisdom)-Pyramide stehen Daten als Abstraktionen auf der untersten Stufe, ihnen folgt Information. Beim Schritt von Daten zu Information wurden Daten verarbeitet, strukturiert und kontextualisiert, um für Menschen verständlich zu sein. Information wird zu Wissen, indem Information interpretiert und verstanden wird und Handlungsgrundlage werden kann. Wissen schließlich wird zu Weisheit, also zum angemessenen Handeln aufgrund von Wissen. Diese Hierarchie macht deutlich, wie weit eine pragmatische, kontextorientierte und auf Handlungen und Wirkung abzielende Perspektive relevant ist, um Sinn aus Daten zu stiften. Das ist schlüssig. Allerdings fehlt in der Darstellung von Kelleher und Tierney jeder Hinweis auf einen möglichen Bezug zu Objekten, Realität oder anderen Begriffen, mit denen sich Sphären außerhalb von Daten beschreiben lassen. Es wäre also egal, ob Information und Wissen wahr oder auch nur wahrheitstauglich sind; sie können trotzdem die Stufe der Weisheit erreichen. Philosophen wie Luciano Floridi melden dagegen Einspruch an; für Floridi müssen Daten als Information zumindest so wahr sein, wie eine Landkarte wahr ist. “Adäquates Handeln auf der Basis von Wissen”, so definieren Kelleher und Tierney Weisheit, ist kein Gegensatz dazu; allerdings bringt die Formulierung einige Probleme rund um Fragen der Adäquatheit mit sich.
Adäquatheit muss allerdings keine direkt eindeutige Relation sein; Adäquatheit wie Kelleher und Tierney sie im Data Science-Kontext beschreiben, kann auch als Viabilität funktionieren, wie Glasersfeld sie als Qualitätskriterium für Begriffe und Annahmen im radikalen Konstruktivismus beschreibt. Ein Indiz dafür ist die Betonung experimenteller Ansätze und der Iteration, die Kelleher und Tierney häufig wiederholen. Unterschiedliche Settings oder die Anwendung unterschiedlicher Algorithmen liefern unterschiedliche Ergebnisse – es liegt an der Anwendung, am Kontext und an der Einschätzung des Experten, welche davon angemessen sind. Mehrfache Iterationen machen die Entscheidungen dabei besser.
Daten sind also Material, aus dem Information gewonnen werden kann. Weder in der Sammlung von Daten noch in deren Weiterverarbeitung lässt sich allerdings ein den Prozess beeinflussender Bias vermeiden. Damit wenden sich Kelleher und Tierney gegen die Vorstellung einer neutralen und ausschließlich sachlich vorgehenden Data Science. Sie gewinnen der Vorstellung einer modellfrei und hypothesenlos forschenden Wissenschaft nichts ab; jede Datensammlung folgt einem Modell und jede Interpretation einer Hypothese. Sie wenden sich allerdings auch gegen die Vorstellung einer diesen Bias gezielt eliminierenden Data Science oder gegen den Einwand Bias sei immer sozial und politisch geprägt und könne so auch aufgelöst werden. Ohne Bias – der Entscheidungen in eine bestimmte Richtung treibt – lernen Maschinen im Machine Learning nichts, sie können keine Entscheidungen treffen, sondern nur Daten memorieren. Es liegt an Data Scientists, den jeweils aktuellen Bias und dessen Konsequenzen erkennen und einschätzen zu können – im übrigen ein Task, der nur noch wenig mit Informatik und Mathematik zu tun hat.
Einen anderen problematischen Begriff verwenden Kelleher und Tierney ebenfalls nur mit Einschränkungen – lassen dabei aber meines Erachtens noch zu viel Spielraum: Sie beschreiben Daten als Rohmaterial und verwenden öfter den Begriff “roh” im Zusammenhang mit Daten, auch wenn sie dabei zugleich stets einschränken, dass Daten gewonnen werden, sei es durch Abstraktion, durch Kategorisierung oder durch Beobachtung nach einem gewissen Schema. Daten sind immer schon verarbeitetes Material, sie sind niemals roh. “Raw Data is an Oxymoron”, beschreibt es Lisa Gitelman; Luciano Floridi experimentiert mit Begriffen wie Capta oder Relata, um mit dem Nimbus des Ursprünglichen, Unverfälschten von Daten aufzuräumen. Kelleher und Tierney vertreten keineswegs die Einstellung, Daten wären unverfälschtes Rohmaterial. Sie machen das meines Erachtens allerdings wenig deutlich. Menschen, die Entscheidungen gern Daten und Fakten überlassen möchten, die in der Politik nach Evidenz rufen oder soziale Fragen “mit Wissenschaft” entscheiden möchten, werden in Kellehers und Tierneys Formulierungen keinen Widerstand finden.
Das zeigt, wie wichtig zusätzlich zum fachlich-technischen Knowhow weitere Perspektiven in der Einschätzung Data Science-relevanter Fragen sind. Ein neues und wohl noch zukunftsträchtiges Konzept dazu bietet Sabina Leonelli mit data journeys, einer Perspektive, die vor allem Augenmerk auf die Geschichte, Entstehung, Verwendung und Veränderung von Daten legt und sich von Rob Kitchins data assemblages dadurch unterscheidet, dass die mehrfache Nutzung und Veränderung von Daten besser abgebildet werden kann.