Die Pandemie und die Kulturtechnik des Behauptens

Jetzt ist wirklich etwas passiert. – Das erinnert an eine österreichische Kriminalromanserie: Der Autor Wolf Haas ließ seinen Detektiv Brenner neue Fälle stets mit dem Stoßseufzer »Jetzt ist schon wieder etwas passiert« beginnen. Der Seufzer brachte die Mischung aus Abneigung gegenüber neuem, Lust an Leid und Drama und einer morbiden Sehnsucht nach etwas Großem auf den Punkt.

Jetzt ist wirklich etwas passiert – und das lässt praktisch vergessen, dass sich vor gar nicht langer Zeit noch große Teile unserer Gesellschaft in einem ähnlichen morbiden Sehnsuchtsmodus befanden. Vor drei Jahren erschien der Reader »Die große Regression« in vierzehn Sprachen gleichzeitig. Was für ein Knall – und was für Fehleinschätzungen versammelten sich in diesem Band. Intellektuelle mokierten sich über Donald Trump, damals neu gewählter Präsident, und Sebastian Kurz, damals in Warteposition. Beide seien Symbolfiguren inhaltsleerer Politik, reiner Politinszenierung, die den idealen Kontrast zu solider (sozial-)demokratischer Politik böten. Sie seien geradezu die unfreiwilligen Garanten (sozial-)demokratischen Erfolgs. 

Rechtspopulistische Wahlerfolge, autoritäre Tendenzen in Osteuropa, erstarkende Faschisten auch im Westen – das bildete auch wieder einen soliden Bodensatz, gegen den sich neues gut abheben könnte. Es sollte Anlass genug sein, Gegenstrategien zu entwickeln, etwas ganz anderes planen zu können. 

Klimawandel, stotternde Konjunktur, Preisblasen, die traditionellen Gesetzen der Ökonomie nicht mehr gehorchten, aus dem Tritt kommende Zyklen von Zinsen und Inflation – es gab zahlreiche Diagnosen, die das Andere erwartbar machten, die dazu aufforderten, sich bereit für etwas Neues zu machen. 

Aber wo soll man schon anfangen? Wie den ersten Schritt setzen? Wie ein ausreichend starkes Moment erzeugen, das andere mitreißt? Das diejenigen, die die ersten Schritte setzen, nicht als merkwürdige Clowns an den Straßenrand stellt? Das in aller Deutlichkeit jedes Aber ausschließt? 

Visionen, Ideen und Plänen blieb ihr größter Bonus, der zugleich ihre große Schwäche ist, erhalten: Sie beziehen sich auf die Zukunft, sie bezeichnen etwas, das sein könnte, wenn es ausreichend unterschiedliche Anlässe gäbe, wenn die Voraussetzungen zuträfen, wenn bestimmte notwendige Bedingungen einträten. Solange das so ist, müssen sie sich nicht an realen Ereignissen messen lassen. Sie haben vielleicht gruppendynamisch wirksamen Motivationscharakter, vielleicht beruhigende Funktion – aber sie kommen selten an den Punkt, an dem über richtig und falsch entschieden werden muss. Das hält sie am Leben. 

Mit der Pandemie war wirklich etwas anders, jetzt war wirklich etwas passiert. 

Endlich Krise, die so bedrohlich sie auch sein mag, manchen als eine rettende Krise erscheint, als eine, die es erlaubt, alles über Bord zu werfen und sich lächelnd von den Überzeugungen von gestern zu verabschieden. 

Gott klopft an unsere Tür, vermutete ein Kardinal. 

Ein Sendbote aus der Zukunft macht, ja was eigentlich, ein Terminator-Reenactment?, orakelte ein prominenter Zukunftsforscher. 

PolitikerInnen, ehemalige PolitikerInnen, GründerInnen, InvestorInnen – viele ergingen sich in Visionen und Prognosen, dass nun endgültig kein Stein mehr auf dem anderen bleibe, in der Fragestellung, ob das Virus nicht auch etwas Gutes habe oder ob die Krise nicht auch eine Chance böte.

Endlich gab es die rettende Krise, endlich das Ereignis, das alle betrifft und alles Störende außer Kraft setzt. 

Eines, das es erlaubt, zu bunten Bildern anzusetzen. Und eines, das alle Visionäre und Propheten der ersten Hürde für alle Visionen und Prophezeiungen enthebt – nämlich jener, erklären zu müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen, warum ihre Vision gerade jetzt die richtige ist. Egal was die Frage war, die Antwort ist: Corona. 

Dieser Verzicht auf das Argument befreit ungemein.

Visionen und Prophezeiungen sind spektakuläre Exemplare von Gedankengebäuden, die ohne viel Fundament in die Höhe wachsen. Ihre Kriterien, ihre Währung sind ihre Farben, Versprechungen und Folgen. Welches Bild ist spektakulärer, regt mehr an. Vielleicht eignet es sich für neue Geschäftsfelder? Ihre Herkunft ist weniger relevant. 

Visionen haben den Vorteil, den nächsten, naheliegenden Schritt zu überspringen. Das verschafft ihnen Freiheit. Der Nachteil ist: Es nimmt ihnen Nachvollziehbarkeit. Visionen, die schillernde mögliche Ereignisse an einem fernen Horizont beschreiben, überspringen Argumente und Logik. Sie befreien sich forsch aus dem Sumpf ihrer Umgebung. Sie machen sich nicht die Mühe, verständlich zu machen, wie und warum sie zu ihren Folgerungen gekommen sind. 

Die 2019 verstorbene Agnes Heller veröffentlichte 2016 den Essay »Von der Utopie zur Dystopie«, das war noch lange vor der Pandemie. Beides, Utopien und Dystopien sind  für Heller Produkte der Einbildungskraft, beide verbinden Ansichten ihrer Zeit mit bestimmten »Leidenschaften«. Im Fall von Utopien, schreibt Heller, ist es die Leidenschaft der Hoffnung. Dystopien werden von der Leidenschaft der Furcht getrieben.

In beiden Fällen also nehmen Erzählungen vage Bezug auf die Wahrnehmung der Gegenwart, dann kommen Disposition und Laune als Katalysatoren hinzu – und es entpuppt sich eine Vision. 

Es spricht nichts dagegen, meint Heller. Sowohl Utopien als auch Dystopien können unterhaltsam sein. Sie können auch anregend sein. Können sie mehr? Heller bezweifelt das. Sogar das visionäre Element in Utopien und Dystopien sollte Spurenelemente von Wahrscheinlichkeit enthalten, nicht nur Möglichkeit, wenn sie denn wirken möchten, wenn sie den Bezug zu ihrer Ausgangslage nicht verlieren möchten, wenn sie über mehr Auskunft geben möchten als über die Einbildungskraft ihrer AutorInnen. 

Post-Covid-ProphetInnen beschäftigen sich weder mit Möglichkeiten noch mit Wahrscheinlichkeiten. Sie ziehen ihre vergessenen Lieblingsvisionen, die zu nahezu jedem Ereignis passen, aus der Tasche, und verpassen ihnen einen neuen Anstrich. Das ist insofern bemerkenswert, als viele dieser coronaspezifische Visionen und Prophezeiungen im Namen der Wissenschaft predigen. VirologInnen, EpidemiologInnen, MathematikerInnen, InformatikerInnen, ÖkonomInnen werden herangezogen, interpretiert, verteufelt, in Medien bloßgestellt oder als Retter charakterisiert. Wissenschaft, Hausverstand und Rationalität sind Leitprinzipien, die viele für sich beanspruchen. Das sorgt allerdings nicht für Einigkeit, Konsistenz oder bessere Verständigung. Es zeigt im Gegenteil, wie großzügig diese Konzepte und ihre Aussagen interpretiert werden können, wie dehnbar sie instrumentalisiert werden können.

VerschwörungstheoretikerInnen liefern die schlüssigsten Argumentationsketten mit den stringentesten Beweisfolgen. Eine Inschrift hier, ein Verwandtschaftsverhältnis dort, ähnliche Formulierungen da, dazu noch simplifizierte Erklärungen komplexer Technologie und aus ihrem Kontext entfernte Zitate – das ergibt erdrückende Beweise, gegen die man sich nur schwer zur Wehr setzen kann.

Jeder Versuch, einem Teilargument zu widersprechen, gibt diesem erst die richtig große Bühne. Der versuchte Widerspruch verschafft dem Argumentssurrogat erst recht Argumentscharakter, indem er es als Argument behandelt, das entkräftet oder widerlegt werden könnte. Und der oder die geübte VerschwörungstheoretikerIn wird immer weiter Belege aus dem Hut zaubern können, denn an Fülle und Überzeugungskraft mangelt es Verschwörungstheorien selten. Sie überspringen die Hürde vom Sein zum Sollen mühelos. Sie verwandeln zwei einander nicht berührende Behauptungen, die nicht einmal wahr sein müssen, in einen sozialen Imperativ, der uns zum Handeln zwingen soll. Sie erzeugen Zusammenhänge, deren wichtigstes Argument »Ist doch klar …« ist.  

Das  hat der blanken Wissenschaft einiges voraus. Vor allem aber auch jenen, die mit der faktischen Kraft wissenschaftlicher Ergebnisse argumentieren möchten. Der Verweis darauf, dass „die Wissenschaft“ dieses oder jenes sage, sagt noch recht wenig darüber, was nun zu geschehen habe. Wissenschaftliche Erkenntnisse liefern Bausteine, die bei Entscheidungen behilflich sein können. Sie allein liefern aber keine Hinweise dazu, welche Entscheidungen getroffen werden sollen, sie liefern meist auch wenig Information darüber, welche Themen eigentlich zur Diskussion stehen. Diese Rolle fällt beispielsweise politischen und sozialen Fragestellungen oder Wertentscheidungen zu.

Das bedeutet auch, dass das Beharren auf der Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse Gefahr läuft, mystische Untergrundwirkungen zu beanspruchen – oder die politischen und sozialen Fragestellungen außer Acht lässt. Fakten sind Fakten – aber sie sagen uns nur dann, was zu tun wäre, wenn wir uns über das Ziel einig sind. 

Hier treffen einander Visionen und Prophezeiungen, schlüssige Verschwörungstheorien und die Apotheose isolierter Fakten. Sie alle überspringen den Moment, in dem Entscheidungen getroffen werden. Entscheidungen sind bereits getroffen – allenfalls wird nach Möglichkeiten gesucht, sie zu bestärken.

Entscheidungen, Einwände und Argumente verschwinden in der Rumpelkammer. Die Rumpelkammer ist der Ort, aus dem Visionen und Prophezeiungen ihre Kraft beziehen.

Das Problem dabei: Diese Rumpelkammer erfüllt auch in der Wissenschaft einen wichtigen Zweck. WissenschaftshistorikerInnen und -philosophInnen haben in verschiedensten Theorien gezeigt, wie immer auch Platz für das Unpassende geschaffen wird, wie auch in den rationalsten Argumentationsgebäuden Platz für das Irrationale reserviert wird, wie auch klar der Theorie widersprechende Realität eher zum Schaden der Realität gereicht als zu jenem der Theorie. Thomas Kuhn beschrieb Paradigmen als leitende Prinzipien wissenschaftlicher Theorien – reale Widersprüche dagegen konnten als Anomalien in der Rumpelkammer verschwinden. Dort blieben sie zumindest solange, bis neue Theorien die Anomalien plausibler erklären konnten als die bislang geltende Realität. Imre Lakatos ging in seinem Konzept von Wissenschaftstheorie von einem harten Kern jeder Theorie aus, der strengen Regeln unterworfen sei. Rundherum bilde sich im Lauf der Zeit ein Schutzgürtel von Hilfshypothesen, die Unschärfen abfangen, Widersprüche verdaulich machen und Ausnahmen integrieren. Nur mit dieser Toleranz gegenüber Unklarheiten sind Entscheidungen möglich, ansonsten würde jede Theorie von einer Reihe von Kleinigkeiten ausgebremst. Ludwik Fleck verlagerte diese Unschärfen in die Sphäre des Sozialen und wies auf die Kraft prägender Denkstile und Denkkollektive hin, solche Unschärfen aufzulösen oder durch Entschlossenheit zu übergehen. In fraglos auch mit Naturwissenschaften verträglichen Konzepten sprachen Quine und Duhem von Unterbestimmtheit von Fakten, wenn diese nicht im Rahmen einer konkreten Theorie betrachtet werden – ohne Theorie können sie vieles bedeuten. Und es ist tückisch, dass die Theorie, mit der Fakten interpretiert werden sollen, zugleich auch Einfluss darauf hat, welche Fakten überhaupt gesucht und gefunden werden.. 

Es bleibt also immer ein unaufgeräumter dunkler Bereich übrig, irgendwo ist immer die Rumpelkammer. Sie ist auch notwendig; Dinge, die dort verstaut werden, wären sonst im Weg. Nachdem immer irgendetwas in der Rumpelkammer verschwindet, handeln wir nicht nur aufgrund klarer und argumentierbarer Entscheidungen. Wir entscheiden auch mit Handlungen. Die Unordnung in der Rumpelkammer, in der Unentscheidbares liegt, wird dabei größer.

Die längste Zeit war das kein Problem, die Richtung schien klar. Europäische Geschichte stellte den Anspruch, eine Erfolgsgeschichte sondergleichen und ein Vorbild für den Rest der Welt zu sein. Wachstum schien möglich. Politische Konzepte waren ausgereift und standen zur Wahl. Menschen konnten sich entscheiden, politisch konservativ oder progressiv zu sein, sie konnten sich für Karriere oder Freizeit entscheiden, für Handwerk oder Wissenschaft. Das geriet ins Wanken. Schon mit der Generation X wurde offenbar, dass berufliche und ökonomische Entscheidungen nicht mehr nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten funktionieren, die Menschen jahrzehntelang gewohnt waren. Es ging nicht immer aufwärts. Klimafragen ließen erkennen, dass aller Wahlmöglichkeit trotz aller technischen und finanziellen Mittel immer noch Grenzen gesetzt sind: Ein lebensfreundlicher Planet ist noch immer eine unhintergehbare Bedingung für alle Menschen. Flucht-, Reise- und Migrationsbewegungen machten offenbar, dass die scheinbar universellen Rahmenbedingungen für viele Menschen völlig bedeutungslos sind. Sie leben in der gleichen, aber doch völlig anderen Welt, in der andere Fragestellungen ungleich relevanter sind – und sie sind nicht mehr weit weg, nicht mehr nur eine tragische, aber leicht zu vergessende Randnotiz. 

Es war möglich, Entscheidungen zu treffen oder Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Man konnte Grenzen ziehen – geografische, zeitliche – und sich so im wahrsten Sinn des Wortes abgrenzen. Es betraf nicht uns, es betraf andere, wir würden es nicht mehr erleben. 

Die Tür zur Rumpelkammer unserer Entscheidungen steht offen und ungelöste Fragen machen sich lautstark bemerkbar. 

Es wird offensichtlich, dass jetzt – und schon längere Zeit – scheinbar erfolgversprechende Rezepte nicht mehr funktionieren. Staatliche Wirtschaftshilfen illustrieren, wie wenig staatliche Eingriffe abgesehen von der Bereitstellung von Rechtsordnung und Infrastruktur tatsächlich beitragen können, um Volkswirtschaften auf die Sprünge zu helfen. Politische Konzepte verlieren sich in Orientierungslosigkeit. Konservative können keine Ziele jenseits von Machterhalt und Machtgewinn formulieren. Sozialisten benennen wichtige Probleme, verstärken diese aber, statt sie zu lösen, indem sie Konzepte aus dem vorigen Jahrtausend predigen. Die Einschränkung von Grundrechten wird gegen das Überleben ausgespielt. Und viel von dem, was vor kurzem noch smart und praktikabel schien – Leben auf wenig Raum, grenzüberschreitende Mobilität, Just-in-time-Produktion – wird zum Ärgernis, wenn es keine Alternative gibt. 

Jetzt öffnet sich also möglicherweise tatsächlich Spielraum. Jetzt könnten sich tatsächlich Verhältnisse ändern, jetzt könnten andere Schwerpunkte notwendig werden. 

Und das sind wir nicht mehr gewohnt. Es war nicht so wichtig. Es ging ja um nichts, es ist ohnehin nie etwas passiert. Entscheidungen hatten wenig Konsequenzen, der Spielraum war zu klein und es blieb alles im Rahmen. 

Heute stehen wir in manchen Ländern vor Arbeitslosenraten wie nach dem letzten Weltkrieg. Alte Konzepte wie die Ankurbelung von Nachfrage zur Belebung der Wirtschaft funktionieren nicht, weil es zu wenig Angebot gibt. Das wiederum liegt an durchbrochenen Lieferketten, großer Planungsunsicherheit, unklaren Regeln – und einer gewissen Müdigkeit. 

Die Frage »Was jetzt?« könnte tatsächlich relevante Antworten brauchen. Und stattdessen müssen wir uns mit Visionen und Prophezeiungen auseinandersetzen.

Sind Visionen und Prophezeiungen nicht hilfreich? Sie zeigen uns Wege, eröffnen neue Perspektiven und fordern uns auf, uns auf Neues einzulassen. Vielleicht sind wir für das Neue sogar besser gerüstet, wenn wir uns mit Visionen und Prophezeiungen beschäftigen. Aber welcher Logik folgen Visionen und Prophezeiungen? Wie überspringen sie die Hürde vom Sein zum Sollen (und wieder zurück) anders als Verschwörungstheorien? 

Visionen und Prophezeiungen werfen ein Bild in die Zukunft. Dieses Bild soll dann Anleitung geben, wie wir uns in der Gegenwart verhalten. Das ist riskant. Denn das Bild ist ohne viel Zusammenhang zur Gegenwart entstanden – manchmal aus einer Laune heraus, weil jemand es so wollte, weil jemand diese Vision interessant oder erstrebenswert fand.

Was fehlt, ist die Notwendigkeit. 

Projektmanager kennen das aus oft bemühten Karikaturen, in denen ein ansonsten stringenter Projektplan, der aber nie in der gewünschten Zeit zum erwünschten Ergebnis führen würde, irgendwo die Markierung enthält: »Und hier geschieht ein Wunder«. Dieser Punkt löst alle Probleme, überwindet Hürden und setzt gewohnte Gesetzmäßigkeiten außer Kraft. Der Weg ist nicht mehr das Ziel; es zählt ausschließlich das Ergebnis. 

Visionäre bedienen sich oft ebenfalls dieser Möglichkeiten – und das eröffnet Verlockungen. In den zweiten und weiteren Wellen der Pandemie sind sogar die ProphetInnen und VisionärInnen müde geworden. Es ist deutlich leiser als noch im Frühjahr 2020. 

Jetzt ist die Zeit, sich über Gewohntes hinwegzusetzen. Gewohntes verspricht keinen Erfolg mehr. 

Stattdessen könnten wir irgendetwas ausprobieren. 

Das ist, was die vergangenen Jahrzehnte recht risikolos praktiziert wurde. Wir konnten irgendetwas ausprobieren, das meiste hatte kaum Wirkung, Scheitern gehörte dazu und wurde zu einer eigenen Kultur. Das war nicht tragisch, weil die Rahmenbedingungen recht unverändert blieben. Es stand trotz aller großen Geste nicht viel zur Debatte. Im Gegenteil: Es schien, die Geste wurde umso größer, je klarer war, dass wenig darauf folgen würde. Die Selbstkritik Arrivierter, die, nachdem sie sich Erfolg konsequent nach allen Regeln des Spiels erarbeitet haben, nun das Spiel kritisieren, ist dafür ein plakatives Beispiel – seien es spitze Reden bei Oscar-Verleihungen, sendungsbewusste Ex-Journalisten in der Politik oder Ex-Politiker auf missionarischer Selbstfindungsreise. 

Der Form nach nützen wir diesen Spielraum schon längst. Alte Autoritäten haben an Relevanz verloren, Religion oder Tradition schaffen es kaum noch, Schreckgespenster an die Wand zu malen. Alle können sich selbst Stimme verleihen und Position beziehen. Aktivisten stilisieren sich als Wissenschaftler, Politiker als Anführer von Bewegungen. Alle können Raum greifen. 

Was allerdings fehlt, sind verbindende Elemente zwischen all diesen besetzten Räumen. 

Solange nichts geschehen konnte, was das egal. Je größer der Spielraum wird, desto wichtiger werden Möglichkeiten, die wachsenden Zwischenräume zu überbrücken. 

Corona-Visionen und -Prophezeiungen sind nur ein Beispiel für auseinanderdriftende Zwischenräume, die Verbindung und Verständigung erschweren. Der Verzicht auf Argumente lässt sich in vielen anderen Fällen beobachten. Argumente, Zusammenhänge und Logik sind unnötig beschwerender Ballast, den Visionen gern hinter sich lassen. Fallweise ist zusammenhanglose Absurdität geradezu ein Erfolgsfaktor: Wer auf seiner Story bleibt, Einwände und widersprechende Fakten ignoriert und sich nicht beirren lässt, ist geradlinig, konsistent und glaubwürdig. – Das beobachten wir in politischer Kommunikation heute – gerade bei jenen, deren absurde Irrationalität ihren Gegnern noch vor wenigen Jahren eine Verheißung erschien. 

Ignoranz, früher ein Makel der altmodischen Mächtigen, ist heute ein wichtiger Skill, um auf Schiene zu bleiben. Ignoranz füllt die Rumpelkammer ihrer eigenen Entscheidungen großzügig. 

Coronabedingte Unsicherheit beschleunigt einen Prozess, dessen Zeugen wir gerade werden: Es entsteht die neue Kulturtechnik des Behauptens. 

Behaupten ist eine vielschichtige Form des Aussagens. So vielschichtig, dass uns der Begriff »Behauptung« selten ohne ein begleitendes Adjektiv begegnet. Wir kennen gewagte Behauptungen, bloße Behauptungen – diese Beispiele zeigen, dass Behauptungen nicht immer den besten Ruf haben. 

Wir kennen aber auch Selbstbehauptung oder die Möglichkeit, sich zu behaupten oder sich gegen etwas oder jemanden, meist eine Bedrohung, zu behaupten. Das sind Fälle, in denen der Begriff der Behauptung eine produktive, kreative Komponente bekommt. 

Beiden Arten des Behauptens ist gemein, auch ohne viel Verbindung zur Außenwelt funktionieren zu können. Gewagte oder bloße Behauptungen zeichnen sich gerade dadurch aus, nicht viel auf Fakten zu geben. Selbstbehauptung oder das Sich-gegen-etwas-Behaupten konzentrieren sich auf eigene Positionen, setzen eigene Ansichten durch und brauchen andere allenfalls als Reibfläche. 

Behaupten reduziert die Funktion und die Möglichkeiten der anderen. Sie sind Publikum. Die Aufgabe der anderen ist es, Beifall zu spenden, vielleicht auch, sich in Shitstorms zu verwickeln – jedenfalls sollen sie Reaktion zeigen. Reaktion braucht keine inhaltliche Qualität – sie muss in erster Linie auffällig und reichweitenfördernd sein, dann ist sie gut. 

Das ist die nun schon lange eingeübte Logik öffentlichkeitsorientierter Kommunikation, die durch digitale Medien noch einen besonderen Anschub erfahren hat. Aufmerksamkeit und Beachtung sind wichtiges Kapital, das am leichtesten durch auffällige Inszenierungen und Behauptungen gewonnen und vermehrt wird. Sinn dieser Inszenierungen und Behauptungen ist es nicht mehr, Aussagen zu treffen, sondern Beachtung zu finden. Das ist die auf die Spitze getriebene Ökonomie der Aufmerksamkeit. 

Die kreativen und produktiven Komponenten des Behauptens waren ursprünglich dort angesiedelt, wo Grenzen zu überwinden waren, wo neue Wege gesucht wurden. Populär- und Subkulturen waren die ersten großen Bühnen der Selbstbehauptung. Heute sind weitaus mehr Lebensbereiche kreativiert, Kulturkomponenten sind allgegenwärtig und von der Wahl beliebiger Accessoires wie Turnschuhe oder Trinkflaschen über Alltagshandlungen wie Lokalwahl oder Lebensmitteleinkauf ist vieles ein kreativer Akt der Selbstbehauptung, der zur Bildung und Präzisierung von Identitäten beiträgt. So sind auch Handlungen Behauptungen geworden. 

Behauptungen sind eine angemessene Technik, sich Beachtung zu verschaffen. Behauptungen entsprechen den Anforderungen der Öffentlichkeit – sie liefern klare Ansagen, sorgen für Unterhaltung und bieten schnell wechselndes Programm. Sie sind ein probates Mittel, Ambivalenz aus dem Weg zu räumen. Als klare Ansagen sind Behauptungen in der Regel eindeutig. Was nicht bedeutet, dass sie konsistent sein müssen: Am nächsten Tag oder schon wenige Klicks später kann alles anders aussehen; es gibt neuen Stoff für das Publikum. Behauptungen binden die Behauptenden nicht: Sie sind weder von Fakten noch von Geschichte eingeschränkt oder belastet. Entschlossene Behauptungen lassen diesen Ballast hinter sich. 

Damit geben sie auch Verbindungen zu Mitmenschen, zu Argumenten oder Logik auf. Behauptungen verzichten darauf, verstanden werden zu können. Sie müssen keine Probleme lösen, nichts erklären, keine Verbindungen zu anderen Positionen herstellen. Sie müssen nur auffallen und unterhalten. 

Das gilt auch für Visionen und Prophezeiungen rund um die Pandemie. Sie stellen Behauptungen in den Raum, deren vorrangige Funktion es ist, auffällig zu glänzen. Das ist weder neu noch einzigartig. Es ist nur ein exemplarischer Moment, in dem viele geradezu sehnsüchtig auf neue, noch glänzendere, auffälligere Behauptungen warten.

Behauptungen liefern Antworten, ohne gefragt zu haben, sie bieten Lösungen für Probleme, die es so nicht gibt. Das ist angesichts von Ratlosigkeit verlockend. Das erklärt die Beliebtheit von Behauptungen in turbulenten Zeiten. Entschlossenheit wird als Weisheit verstanden, als richtungsweisend. 

Das ist lösungsorientiert, erfolgversprechend und zukunftsgerichtet. Und es überspringt die Mühen der Entscheidung und der Argumentation. Behaupten ist die natürliche Tätigkeit des gesunden Hausverstands, der überflüssige Gedanken scheut und schnell zur Sache kommt. »Ist halt so«, »Ist doch klar«, »Ist doch logisch« sind die Mantren dieser Kulturtechnik. 

Das kann praktisch und angemessen sein, wo schnelle Entscheidungen notwendig sind. Es kann aber ein riskanter Blindflug sein, wo Entscheidungen zur Lösung relevanter Probleme beitragen sollen, wo Entscheidungen auf Analysen, Argumenten und Zielsetzungen beruhen. 

Durch den Verzicht auf Argumente und logische oder historische Bezüge berauben uns Behauptungen der Möglichkeit, zu verstehen. Das ist nicht ihr Anliegen. Ihre Anliegen sind Beachtung, Beifall und Tempo. Die Techniken des Behauptens stehen allen offen. Damit finden alle den Weg ins Rampenlicht. Je mehr Menschen sich aber der Techniken des Behauptens bedienen, desto weiter sinken die Chancen auf Verstehen und Verständigung. Behauptungen schaffen isolierte Inseln, die ihre Umgebung nicht beachten. Ihre vorrangige Aufgabe ist es, auf die eigene Story einzuzahlen, die eigene Positionierung zu stärken. 

ErklärerInnen, PolitikerInnen, MoralistInnen, auch WissenschaftlerInnen – viele beklagen häufig Spaltung. Verschiedene Menschen fänden keinen Draht mehr zueinander. Logik, Fakten, Moral – das seien keine relevanten Kriterien mehr. Wir müssten einen Weg zurück finden. Uns besinnen. 

Wege zurück haben allerdings noch selten dorthin geführt, wo Menschen, die mit dem Schritt zurück nach vorne wollten, ihr Ziel gesehen haben. 

Funktionierende Kulturtechniken dagegen erfüllen ihren Zweck. Sie sind in der Regel Reaktionen auf Anforderungen oder Ansichten ihrer Zeit, wie es Agnes Heller nannte. Sie lösen Probleme, setzen sich durch und gestalten. Sie wissen, was sie in der Rumpelkammer lassen und was sie von dort bei Bedarf hervorholen. In der Rumpelkammer sind missglückte Argumente, störende Einwände, widersprüchliche Tatsachen – all das, was beim Formulieren einer entschlossenen Behauptung stört. Bis es bei Bedarf wieder hervorgeholt wird, weil es irgendeine Behauptung unterstützen kann, weil es einen unliebsamen Einwand entkräftet oder ihn zumindest auf eine lange Reise voll schwieriger Argumente schickt.

Wer das Arsenal seiner Rumpelkammer beherrscht, Beiseitegelegtes hervorholt, anderes aus dem Weg räumt, Störendes schnell wegwirft, kann schneller neue Visionen, Prophezeiungen und Utopien formulieren, als andere durch Instagram scrollen können.    

Das ist auch eine Fähigkeit, vor allem in Zeiten, in denen sich alles so schnell zu ändern scheint. 

Die Kulturtechnik des Behauptens erlaubt es, einander zu bewundern, zu verachten, zu übertönen, zu ignorieren, auszulachen, zu beschuldigen, bloßzustellen, auf die Schulter zu klopfen. Was sie nicht erlaubt, ist ein Problem zu erfassen, andere Sichtweisen gelten zu lassen, andere Positionen zu verstehen – das gehört nicht zu ihrem Repertoire. 

Das überspringt die Kulturtechnik des Behauptens, so wie Visionen und Prophezeiungen ihre Gründe und Erklärungen überspringen. Beide gehen gleich zur Gewissheit über. Das ist ein Problem – vor allem wenn alle einander immer wieder versichern, wie zunehmend ungewiss und unsicher alles wird … 

Adrian Daub: What Tech Calls Thinking

Informatik ist eine Kulturtechnik – computational know how hilft, sich besser in der Welt zurechtzufinden. Dieser Gedanke setzt sich zunehmend durch und findet seinen Niederschlag in bildungspolitischen Forderungen nach mehr, früherem und besserem Informatikunterricht in den Schulen, im Verlangen nach Interdisziplinarität, die Informatik nicht nur als hilfreichen Problemlöser wie einen Taschenrechner betrachtet und im Anspruch, Informatik als die Grundlagenwissenschaft unserer Zeit zu betrachten (so wie es früher Astronomie, Theologie oder Physik waren).

In diesem Fahrwasser schwimmt eine neue Technikgläubigkeit mit, die nicht nur digitale Technologie als Problemlöser schlechthin verehrt, sondern im Tech-Marketing auch eine neue intellektuelle Messlatte sieht, die das geistige Leben bestimmt. Die weit ausholenden Pitches von Tech-Giganten oder Startups und deren Versprechen und ideologische Visionen gelten als neue Philosophie, die erklärt, warum und wie plötzlich so vieles möglich wird. Dass diese Pitches und Predigten gemeinhin nichts erklären, sondern bestenfalls Behauptungen in den Raum stellen, bleibt dabei gern unbeachtet auf der Strecke.

Adrian Daub untersucht diese Entwicklung in „What Tech Calls Thinking“ und macht sich auf die Suche nach den Vorläufern dieser Erfolgsgeschichte.

Zentrale Figuren in dieser Linie sind Ayn Rand und der eigentlich schon wieder vergessene René Girard. Ayn Rand ist für Daub die Urmutter der rebellischen Pose, die sich weniger mit Verhältnissen oder Grundlagen beschäftigt, gegen die es zu rebellieren gelte, sondern mit der Inszenierung als Rebell. Dabei reichen persönliche Veränderungen, Beschriftungen – und Konsum. Wer ungern Steuern zahlt ist mit Ayn Rand kein korrupter Steuerbetrüger, sondern ein Rebell, der Zeichen gegen die totalitaristische Gleichmacherei des Staats setzt. Wer die richtigen wiederbefüllbaren Trinkflaschen verwendet, ist ein Öko-Aktivist. Wer die richtigen Tech-Gadgets verwendet, die alle verwenden, ist ein reflektierter Individualist, dem man nichts vormachen kann.

Die Pose des Rebellen kann vor allem dann umso leichter eingenommen werden, wenn die passende Ideologie alle anderen als gleichförmige graue Masse betrachten kann, von der man sich selbst dank bestimmter Einsichten abheben kann.

Das Rüstzeug dafür lieferte René Girard, der laut Daub vor allem Peter Thiel beeinflusst haben soll. Auf Wikipedia wird Girard als „Historiker und Polymath“ bezeichnet – Polymathie ist eine freundliche Umschreibung für Universaldilettantismus; die Herausgeber früher wissenschaftlicher Zeitschriften des 17. Jahrhunderts, die sich buchstäblich mit Gott und der Welt beschäftigen, galten als Polymathen (einen Überblick zur wissenschaftlich literarischen Medienbubble des 17 und 18. Jahrhunderts gibt es übrigens hier, eine punktuelle Auseinandersetzung mit einigen Polymathen der Aufklärung hier).

Als Polymath entwickelte Girard die Theorie des mimetischen Begehrens. Kurz erklärt: Alle wollen das gleiche. Das ist nun kein unplausibles Phänomen, auch der mimetische Aspekt (wir sehen (oder glauben), dass jemand dank der Erfüllung seines Begehrens glücklich wird und begehren ähnliches) ist nicht weltfremd. 

Fragwürdig ist allerdings, darauf weist Daub hin, wie sich die Verabsolutierung dieser Diagnose argumentieren lässt, noch fragwürdiger ist, wie sich, wenn das Prinzip absolut gilt, dann doch einzelne Wissende diesem entziehen können.

Daub sieht in dieser kunstvollen Inszenierung den Archetyp des Pitches, wie es ihn seit den Zeitalter der Homeshopping-Fernsehkanäle gibt: Ein belangloses Problem wird zur unüberwindlichen Hürde erhoben, eine beliebige Idee wird zum allgemein gültigen Prinzip stilisiert, aus einer punktuellen Problemlösung wird die Zukunftsvision der Menschheit destilliert (wobei dahingestellt bleiben muss, ob das gelöste Problem eines war).

Das verlockende und gleichzeitig besonders perfide an diesem Spiel ist: Alle können mitmachen. Wenn Form, Stil und Pose passen, steht es allen offen, in diesem Chor der Begeisterung mitzusingen. Es wäre in Gegenteil überaus unsportlich und ein Zeichen von schlechtem Benehmen, auf Schwächen in der Erzählung hinzuweisen, Fragen zur Relevanz zu stellen oder die allgemeine Begeisterung nicht zu teilen.

Einer der zentralen Begriffe des Tech-Diskurses, an dem diese Phänomene mühelos durchdekliniert werden können, ist etwa „Disruption“: Vom großen Versprechen, alles von Grund auf zu ändern, bleibt in der Regel eine Ayn-Rand-hafte Pose, die Bestehendes ein wenig anders arrangiert und eventuell neu einfärbt. 

Wo es um Technik zu zeitgemäße Medien geht, ist natürlich auch McLuhan nicht weit. Daub schlägt dabei vor, McLuhans Diagnose des Primats von Medium über Message (was zählt, ist die mediale Form, der Content ist Nebensache) auf Plattformen und Social Media anzuwenden: Reich und berühmt wird nicht, wer Inhalte schafft und Medien am Leben erhält – die Erfinder und Betreiber der Plattformen gelten als die Medienvisionäre der Zukunft. Ihre Relevanz beruht dabei auf formalen Kriterien wie Reichweite, Reichtum und Wachstum. Inhalte und Innovation sind nebensächlich.

Daub analysiert mit großer Schärfe, detaillierter Recherche und viel Wissen Kommunikationsmodelle, die wohl vielen BeobachterInnen schon übel aufgestoßen sind, die aber kaum noch so klar beschrieben und vor allem so stringent hergeleitet wurden. Seine Untersuchung lässt erahnen, wie weit diese Kommunikations- und Denkmuster auch andere Bereiche beeinflussen: Journalismus, Politik, politische Analyse verfallen zunehmend Alles-oder-nichts-Mustern, in denen die eigenen (im Sinn von Ayn Rand selbst geschaffenen) Weltbilder die letzte Instanz sind, die über Realität oder Illusion entscheiden – und in denen gegen Feindbilder angeschrieben wird, die zuvor selbst erstellt wurden. Man denke nur an den Alltag auf Plattformen des sozialen Allwissens wie Twitter oder an „Journalisten“, die den Kommentar für die wichtigste Mediengattung halten. 

Ich habe ähnliche Strategien als Kulturtechnik des Behauptens beschrieben – allerdings nicht so klar und kulturwissenschaftlich fundiert wie Daub. Ich freu mich jetzt auch darauf, mit diesen neuen Anstößen an diesem Konzept weiterzuarbeiten.

John D. Kelleher, Brendan Tierney: Data Science

Data Science ist Handwerk. Und wie bei den meisten handwerklichen Tätigkeiten fließt der meiste – und am wenigsten beachtete – Aufwand in die Vorbereitung. Ohne saubere Schnittstellen im Material kann nicht ordentlich geschweißt werden, Anstriche auf der falschen Grundierung halten nicht und ohne ausreichend gesammelte, vorbereitete und aufbereitete Daten führen auch die fortgeschrittenste Mathematik oder erprobte Algorithmen nicht zu nennenswerten Ergebnissen. Das ist eine der Kernaussagen von John Kellehers und Brendan Tierneys Grundlagentext zu Data Science.

Ein entscheidender Faktor für gelingende oder scheiternde Data Science Projekte steht also ganz am Anfang, ein anderer steht am Ende: Die Integration in relevante Prozesse ist, wie in vielen Fällen technisch-organisatorisch-inhaltlicher Projekte, ausschlaggebend dafür, ob Ergebnisse als sinnvoll empfunden werden. Leisten sie das nicht, dann gelten die trotz aller technischen Finesse schnell als fehlgeschlagene Zeitverschwendung.

In Hinblick auf eine kritische Auseinandersetzung mit Data Science und mit anderen mit Daten verknüpften Verheißungen, wie sie etwa Open Data bietet, zeigen sich Kelleher und Tierney als Skeptiker. Data Science könne viele Antworten liefern, allerdings sei es sehr leicht und wahrscheinlich, die falschen Fragen zu stellen. Data Science, Analyse und Statistik müssen von fachspezifischem Knowhow begleitet werden, um sinnvolle Ergebnisse zu liefern.
Die laufend – in mehreren Iterationen – notwendige Kontextualisierung von Daten ist ein wesentliches Element diverser Hierarchie-Pyramiden, mit denen Kelleher und Tierney Data Science-Prozesse beschreiben. In der DIKW (Data-Information-Knowledge-Wisdom)-Pyramide stehen Daten als Abstraktionen auf der untersten Stufe, ihnen folgt Information. Beim Schritt von Daten zu Information wurden Daten verarbeitet, strukturiert und kontextualisiert, um für Menschen verständlich zu sein. Information wird zu Wissen, indem Information interpretiert und verstanden wird und Handlungsgrundlage werden kann. Wissen schließlich wird zu Weisheit, also zum angemessenen Handeln aufgrund von Wissen. Diese Hierarchie macht deutlich, wie weit eine pragmatische, kontextorientierte und auf Handlungen und Wirkung abzielende Perspektive relevant ist, um Sinn aus Daten zu stiften. Das ist schlüssig. Allerdings fehlt in der Darstellung von Kelleher und Tierney jeder Hinweis auf einen möglichen Bezug zu Objekten, Realität oder anderen Begriffen, mit denen sich Sphären außerhalb von Daten beschreiben lassen. Es wäre also egal, ob Information und Wissen wahr oder auch nur wahrheitstauglich sind; sie können trotzdem die Stufe der Weisheit erreichen. Philosophen wie Luciano Floridi melden dagegen Einspruch an; für Floridi müssen Daten als Information zumindest so wahr sein, wie eine Landkarte wahr ist. “Adäquates Handeln auf der Basis von Wissen”, so definieren Kelleher und Tierney Weisheit, ist kein Gegensatz dazu; allerdings bringt die Formulierung einige Probleme rund um Fragen der Adäquatheit mit sich.

Adäquatheit muss allerdings keine direkt eindeutige Relation sein; Adäquatheit wie Kelleher und Tierney sie im Data Science-Kontext beschreiben, kann auch als Viabilität funktionieren, wie Glasersfeld sie als Qualitätskriterium für Begriffe und Annahmen im radikalen Konstruktivismus beschreibt. Ein Indiz dafür ist die Betonung experimenteller Ansätze und der Iteration, die Kelleher und Tierney häufig wiederholen. Unterschiedliche Settings oder die Anwendung unterschiedlicher Algorithmen liefern unterschiedliche Ergebnisse – es liegt an der Anwendung, am Kontext und an der Einschätzung des Experten, welche davon angemessen sind. Mehrfache Iterationen machen die Entscheidungen dabei besser.

Daten sind also Material, aus dem Information gewonnen werden kann. Weder in der Sammlung von Daten noch in deren Weiterverarbeitung lässt sich allerdings ein den Prozess beeinflussender Bias vermeiden. Damit wenden sich Kelleher und Tierney  gegen die Vorstellung einer neutralen und ausschließlich sachlich vorgehenden Data Science. Sie gewinnen der Vorstellung einer modellfrei und hypothesenlos forschenden Wissenschaft nichts ab; jede Datensammlung folgt einem Modell und jede Interpretation einer Hypothese. Sie wenden sich allerdings auch gegen die Vorstellung einer diesen Bias gezielt eliminierenden Data Science oder gegen den Einwand Bias sei immer sozial und politisch geprägt und könne so auch aufgelöst werden. Ohne Bias – der Entscheidungen in eine bestimmte Richtung treibt – lernen Maschinen im Machine Learning nichts, sie können keine Entscheidungen treffen, sondern nur Daten memorieren. Es liegt an Data Scientists, den jeweils aktuellen Bias und dessen Konsequenzen erkennen und einschätzen zu können – im übrigen ein Task, der nur noch wenig mit Informatik und Mathematik zu tun hat.

Einen anderen problematischen Begriff verwenden Kelleher und Tierney ebenfalls nur mit Einschränkungen – lassen dabei aber meines Erachtens noch zu viel Spielraum: Sie beschreiben Daten als Rohmaterial und verwenden öfter den Begriff “roh” im Zusammenhang mit Daten, auch wenn sie dabei zugleich stets einschränken, dass Daten gewonnen werden, sei es durch Abstraktion, durch Kategorisierung oder durch Beobachtung nach einem gewissen Schema. Daten sind immer schon verarbeitetes Material, sie sind niemals roh. “Raw Data is an Oxymoron”, beschreibt es Lisa Gitelman;  Luciano Floridi experimentiert mit Begriffen wie Capta oder Relata, um mit dem Nimbus des Ursprünglichen, Unverfälschten von Daten aufzuräumen. Kelleher und Tierney vertreten keineswegs die Einstellung, Daten wären unverfälschtes Rohmaterial. Sie machen das meines Erachtens allerdings wenig deutlich. Menschen, die Entscheidungen gern  Daten und Fakten überlassen möchten, die in der Politik nach Evidenz rufen oder soziale Fragen “mit Wissenschaft” entscheiden möchten, werden in Kellehers und Tierneys Formulierungen keinen Widerstand finden.

Das zeigt, wie wichtig zusätzlich zum fachlich-technischen Knowhow weitere Perspektiven in der Einschätzung Data Science-relevanter Fragen sind. Ein neues und wohl noch zukunftsträchtiges Konzept dazu bietet Sabina Leonelli mit data journeys, einer Perspektive, die vor allem Augenmerk auf die Geschichte, Entstehung, Verwendung und Veränderung von Daten legt und sich von Rob Kitchins data assemblages dadurch unterscheidet, dass die mehrfache Nutzung und Veränderung von Daten besser abgebildet werden kann.

Rob Kitchin: The Data Revolution

Kaum eine Buchsorte alterte in den vergangenen Jahren schneller als Bücher über Daten. Eilige Propheten – in Österreich sogar alternde Radiomoderatoren – brachten in den vergangenen zehn Jahren Bücher auf den Markt, die Planbarkeit, Kontrollierbarkeit, Gerechtigkeit, Transparenz und Fortschritt versprachen.

In doch recht deutlichem Gegensatz dazu wundern wir uns heute noch über absurd schlechte Personalisierungsempfehlungen bei großen Onlinehändlern oder über merkwürdig schlechte Werbeplatzierungen in Onlinemedien und Social Networks.

Ein Grund für diese Differenz liegt in jenen Missverständnissen, die Rob Kitchin in “The Data Revolution”, einem großen Überblick über philosophisch relevante Themen rund um Big Data und Open Data, beschreibt.

Der zentrale Punkt ist die nach wie vor häufig anzutreffende Fehleinschätzung, das Daten für sich selbst sprächen. Diese Fehleinschätzung ist schon in einem missverständlichen Begriff begründet: Daten sind nicht etwas Gegebenes (wie es der Übersetzung aus dem Lateinischen entspräche); sie sind mit Beobachtungstechniken, Messskalen und Aufzeichnungswerkzeugen hergestellte Artefakte, die als Indizien für diverse Objekte gelten. Anstelle von Datum, zitiert Kitchin einige AutorInnen, sollte es also eigentlich Captum heißen. – Diese Einsicht hat sich noch nicht so schnell überholt; im Gegenteil, sie scheint sich eher auch noch hartnäckig zu halten. Insofern gehört Kitchins Buch zu den weniger schnell alternden Datentexten.

Die veränderte Perspektive auf den Kern von Daten wirft ein deutlich anderes Bild auf viele der mit Open Data und Big Data verknüpften Erwartungen. Daten ersetzen keine Theorien, weil sie entlang von Theorien gesammelt werden, sie machen Modelle nicht überflüssig, weil sie selbst in Datenmodellen strukturiert sind. Öffnet man sich auch der technischen Dimension von Daten (und bleibt nicht nur an der oberflächlichen sozial-politischen Ebene hängen), dann ist auch offensichtlich, wie streng Regelwerke und Richtlinien des Datenhandling sind und wie intensiv Schritte wie Normalisierung oder Standardisierung von Daten diskutiert, durchgesetzt und auch immer wieder geprobt oder aufgeführt werden, um sich ihrer eigenen Relevanz zu versichern. Die englische Formulierung “rehearsal” beschreibt diesen Prozess besser und erinnert an das Konzept der sociotechnical imaginaries, das in den Science & Technology Studies gern zelebriert wird.

Daten bringen uns also nicht näher an Objekte, sie ersetzen weder Objekte noch Theorien und Modelle, und sie haben für sich weder Information noch Wert. Die Hoffnungen auf nicht-reduktivistische Wissenschaft, die nicht mehr abstrahieren muss, auf umfassend informierte Entscheidungen und auf Entscheidungskriterien, die frei von menschlichen Vorurteilen sind, werden sich also eher nicht erfüllen.

Kitchin verweist vor allem auf Kontext und Transformationsgeschichte von Daten. Data Assemblages und Data Infrastructures sind die Ergebnisse, in deren Form Daten uns begegnen (also nie nur als reine, rohe Daten (ein Begriff, der DenkerInnen in der Linie von Kitchin, wie etwa Gitelman, als Oxymoron gilt), Data Lineages beschreiben die Prozesse und Entwicklungsschritte, die zu diesen Ergebnissen geführt haben. Data Lineages beginnen mit der Idee, bestimmte Daten zu sammeln gehen über deren Modellierung, Strukturierung, Aufbereitung, Analyse und Visualisierung bis hin zu Ableitungen, die sich aus den vorgeblich neutralen, unbehandelten, für sich selbst sprechenden Daten ergeben. Sabina Leonelli beschreibt ähnliches, aber mit noch stärkerem Fokus auf Wandlungen, Orts- und Systemwechsel und Interaktionen zwischen Daten, Datenarchivierung und Material (oder Objekt) als Data Journeys.

In Hinblick auf Big Data hat sich diese kritische Perspektive schon etwas umfassender etabliert. Kitchin bezieht allerdings auch Open Data gegenüber eine sehr kritische Position. Open Data, das große Transparenzversprechen, entpuppt sich in seiner Perspektive als Reproduktion von Interessen, Sichtweisen und Weltbildern – ja sogar als disziplinierendes Machtinstrument, das den anderen (also den UserInnen von Open Data) vorgibt, womit sie sich wie zu beschäftigen hätten. Dazu kommt noch die häufig mangelnde technisch-sachliche Qualität von Open Data: Viele Open Data Repositories sind bloße Ablagen, in denen Dateien ohne durchgängiges Konzept und Modell gelagert werden, in denen Verknüpfungs- und Weiterverarbeitungsmöglichkeiten stark eingeschränkt oder mit hohem Aufwand verbunden sind. Dazu fehlen wichtige Kontextinformationen – es scheint, als würden viele Open Data-Veröffentlichungen bereits mit der Bereitstellung von Dateien als abgeschlossen betrachtet. Die eigentliche Verwendung der Daten scheint bei deren Veröffentlichung allerdings nicht mitbedacht worden zu sein (Gerade bei Open Data ist es sicherlich auch Kern der Sache, dass die Verwendung und Weiterverarbeitung bei den UserInnen liegt – die Bereitstellung und schon die Erhebung von Daten entscheiden aber schon viel darüber, wie weit und wie sinnvoll Daten verwendet und weiterverarbeitet werden können).

Ähnliche Aspekte rund um Open Data habe ich auch beispielhaft in einer ersten Analyse der Daten des Lobbyingtransparenzregisters der Europäischen Union beschrieben (mehr Visualisierungen und Auswertungen dazu gibt es auf dataanalyst.at).


Kitchins Rundumschau ist eine Bestandsaufnahme von Problem- und potentiellen Analysefeldern. Einiges davon hat sich heute bereits als Problem etabliert, anderes bleibt neu. Die Bestandsaufnahme ist eine Art Katalog für künftige datenphilosophische Forschungen; als ein erstes mögliches Projekt schlägt Kitchin unter anderem eine Genealogie von Open Data vor; auch ethnographische Forschungen, die die praktische Arbeit in Data Science beobachten, hält er für sinnvoll. Diese Projekte zählt Kitchin allerdings nur schnell im Schlusswort seines Buches auf – auffällig ist, dass auch viel spätere Literatur noch nicht wesentlich weiter ist als bei der Aufzählung möglicher Forschungsfelder (die über ethische und politisch-soziale Implikationen hinausgehen).Insofern is Data Science für Wissenschaftsphilosophen wohl noch ein dankbares und ergiebiges Forschungsgebiet …

Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus

Wissen hilft, uns zielorientiert in der Welt zu verhalten. Wie weit Wissen dabei mit einer Realität übereinstimmt, sie abbildet und wie diese Übereinstimmung ihrerseits wieder abgebildet oder gemessen werden kann, das ist irrelevant. – Eigentlich müsste der Radikale Konstruktivismus von Glasersfeld die heiße Philosophie unserer Zeit sein. Die zweckorientierte pragmatische Perspektive verträgt sich auf den ersten Blick  gut mit einer Sichtweise, in der Bildung und Zusammenhänge als überschätzter Ballast gelten, Effizienz im Vordergund steht und das Wissen, wo man nachsehen kann, Wissen ersetzt.

Konstruktivismus ist aber eher eines der Feindbilder von Rationalisten und Realisten, die sich platte Abziehbilder konstruktivistischer Positionen schaffen, um dann gut dagegen argumentieren zu können. Dabei wird Konstruktivisimus oft auf soziale Konstruktion oder auf platten Solipsismus reduziert. (Und jene, die sich diese platten Konstruktivismus-Karikaturen zum Vorbild für ihre eigenen schwachen Argumente nehmen könnten, kriegen auch das gar nicht mit.)

Konstruktivisten wie Glasersfeld stellen nicht die Frage, ob es so was wie Realität gibt oder nur Konstruktion. Sie beschäftigen sich auch gar nicht mit Fragen der Erkenntnis oder den Möglichkeiten des Erkennens – für Glasersfeld stehen Wissen und Begriffsbildung im Mittelpunkt.

Seine wesentlichen Überlegungen drehen sich um die Frage, wie Begriffe entstehen und welche Funktion sie erfüllen.

Begriffe sind gewissermaßen die Währung des Wissens – über sie kann Wissen ausgetauscht und vermittelt werden, sie schaffen Berührungspunkte zwischen jenen, die Wissen haben. Ob sie auch Berührungspunkte zu ihren Objekten schaffen, ob und wie sie also Realität abbilden, ist für Glasersfeld keine wesentliche Frage. Relevanter ist, ob sie helfen, in der Welt zurechtzukommen, ob sie also funktionieren. Viabilität ist ein wichtiges Kriterium – das bezeichnet die Frage, ob Begriffe und Wissen angemessen sind, funktionieren, ihren Zweck erfüllen.

Kognition ist demnach für Glasersfeld ein adaptiver Prozess: Wissen und Begriffe werden aufgrund der Erfahrungen, die sie ermöglichen, angepasst. Viele Konzepte hat Glasersfeld dabei von Jean Piagets Entwicklungspsychologie übernommen, die sich damit beschäftigt, wie Begriffsbildung bei Kindern funktioniert.

Als weiteren wichtigen Einfluss beschreibt Glasersfeld immer wieder seine eigene mehrsprachige Kindheit, die ihm schon früh vermittelt habe, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Begriffen und Gegenständen sehr unwahrscheinlich sei – schließlich hießen sie nicht nur in allen Sprachen anders, in manchen Sprachen gibt es für einen Sachverhalt einfache Wort, in anderen zusammengesetzte, in wieder anderen nur Umschreibungen.

Was macht den Radikalen Konstruktivismus auch heute noch interessant?

Als Wissenstheorie ermöglicht Konstruktivismus eine pragmatische Perspektive auf Fragen von Wissen, Modellbildung, Repräsentation und aus Modellen (oder Metaphern, Analogien und Gleichungen) abgeleitetes Wissen. Aus konstruktivistischer Perspektive entfällt die komplizierte Frage nach dem Wesen der Beziehung zwischen Repräsentation und Repräsentiertem, denn aus konstruktivistischer Perspektive gibt es keine Repräsentation, sondern nur Präsentation (allenfalls Re-Präsentation, also die neuerliche Präsentation). Das lenkt die Aufmerksamkeit auf aktive gestalterische Komponenten des Versuchs, Wissen abzubilden – und damit nimmt Glasersfeld viel von dem vorweg, was Objektivitätskritikerinnen wie Loraine Daston oder Michael Lynch später genauer ausführen sollten. Der Fokus auf die Präsentation rückt auch die materielle Dimension von Begrifflichkeiten und ihren Präsentationen ins Blickfeld: Wenn Modelle oder Aufzeichnungen und Visualisierungen nicht nur Hilfskonstrukte sind, die das Eigentliche repräsentieren, dann macht es auch Sinn, sich mit den konkreten Eigenschaften dieser Modelle und Aufzeichnungen zu beschäftigen, so wie man gewohnt war, sich mit den materiellen Eigenschaften des vermeintlich eigentlichen Objekts zu beschäftigen.

Als pragmatische und formalistisch-wirkungsorientierte Perspektive erspart Konstruktivismus viele aufwendige Debatten über transzendente und metaphyische Eigenschaften oder über richtig und falsch und eine diese Entscheidungen überhaupt erst ermöglichende Teleologie (also Vorstellungen von übergeordneten letzten Zielen). Stattdessen zählt, was funktioniert. Aus einer ethisch oder normativ orientierten Perspektive kann Konstruktivismus daher auch sehr kritisch betrachtet werden, allerdings setzt die pragmatische Perspektive auch ein starkes konsensuales Element: Etwas funktioniert ja nur dann, wenn es für mehrere funktioniert, wenn man sich also darauf einigen kann, dass es richtig oder praktisch ist oder zum gewünschten Ergebnis führt.

Zugleich ermöglicht Konstruktivismus aber auch die gezielte Formulierung solcher wesensorientierte Fragen. Die Analyse der pragmatischen Aspekte macht klar, was besonders pragmatisch ist, also gar nicht mehr hinterfragt wird und als selbstverständlich angenommen wird – seien es Ideen, Haltungen oder Maschinen. Wenn wir feststellen, dass etwas so selbstverständlich ist, dass wir gar keine Fragen mehr dazu stellen können und es wie eine Black Box betrachten, dann haben wir damit die Ausgangslage für sehr viele Fragen geschaffen, etwa die, warum das so ist, welche Alternativen es geben könnte und wie groß die Black Box eigentlich ist (also wo wir aufgehört haben, Fragen zustellen). Glasersfeld hat damit eines der zentralen Konzepte der Actor Network Theory vorweggenommen – Bruno Latour selbst spricht oft von blackboxing und dem closing der Black Boxes, wenn er sich mit dem Entstehen (wissenschaftlichen) Wissens beschäftigt.

Schließlich halte ich diese Grundzüge des Radikalen Konstruktivismus auch für eine gute Ausgangsposition für die wissenstheoretische Auseinandersetzung mit Data Science. Auch hier haben wir es mit einem hoch formalisierten, auf pragmatische Zusammenhänge abzielenden Umfeld zu tun. Das Ergebnis muss formal betrachtet schlüssig sein und sollte keine Rechenfehler sichtbar machen, der Bezug der Daten und Algorithmen zu ihren Objekten kann ausgeblendet werden. Dass das oft zu sozial, ethisch und auch epistemisch unvorteilhaften Ergebnissen führt, hat Cathy O’Neill in “Weapons of Math Destruction” ausgeführt.

Konstruktivismus kann durchaus ein Framework sein, um Data Science-Fragestellungen wissenstheoretisch und wissenschaftsphilosophisch zu behandeln – beide, Data Science und Radikaler Konstruktivismus müssen sich aber letztlich auch einer großen Frage stellen, die über den eigentlichen Anspruch dieser Konzepte (oder Disziplinen) hinausgeht: Reicht das? Sind wir wirklich zufrieden damit, pragmatische formalistische Zusammenhänge und deren Abläufe zu analysieren – oder wollen wir doch mehr? Zumindest der Zweck von Begriffen und ihrer Verwendung sollte stets präsentes Thema sein – das meint auch Glasersfeld.

Das Tragische dabei ist, dass gerade diese Zweckorientierung oft als Argument gegen Konstruktivismus ins Feld geführt wird. Gegner sehen darin Anmaßung, Opportunismus und intellektuelle Unredlichkeit. Der Konstruktivist dagegen sieht hier Demut und Bescheidenheit – wir können ja nur beobachten, ob es funktioniert. Ob es richtig ist, wissen wir dann noch immer nicht – weder im epistemischen noch im ethischen oder sozialen Sinn.

Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen

Wenn nur alle vernünftig sind – dann wird sich alles zum besten wenden. Mit Vernunft, Bildung und Respekt für die Wissenschaft lassen sich Coronaleugner, Klimawandelleugner, Kreationisten und Rassisten eines besseren belehren – oder doch nicht? Und wäre das überhaupt möglich oder sinnvoll? Solche und ähnliche Fragen bestimmen die Ausgangslage, in der sich Alexander Bogner mit der Macht der Wissenschaft beschäftigt. Sowohl in Klima- als auch in Coronafragen werden die Rufe nach Wissenschaft immer lauter.

Man möge auf die Wissenschaft hören; wissenschaftliche Erkenntnisse liegen doch auf dem Tisch – also sollen sich doch Politik und Gesellschaft danach richten. Diese Rufe hört man allerdings von beiden Seiten, von jenen, die für stärkere Beschränkungen und mehr Risikobewusstsein sind und ebenso von jenen, die sowohl das Virus als auch den Klimawandel als aufgebauschte Angstmacherei abtun. Es ist eben nicht so einfach, auf die Wissenschaft zu hören, denn trotz aller Klarheit gibt sie in komplexen Fragen selten klare Handlungsanweisungen (das ist unter anderen auch Thema der ersten Ausgabe in Journal Ahnungslos).

Sollen politische Entscheidungen wissenschaftlich fundiert sein? Können sie das denn sein?

In seinem Buch beschäftigt sich Bogner insbesondere mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik: Soll (oder kann) die Politik auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entscheiden?

Natürlich, wäre eine erste verständliche Reaktion.

Was, drängt sich als erste Gegenfrage auf, hätte das allerdings noch mit Demokratie zu tun? Demokratien entscheiden nach dem Willen der Mehrheit; richtig, falsch oder gar wissenschaftlich sind keine für demokratische Entscheidungen konstitutiven Kriterien.

Das wird umso deutlicher, wenn man die Geschichte der Wissenschafts- und Expertenkritik nachzeichnet. In den 60er Jahren war Expertenkritik ein antiautoritäres aufklärerisches Projekt. Experten waren jene, die aufgrund ihres Wissens und ihrer Positionen Autorität hatten und über jenen standen, die anderes Wissen oder andere Standpunkte einbringen wollten – also etwa Frauen, Jugendliche, Menschen anderer Hautfarbe oder aus anderen Kontinenten. Die Expertise jener Autoritäten galt damals auch als Ignoranz. Heute hat sich das Bild deutlich gewandelt. Expertise ist bunter und vielschichtiger geworden – und es ist deutlich schwieriger geworden, die relevanten oder wünschenswerten Formen von Expertise herauszufiltern (dem hat etwa Harry Collins ein ganzes Buch gewidmet – und auch er kommt zu keiner auf allen Ebenen schlüssigen Lösung). Ganz im Gegensatz zur Expertenkritik der 60er Jahre ist es heute also umgekehrt ein aufklärerisches Projekt, nach Autoritäten zu suchen. Der Kampf gegen (wissenschaftliche) Autoritäten ist nach wie vor ein Kampf um Autonomie – trotz der formalen Ähnlichkeiten zur Kritik der 60er Jahre sind die inhaltlichen Unterschiede aber groß. Das hat unter anderem etwa auch die Rolle des Begriffs der Ignoranz verändert: Was früher ein Makel der alten Autoritäten war, ist heute ein Skill, der als Unbeirrbarkeit – überspitzt betrachtet – eine positive Eigenschaft jener ist, die neue Wege gehen (dazu habe ich unlängst etwas Ausführlicheres geschrieben).

Auf der Suche nach neuen Autoritäten

Wie lassen sich nun neue Rationalitätsautoritäten finden?

Bogner beschreibt dazu Strategien aus der Klimawandelforschung als “empirische Konsensforschung”. Dabei ist das wesentliche Kriterium nicht die Wissenschaftlichkeit des Arguments, entscheidend sind die Zahlen der insgesamt verfügbaren Stimmen (oder Studien). Das bedeutet: Studien, die sich (auf den ersten Blick) wissenschaftlicher Methoden bedienen, haben trotzdem nicht das Zeug, zu Autoritäten zu werden, wenn ihre Ergebnisse dem widersprechen, was die überwiegende Mehrheit von ExpertInnen meint. – Das ist allerdings eine natürlich äußerst wacklige Konstruktion, die vorerst jede Innovation ausscheiden würde, mit unterschiedlichen Kriterien und sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommt und zumindest auch eine Zeitdimension zur Einschätzung der Stabilität des Konsenses einführen soll.

Muss dann die Wissenschaft also doch auch auf Werte zurückgreifen, um ihren Autoritätsanspruch zu stützen?

In manchen Perspektiven sollten Werte und Wissenschaft nichts miteinander gemein haben – Wissenschaft ist eben neutral, sachlich und wertfrei. Wertfreiheit funktioniert allerdings nur in Laborsituationen. Und selbst dort sind schnell Grenzen erreicht – so scheinbar technische Vorgänge und Entscheidungen wie die Festlegung von Messgrößen oder die Kalibrierung von Skalen bilden Wertentscheidungen ab. Denn dabei wird festgelegt, was relevant genug ist, um präzise gemessen zu werden, und was unter Schwellwerte fallen kann (zu diesem Thema hat insbesondere die Wissenschaftsphilosphin Heather Douglas gearbeitet).

Politik aber hat auf jeden Fall mit Werten zu tun. Kann sich im Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik die Politik also diejenige Wissenschaft aussuchen, die den von ihr unterstützen Werten entspricht? – Diese Fragestellung wirkt vielleicht im Licht rein naturwissenschaftlicher Fragestellungen merkwürdig. Soziale oder ökonomische Fragestellungen aber lassen schnell erkennen, wie Werte schon die Formulierung einer wissenschaftlichen Frage beeinflussen.


Gibt es also keinen Ausweg in diesem vielschichtigen und problematischen Verhältnis zwischen Politik, Wissenschaft, Expertise und Autorität? Bogner bleibt vage. Irgendwie werde man sich darauf einigen müssen, dass es so etwas wie objektive Wahrheit gibt, meint er, zumindest als notwendige Fiktion. – Das Anliegen kann ich verstehen, die Formulierung finde ich kritisch. Erstens ist Objektivität ein problematischer Begriff, den ich tunlichst vermeide. Zweitens ist mit dem Vorhandensein von Wahrheit noch nichts über deren Erkenntnis ausgesagt. Drittens kann auch ein und derselbe unbestreitbare Fakt immer noch unterschiedlich bewertet und in unterschiedliche Kausalzusammenhänge gebracht werden. Als Rute im Fenster bekommt die Vorstellung einer objektiven Wahrheit, die Klimawandel- und Coronaleugnern die Rechnung präsentieren wird, überdies einen merkwürdigen theologischen Touch vom Jüngsten Gericht.


An einer gemeinsamen notwendigen Fiktion wird man trotzdem nicht vorbeikommen, wenn gemeinsame Entscheidungen getroffen werden sollen. Fiktionen wie “das Volk” oder “wir” (gegen “die da oben” oder “die da draußen”) machen zur Zeit ja vor, wie das funktionieren kann … – allerdings nicht mit dem aufklärerischen Antrieb, den man sich in einer Rationalitäts- und Wissenschaftlichkeitsdebatte wünschen würde.

Cathy O’Neill: Weapons of Math Destruction

Es ist ein sehr amerikanisches Buch: In vielen Beispielfällen wiederholt Cathy O‘Neill ihren Punkt ein uns andere Mal und fasst ihn zum Schluss noch einmal in einem knapp 20seitigen Konzept zusammen: Algorithmen und Datenanalysen sind alles andere als wertfreie Technik oder Mathematik. Sie multiplizieren den Bias desjenigen, der sie erstelllt hat, indem sie es möglich machen, dass nun auch Menschen, die diesen Bias gar nicht haben, ihre Entscheidungen unabsichtlich auf diese Vorurteile bauen. Sie füttern Fehlentscheidungen, indem sie als selffulfilling prophecies dafür sorgen, dass der ursprünglich falsche Bias nach und nach immer realer wird. Und sie bieten willkommene Ausreden, keine eigenen Entscheidungen zu treffen, keine eigenen Daten zusammen oder Annahmen zu hinterfragen, denn sie lagern die Verantwortung an vermeintliche Evidenz aus.

Diesen Begriff der Auslagerung von Verantwortung und des Aufschiebens von Entscheidungen hat der dänische Medizinsoziologe Klaus Hoeyer als „promissory data“ näher beschrieben: Daten sind ein Versprechen aus der Zukunft. EntscheiderInnen ziehen sich auf die Position zurück, jetzt keine Entscheidung treffen zu wollen, weil sie evidenzorientiert entscheiden wollen, die Datengrundlage dafür gibt es also noch nicht. Also muss man sich Daten beschaffen, abwarten, und dann werde die Evidenz gleichsam von selbst für die richtige Entscheidung sorgen. – So handelt man verantwortungsvoll, ohne zu handeln.

O‘Neill zitiert unter anderem Analysesysteme aus Polizei- und Präventionsarbeit, LehrerInnenbewertung oder Justiz, um ihre Thesen zu untermauern. All diese Anwendungen wurden geschaffen, um vermeintlich objektivere Entscheidungen treffen zu können, um die Auswirkungen persönlicher Vorlieben oder rassistischer oder sexistischer Vorurteile zu reduzieren. In vielen Fällen wurden dabei allerdings nur die Vorurteile jener, die urteilen sollten, durch die Vorurteile jener, die die Analysesysteme erstellten, ersetzt. In anderen Fällen verleitete der Drang zu Präzision die AlgorithmusautorInnen, AnalystInnen oder DatendesignerInnen zu absurden Rechenmodellen, die zwar überaus eindeutige und klar berechenbare Ergebnisse lieferten, die aber in keinem nachvollziehbaren Ergebnis zum eigentlichen Dateninput standen. O‘Neill bringt dazu Beispiele von Lehrerbewertungssystemen, deren Ergebnisse für die gleichen Lehrer von einem Jahr auf das andere Schwankungsbreiten innerhalb der gesamten verfügbaren Messskala auswiesen – ohne dass sich an Unterricht oder Rahmenbedingungen irgendetwas verändert hätte. In anderen Fällen wurden alle LehrerInnen an Schulen in sozial schwächeren Umgebungen schlechter beurteilt, weil außerschulische Einflüsse auf die Leistungen der SchülerInnen nicht berücksichtigt wurden.

Das Phantasiebild von wertfreien Daten und vorurteilsfreier Mathematik nimmt großen Stellenwert ein. Daten lösen Ideologie ab und schaffen neutrale Orientierungssysteme. Damit kommt wissenschaftliche Präzision auch in alltägliche Entscheidungen, in ökonomische Überlegungen oder in sozial und politisch bestimmte Fragen. Das Problem dabei: Auch wissenschaftliche Präzision ist zwar innerhalb des eigenen Modells präzise, aber alles andere als wertfrei. Zahlreiche Werthaltungen bestimmen Fragen der Wissenschaft.

Eine ganz augenscheinliche Wertentscheidung ist etwa die Frage, welche Probleme relevant genug sind, um im Zentrum der Forschung zu stehen und wie Forschungsbudgets zugeordnet werden. Manche sehen in diesen Prozessen vielleicht außerwissenschaftliche Entscheidungen. Philosophinnen wie Heather Douglas haben gezeigt, dass auch genuin wissenschaftliche Tätigkeiten wie etwa die Modellbildung, die Kalibrierung von Skalen und natürlich jede Form von Interpretation in sehr vielen Fällen wertebasierte Entscheidungen sind. Modelle sind nicht nur Erklärinstrumente, sie bilden auch Prioritäten ab – anhand eines Modells lässt sich ablesen, was den ModellierInnen wichtig war und was eher vernachlässigbar. Gleiches gilt für Messsysteme – die scheinbar neutralsten und wertfreisten Werkzeuge überhaupt: Messsysteme bilden ab, wie wichtig oder kritisch das zu Messende ist.

Douglas illustriert das anhand von Messsystemen zur Feststellung gesundheitsschädlicher Emissionen: Wird jede Emission gemessen, weil sie potenziell schädlich ist? Wie präzise ist die Skalierung? Oder gelten Schwellwerte, unterhalb derer nicht gemessen wird? Solche Entscheidungen bilden Prioritäten ab – und sie stehen auch für Werte. Niedrige Schwellwerte oder das Bestehen auf präzisen Skalen ab der kleinsten messbaren Einheit etwa stehen in Heather Douglas‘ Beispielen für Werthaltungen, die Gesundheit und Umwelt höher priorisieren. Höhere Schwellwerte dagegen entstehen aus Werthaltungen, die Wirtschaft und unternehmerische Freiheiten höher priorisieren – indem sie etwa helfen, Einschränkungen und strengere Regeln zu vermeiden.

Douglas‘ Konzept basiert auf Carl Hempels Idee des induktiven Risiko das wissenschaftstheoretisch untersucht, wie sich das Risiko, falsch zu liegen (und für die Folgen falscher Entscheidungen verantwortlich zu sein) auf Wissenschaft auswirkt.

O‘Neill spielt mit dem Gedanken eines hippokratischen Eids für Data Scientists, der sie ebenfalls an Folgen und eigentliche Zwecke ihres Handelns erinnert und hilft, die Priorität von mathematischer Präzision und technisch ausgefeilten Modellen hin zu mehr Verantwortung und sozialer Orientierung zu lenken. Das verleitet natürlich unter Umständen auch dazu, Data Scientists eine überzogene messianische Rolle einzuräumen. Pragmatischer finde ich den Ansatz, in der Evaluierung von Modellen Mathematik und Technik mal ganz beiseite zu lassen und Algorithmen wie naive User als Black Box zu betrachten, also nur auf den Output zu achten – und dann zu überprüfen, welche Annahmen diesen Ergebnissen zugrundeliegen, was er eigentlich tut, wem er nützt, wem er schadet, wer davon eigentlich betroffen ist. Anhand dieser Überlegungen kann dann schließlich geprüft werden, ob die Entscheidungen des Algorithmus tatsächlich Sinn machen.

Die Substanz von Weapons of Math Destruction lässt sich also auch knapper zusammenfassen – aber es bleibt dennoch ein wichtiges Buch vor allem für jene, die in Daten, Mathematik und Technologie neue Objektivität und klarere Entscheidungen erhoffen. Gerade auch weil es von einer Mathematikerin geschrieben wurde, und nicht von einer möglicherweise vorbelasteten Sozialwissenschaftlerin.

Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik

Hannah Arendt ist ja eine der verführendsten Persönlichkeiten der Philosophiegeschichte. Sie hat zu allem etwas gesagt – und dabei noch dazu verschiedenes. Und immer sehr treffend Scharfsinniges. Das macht sie zum Reibebaum für Linke und Rechte, zur Ikone für Liberale – und in Wahrheit zu einer sehr sorgfältigen, überaus belesenen Denkerin, die man nicht auf Häppchenzitate reduzieren darf.

Das gilt umso mehr für Texte, deren Aktualität heute, fünfzig Jahre nach ihrem Erscheinen, LeserInnen aggressiver als eine Speikobra ins Auge springt. “Wahrheit und Lüge in der Politik” ist ein solcher Text. Arendt schrieb diesen Text über die Pentagon Papers und die Lügen des Vietnam-Kriegs, aber angesichts solcher Textpassagen – wer hat da heute in Österreich nicht einen zwanghaft wutentbrannten ÖVP-Abgeordneten Andreas Hanger vor Augen, der sich über die schalsten Kleinigkeiten empört, um vorhandene Empörung von ihrem eigentlichen Gegenstand abzulenken?

“Endzweck [der Lügen] waren weder Macht noch Profit” sondern das Image selbst. “In Hinblick auf das Endziel verwandeln sich alle politischen Zielsetzungen in kurzfristig austauschbare Hilfsmittel; zuletzt, als alles auf eine Niederlage hindeutete, bestand das Ziel nicht mehr darin, die demütigende Niederlage zu vermeiden, sondern Mittel und Wege zu finden, um ein Eingeständnis zu vermeiden und ‘das Gesicht zu wahren’.” – Deine Chefs sind schon lange als machversessene Lügner bloßgestellt, aber du musst nicht nur weiter das tote Pferd ihrer Lügen weiter reiten, du kannst es sogar aus voller Überzeugung und mit guten Erfolgschancen tun, denn: “Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.”

Im Klartext: Niemand glaubt dir. Alle wissen, dass du lügst. Aber dank deiner Lügen (und der deiner Chefs) haben Menschen denn Sinn dafür verloren, was der Nutzen von Wahrheit sein könnte. Sie haben vielmehr gelernt: Wer die Wahrheit sagt, ist ein schwacher Charakter, der sich selbst beschädigt. Und schließlich: All das bestätigt die “Vermutung, dass es vielleicht in der Natur des Politischen liegt, auf Kriegsfuß mit Wahrheit in allen ihren Formen zu stehen. Die Frage ist, warum unter gewissen und keineswegs seltenen Umständen das unbekümmerte Aussprechen von Faktizitäten bereits als eine antipolitische Haltung empfunden wird.”

Natürlich verfolgt Politik immer einen Zweck. Natürlich vertragen sich Zwecke immer nur in sehr bedingtem Ausmaß mit Wahrheiten und noch weniger mit Ehrlichkeit.

Und, und hier macht sich wieder bemerkbar, dass man Arendt nicht häppchenweise zitieren darf und dass Kritik an herrschenden Verhältnissen ihr Ziel keineswegs damit erreicht hat, dass sie ausgesprochen wurde, genau genommen hat sie damit noch gar nichts erreicht: “Ist schließlich nicht Wahrheit ohne Macht ebenso verächtlich wie Macht, die nur durch Lügen sich behaupten kann?”