Aufmerksamkeit: wichtig ist nicht, ob es dir gefällt

Nachdem ich mich am Wochenende über Monocle aufgeregt habe, war ich ein paar Schritte in der Stadt unterwegs. Gerade wenn man sein Leben eher entlang des Gürtels verbringt, sticht das sinnlose Glitzern der Innenstadt noch mehr ins Auge. Man braucht nicht mal das Goldene Quartier mit seinem Charme einer Westernstadt-Kulisse (aus einer deutschen Fernsehproduktion) zu betreten, um in der Wiener Innenstadt von einer Flut von Nobelbrands erschlagen zu werden, die laut schreiend und glitzernd so alles andere als nobel sind.
Wer soll das kaufen? Wer soll sich – abgesehen von der Frage der Leistbarkeit – mit Luxus von der Stange, der überall auf der Welt so gleich ist wie die hochindividuellen Yogalifestylehandmadesoulmateartikel, die letztlich ja auch nur Dinge sind, wohlfühlen? Und was wollen diese Brands sagen, wenn sie sich überall auf der Welt gleichermaßen zusammenrotten, das Stadtbild gleichförmig verwandeln und Luxus der Qualität mit Hochpreisigkeit verwechseln und den Nimbus der Unerreichbarkeit durch deutlich zur Schau gestellte Preisetiketten zerstören?

Da kann ich gleich wieder meine neue Lieblingszeitung des Grauens zur Hand nehmen. Im Monocle-Shop gibt es Style-Empfehlungen, wie sie Herausgebers-Gattinnen nicht absurder hätten zusammenstellen können (HerausgeberInnen-Gatten sind mir in dieser Hinsicht tatsächlich noch nicht aufgefallen).
Ein langweiliges farbloses Outfit um 1430 Pfund, dazu ein Koffer für 630 Pfund (der sich nicht von einem für 60 € unterscheidet). Das ist es also, womit sich Menschen, die Magazine wie Monocle gut finden sollen, beschäftigen (sollen).
Ich gehe ja davon aus, dass diese Preislagen für solche Artikel auch für die überwiegende Mehrheit der Monocle-LeserInnen nur unter Schmerzen leistbar sind. “Darum geht es nicht“, wurde ich dann gleich von lifestyleerfahreneren Mitmenschen eines Besseren belehrt. „Das richtet sich nicht an Leser, sondern an Anzeigenkunden, damit diese sehen, dass sie in einem hochklassigen Umfeld bei einer kaufkräftigen Zielgruppe werden.“

Aha.

Wir bewerben also Produkte bei Menschen, die sie sich nicht leisten können, damit diejenigen, die sie sich leisten können, das Gefühl haben, dass die Produkte bei denen, die sie sich nicht leisten können, hochbegehrt und schick sind. Man möchte ja schließlich auch ein wenig beneidet werden. Oder zumindest die Sicherheit haben, dass man sein Geld nicht für uncoolen Schwachsinn ausgibt.

Was für ein Schwachsinn, denke ich mir, und denke gleichzeitig, dass sich so etwas auch nur ein selbstzufriedener Nerd denken kann. Jemand, der von Lacan gelernt hat, dass die Triebbefriedigung das größte Übel ist, das die Welt zu bieten hat – so wie der Motte das Licht auch nicht gut täte, wenn sie davon nicht durch ein Glas oder zumindest ein Fliegengitter getrennt wäre. Denn was täte man ohne Triebe und Sehnsüchte?
Ok, aber man kann sie zumindest auf etwas anderes richten, denke ich mir.

Dann lasse ich allerdings diesen Gedanken schleunigst fallen. Denn ich bin inzwischen einige Schritte weiterspaziert, und ich sehe Menschen vor dem offensichtlich überfüllten Café Sacher Schlange stehen. – Gut, wenn es nur teuer genug ist, setzen Menschen eben wirklich viel daran, bitter enttäuscht zu werden. Dann sollen sie eben auch Socken um 65 Pfund kaufen. Die haben vielleicht auch noch eine schöne Verpackung.

Aber die, die im Sacher sitzen und draußen die Schlange stehen sehen, könnten sich für exklusiv und begehrt halten – wenn, ja wenn sie nicht selbst vorher noch draußen in der Schlange gestanden wären. Und wenn es im Sacher irgendetwas zu sehen gäbe – außer Menschen, die vorher in der Schlange gestanden sind, um selbst dort zu sein und eben jetzt sich selbst dort zu sehen.
Menschen, die in der Schlange vor dem Café Sacher stehen, ruinieren also gleichzeitig das Erlebnis, das sie gerne hätten, und schaffen es auf einer anderen Ebene aber erst. Sie ruinieren es in dem Sinn, als man als Tourist wohl ins Sacher geht, um dort etwas von Tradition, altem Wien und Kaffeehauskultur zu schnuppern. Was man dort findet, sind allerdings andere Touristen.
Deshalb schaffen sie zugleich ein anderes Erlebnis, nämlich das, sagen (oder posten, sharen, fotografieren) zu können: „Ich war im Sacher. Diesem berühmten Caféhaus.“ Der Caféhausbesuch als performativer Akt wird also dadurch (wieder) relevant, dass das Behaupten der Relevanz ein konstitutiver Akt ist, der sich nicht verleugnen lässt. Wenn ich behaupte, dass mir das wichtig ist, kannst du nichts dagegen sagen. Und außerdem stehen draußen noch hundert Menschen in der Schlange, die das gleiche wollen wie ich. (Die sind dann zwar auch vielleicht ein wenig enttäuscht (sofern sie präsent genug sind, um mitzubekommen, was passiert), aber auch sie werden Teil der Performance sein und der Welt erklären, wie wichtig es ist, im Sacher gewesen zu sein – sie werden der Welt erklären, wie wichtig ich bin.

Ziemlich genau das gleiche leistet die Anzeige mit überteuertem Kram. Und ich rede dann noch darüber. Naja, es gibt eben kein Entkommen … und mit genug Publikum kommt man heute vielleicht sogar noch über die Enttäuschung des erfüllten Triebs hinaus.

Was für ein Schrott

Noch eins aus der Reihe: Lange nicht gelesen. Monocle war mal ein großer Hoffnungsträger für smart gemachte Magazine. Eine Mischung aus Lifestyle und klugen Artikeln, eine globale Perspektive und eine einladende Aufmachung, die Leserinnen und Lesern das Gefühl gibt, das beste Zeug zu lesen.
Das ist etwa füpf Jahre her.
In den letzten Jahren ist mir Monocle oft und, wie es sich gehört, an verschiedenen Plätzen der Welt begegnet, ich habe es gelegentlich auch in die Hand genommen, fand aber nie einen Anreiz, es durchzublättern, geschweige denn zu lesen
.
Mit einem Stapel anderer Hefte habe ich es jetzt doch mal gekauft und gelesen, und ich muss sagen: was für ein übler, oberflächlich brand- und locationdroppender Schrott! Die banalsten Storys werde an entfernte Orte verlegt, was ihnen auf den ersten Blick einen gewissen Reiz verleiht, sie auf den zweiten aber noch oberflächlicher macht (Fettleibigkeit in Qatar, Straßenkiosks in Athen, den Rest habe ich schon wieder vergessen). Was spannend klingt, wenn es denn eine Story wäre, wird in etwa mit der Tiefgründigkeit eines schnellen Stadtspaziergangs abgehandelt.
Sogar das schnelle Durchblättern eines solchen Hefts fällt unter verschwendete Lebenszeit; Monocle ist das auf Menschen, die gerne reich und schön und witzig wären abzielende Pendant zu den sonder Zahl den Zeitungsmarkt überflutenden Beilagen zur Österreich-Tageszeitung. Beides finden seinen Markt (bei Anzeigenkunden), beides hält sich erstaunlicherweise noch immer.

Man kann den Macherinnen und Machern dahinter nur gratulieren. Aber gleichzeitig steigt damit auch das nackte Grauen auf, die Angst davor, Publikationen ausschließlich auf kommerziellen Erfolg zu trimmen. Denn es ist ja nur zu deutlich absehbar, in welche Richtung der Weg geht. Das kann doch niemand gewollt haben; Geldverdienen geht doch anders einfacher …

Florent Couao Zotti, L’homme dit fou

Benin hat seine dunklen Seiten. Voodoo, die blutrünstigen Könige von Dahomey, Sklavenhandel und dann noch eine kommunistische Phase in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Diese dunkle Seite kommt in Florent Couao Zotti Erzählungen zum Tragen. “L’homme dit fou” (“Der Mann, den sie verrückt nannten”) ist eine Sammlung düster-schwermütiger Geschichte, Hexer, Irre, Arbeitslose, schwangere Teenager oder Münder sind das Personal, das in seinen Storys die Städte des südlichen Benin bevölkert.
Das ist oft mitreißend, manchmal anstrengend, sicher nicht jedermanns Sache. Zotti schreibt in einer sehr bunten, von vielen Neologismen geprägten Sprache, die es nicht leicht macht, der Story zu folgen, denn Couao Zotti trägt da durchaus dick und oft überraschend auf.
Aus eine europäischen Perspektive sind diese Erzählungen jedenfalls andere Literatur, die manchmal fasziniert, manchmal gewöhnungsbedürftig und befremdlich dramatisch ist.

Das Buch habe ich in Benin von einem fliegenden Händler am Straßenrand gekauft, der eine bunte Mischung aus Schulbüchern aus den letzten 50 Jahren, zeitgenössischer afrikanischer Literatur, literarischen Klassikern, auf dünne Stangen aufgespießte Singvögel, Coca-Nüsse und Alkohol verkauft hat. Er kannte seine Bücher und konnte zu jedem etwas sagen.

Florent Couao-Zotti wurde 1964 in Benin geboren und lebt als Journalist in Cotonou.

Intelligenzdämmerung: “Nach Gott”, Peter Sloterdijk

Ok, Gott ist tot, hat jeder schon mal gehört. Und jetzt? So weit kommt Sloterdijk in seinem aktuellen Buch gar nicht; der Text endet nach einem Schnelldurchlauf über die letzten drei Jahrtausende bei Nietzsche und William James. Das ist zugleich das große Manko an „Nach Gott“: Es ist ein sehr vorbereitender Text, der selten zum Punkt kommt. Eigentlich ist es gar kein Text als editorische Einheit genommen: Der Band ist eine Sammlung verschiedener Essays und Vorträge, die um ähnliche Themen kreisen. – Das hätte man dazu sagen können, dann hätte man als Leser weniger Argumentation oder Konsistenz erwartet.

„Nach Gott“ fängt stark an; Sloterdijk beschwört diverse Dämmerungen herauf. Auf die Götterdämmerung (ok die kennt man) lässt er die Zivilisationsdämmerung folgen, die er mit Paul Valéry nach dem ersten Weltkrieg ansetzt. Der folgen die Seelendämmerung, die auf die Enttäuschungen der Psychologie, die jene der Religion noch übertreffen, zurückzuführen ist, und schließlich die Intelligenzdämmerung, die nicht vorrangig als Verdummungspessimismus zu lesen ist, sondern auch als Konsequenz der (zukünftigen) Auslagerung von Aktivitäten an künstliche Intelligenz, der Sorge vor und um Intelligenz und Bildung.
Dann folgt auf den nächsten 200 Seiten ein spekulativer Rundgang durch mehrere hundert Jahre Religions- und Geistesgeschichte, der nicht gerade sehr zielorientiert argumentiert und nicht wirklich darauf angelegt ist, sich verständlich zu machen. „Eine Textur aus tausend roten Fäden“, heißt es auch dem Umschlag, und ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass das positiv gemeint ist.
Sloterdijk packt Gnostiker, Mystiker und Kirchenväter aus, spannt einen sehr großen Bogen und kann sich aber nicht für einen zentralen roten Faden entscheiden. Damit bleiben Auswahl, Argumente und Beobachtungen recht willkürlich. Als Leser kann man sich unterhalten fühlen, aber es bleibt für lange Zeit beim unverbindlichen Plauderton, der sich nicht wirklich auf Diagnosen oder Behauptungen festlegen möchte.

Erst auf den letzten etwas mehr als 50 Seiten wird Sloterdijk dann etwas konkreter. Das Buch, das ja eigentlich keines ist, entpuppt sich als Endzeitbuch, in dem Moral zur größten Frage wird. Moral als Antwort auf die Frage, was man tun soll (eigentlich: warum man eher dieses und nicht jenes tun sollte), wird eine heute immer größere Problemstellung, die mit immer schwierigeren Voraussetzungen zu kämpfen hat. Große Richtlinien fehlen; woran orientiert man sich also?

Lösungen und konkrete Perspektiven bietet auch Sloterdijk nicht wirklich, dennoch finden sich vereinzelte Appelle im Text, die erkennen lassen, das Sloterdijk der Suche nach den Lösungen grundsätzlich hohen Stellenwert beimisst. Ein paar Ansätze dazu:
In einer Rede vor französischen Politikern fordert Sloterdijk neue Solidarsysteme. Er beklagt Privatheit und die Konzentration auf individuelle Immunität – einen Bonus, den es „nur im Rahmen einer wirkungsvollen Ko-Immunität“ geben kann. Immunität ist dabei nicht im rechtlichen Sinn zu verstehen (wie die Immunität von Abgeordneten), es ist mehr eine Art Immunität, wie sie durch Impfungen entsteht; sie funktioniert auch ähnlich: Jedem und jeder steht es frei, sich selbst zu immunisieren oder etwas zur Immunität beizutragen; wer das nicht kann oder will, wird immer noch – wie durch den Herdenschutz bei Impfungen – durch die Immunität der anderen geschützt. „Ko-Immunität ist darum das Schlüsselwort zum Verständnis aller politischen und sozialen Erfolgsgeschichten“, auch um den Preis, dass unter Umständen jeder und jede „auf einer niedrigen Ebene etwas opfern wmuss, wenn man auf einer höheren Ebene etwas gewinnen will.“
Diese Einsicht – das auch die bequemste und stärkste Immunität nicht ganz von selbst entsteht – sieht Sloterdijk aber als ins Wanken geraten, als im „Krieg der Interessengruppen“ unter die Räder gekommen. „Die katastrophale Drift der globalen Prozesse macht es heute notwendig, über die Schaffung einer umfassenden Solidaritätseinheit nachzudenken, die stark genug wäre, um dem wehrlosen Ganzen als Immunsystem zu dienen – jene ungeschützten Ganzen, das wir die Natur, die Erde, die Atmosphäre, die Biosphäre, die Anthroposphäre nennen.“
Hier taucht einer von Sloterdijks Gedanken und Formulierungen auf, die überraschenderweise noch immer nicht von Bio- und Öko-Experten bei jeder Gelegenheit auf dem Silbertablett präsentiert werden. Wenn wir nach Handlungsmaximen und verbindlichen Orientierungsperspektiven suchen und uns dabei von Religion verabschieden, dann ist der „Monogäismus“ die grundlegende Vorgabe jedes neuen Wertesystems: Es gibt vielleicht keinen Gott, aber es gibt nur eine Erde. „Ohne (Gott), hieß es, sei ‚alles erlaubt‘. (…) Wenn Gaia gegen uns ist, dann ist nicht mehr sehr viel erlaubt“, schreibt Bruno Latour über diese Wortschöpfung, die er Sloterdijk entlehnt (die aber kurioserweise sonst nirgendwo auftaucht).

Die Konzentration auf endenwollende Ressourcen und Möglichkeiten macht auch klar, warum gerade jetzt die Frage nach Richtlinien, Orientierung und Moral akuter wird: Ein Ablaufdatum wird vorstellbar. Und das alleine ist nicht der einzige Grund: Die Reichweite unserer Handlungen steigt, das Tempo beschleunigt sich. In einer vernetzen Welt, in der vieles zusammenhängt, wird es zunehmend schwieriger, einzelne Idioten zu verkraften. Dazu trägt auch die gleichmachende Dynamik des Digitalen bei, die entgegen den ursprünglichen Erwartungen von Demokratisierung und Individualisierung eher den Mehrheiten entgegenkommt – vor allem jenen mit Budgets.

So konkret wird Sloterdijk aber kaum. Er zieht sich gegen Schluss wieder in abstraktere Regionen zurück. Eine Philosophie der Moderne, meint er, müsse die „Hermeneutik des Ungeheuren als Theorie der alleinigen Welt“ sein. Solche Formulierungen lassen wieder recht viel Spielraum. Hermeneutik als auslegender, interpretierender Zugang, ist schließlich auch am ehesten mit dem Dauergeschwätz unserer Zeit kompatibel. Und das Ungeheure, auch wenn das zugegebenermaßen schipp ein recht freier hermeneutischer Zugang ist, verstehe ich als Platzhalter des Extremen, Sensationellen, Erstmaligen – dessen, worüber wir gern reden oder das wir als das Erstrebenswerte, Beachtenswerte erachten. Aber das wird dann eine eigene Geschichte.

Man muss Peter Sloterdijks „Nach Gott“ nicht lesen. „Du musst dein Leben ändern“ enthält viele klarer formulierte, besser argumentierte Gedanken. Und die Lebenswelt-Konzepte von Bruno Latour oder Rahel Jaeggi liefern konkretere Hinweise für die Suche nach Antworten auf die Frage, was denn heute gut und wichtig sei.

Geht zu mehr Lesungen!

Lesungen und Buchpräsentationen, bei denen es tatsächlich um den Text geht, sind ein schwer unterschätzte Veranstaltungssorten. Stattdessen gibt es Buchpartys, Releasepartys, Diskussionpanels und andere Versuche, der Tatsache auszuweichen, dass es hier um einen Menschen und seine Gedanken in Papierform geht.
Leopold Federmair lieferte unlängst in der Alten Schmiede ein sehr schönes Beispiel dafür, wir mitreißend ein Abend sein kann, an dem ein Mensch einfach nur von seiner Arbeit erzählt.
Und das Buch ist kein besonders mitreißendes Drama, es knüpft an keinen Trendthemen an und es ist nicht mal aufregend betitelt: „Tokyo Fragmente“ beschreibt Beobachtungen von Spaziergängen und Gesprächen in Tokyo.
Federmair schweift ab, auch wenn er von Gesprächen mit Persönlichkeiten wie Kenzaburo Oe erzählt, oder von Elternbesuchen in japanischen Kindergärten, dazu erzählt er von seiner Neugier auf das Leben von Autoren, über die er alles wissen möchte, und die er sich jetzt, als 60jähriger, auch anzusprechen traut.
Er erzählt von Begegnungen mit Roberto Bolano, von der Schwierigkeit, jenseits der 40 noch Sprachen wie Japanisch zu lernen, von eigenen Irrwegen als junger Autor – aber was red ich, ihr sollt ja selbst zu mehr Lesungen gehen. Manchmal ist das sogar besser, als selbst zu lesen.

Theo Ananissoh, Delikatessen

Theo Ananissoh

Ananissohs Buch erzählt schnell und schnörkellos wie ein Theaterstück oder wie eine Real Time-Fernsehserie die Geschichte von einer Frau, vier Männern, Macht, Begehren und Korruption.
Die Handlung streckt sich nur über drei Tage – Donnerstag/Freitag/Samstag sind die Hauptkapitel im Buch – und spitzt sich sehr schnell zu.
Die Story erzählt vom Alltag n Togo, von ganz selbstverständlichen Schwierigkeiten, mit denen Frauen hier, stellvertretend für viele Länder Subsahara-Afrikas, zu kämpfen haben.
Sonia ist Fernsehen- und Radiomoderatorin, hübsch, jung, prominent und begehrt. Reich allerdings nicht, deshalb führt sie zusätzlich eines der kleinen Straßenrestaurants, die nicht viel mehr sind als ein Bretterverschlag, der an einem Haus lehnt.
Sie hat eine Affäre mit einem jungen Beamten, dann kommt ihr allerdings ein togolesisch-kanadischer Dichter auf Heimaturlaub in die Quere. Und da ist auch noch der ältere dicke Stammgast, der ihr im Gegenzug für Gefälligkeiten Haus, Auto und Sorglosigkeit bieten möchte.
Die drei lassen sich noch unter einen Hut bringen, dann aber entpuppt sich der Beamte als Geheimdienstmitarbeiter, der im Auftrag seines Chefs handelt, der Sonia eigentlich kennenlernen möchte. Dabei arbeitet er nicht nur mit Geschenken, sondern auch mit Druck, den vor allem der kanadische Dichter zu spüren bekommt – so wird es also turbulent.

Ananissoh erzählt von einer Welt, in der Jobs selten ausreichen, um Menschen zu ernähren, von Leben und Beziehungen, die ganz unromantisch aus praktischen Notwendigkeiten zerrissen werden, großer Ungleichheit und den eigentlich nur kleinen Schritten dazwischen. Es sind minimale Unterschiede der Biografien, die große Auswirkungen haben,
Das wird ohne große Dramatik, ohne Bitterkeit erzählt. Damit ist „Delikatessen“ eine ziemlich akkurate Beschreibung von Alltagsszenarien und -entscheidungen, die vielerorts selbstverständlich sind und für Europäer doch so fremd und unvorstellbar anders wirken.

 

Theo Ananissoh wurde 1962 in Togo geboren und lebt als Literaturwissenschaftler in Deutschland.

Ich wollte eigentlich nie Marx lesen, aber der Jacobin sagt …

Marx stand nie ganz oben auf meiner Leseliste. Als Student war mir da zu wenig Musik drin – Marx beschäftigt sich mit realökonomischen Fragestellungen; Metaphysik, Ontologie und andere spannende Themen finden sich bestenfalls zwischen den Zeilen.
Später, als ich die realökonomischen Fragestellungen spannender fand, hatten für mich andere Zeitgenossen, vor allem die Anarchisten wie Bakunin und Kropotkin mehr zu sagen.
Heute wundert mich ja am meisten, dass Marx auch zu seinem 200. Geburtstag noch nicht als neuer Heiliger der Work Life Balance, der öko-esozentrierten Selbstoptimierung und der Finde-dein-Selbst-Mentalcoaches avanciert ist. Schließlich war er es doch, der grundlegende Unzufriedenheit, Spannungen zwischen Ideellem und Materiellem, zwischen Anspruch und Realem beschrieben hat.
Gelesen habe ich trotzdem bis heute nur das Kapital – und dann auch nie wieder reingeschaut.

Linke Theorie liegt im Moment eher danieder. Das neu erflammende Interesse an Karl Polanyi ist befremdlich, verlässliche Visionsspekulanten wie Slavoj Zizek oder Chantal Mouffe versagen kläglich beim Versuch, real relevanter zu werden, kaum etwas wirkte bereits bei Erscheinen älter als der große Sammelband „Die große Regression“, in dem das Aufkommen rechter Politik diskutiert wurde.

Auf der anderen Seite gibt es das Jacobin Magazin: Cool aufgemachte linke Theorie, ein Magazin, das astronomische Verkaufszahlen hat (für ein Politik-Magazin, für ein Theorie-Magazin, eigentlich für jedes Magazin), und ein neuer Hoffnungsschimmer am politisch linken Horizont.
Der Aufstieg des Jacobin ist offenbar so faszinierend, dass der Suhrkamp Verlag dem Magazin eine eigene Anthologie in Buchform widmet. Auf 300 Seiten findet sich ein Best-Of diverser Artikel und Interviews. Und sehr viele davon drehen sich, wenn sie sich nicht um Bernie Sanders drehen, um Marx, Marxismus, Marx lesen und Marx verstehen.

Für einen Menschen, der politischer Theorie gegenüber sehr aufgeschlossen ist, ist das sehr ernüchternd. Von konservativer Seite ist nichts nur erwarten, weil das Bewahren (vor allem das Bewahren von Macht) selten herausfordernde Argumente hervorbringt. Liberale sind heute die intellektuell schwächsten – aus lauter Angst vor Ideologie und Dogmatismus beschränkt sich deren Theorieüberbau auf zu Hashtags eingedampften Spässchen im veganen Blondinenwitzformat. Die linken waren die mit Visionen, um die man spannende Theoriegebäude bauen konnte.
Und jetzt wollen sie auch nur mit Marx-Zitaten um sich werfen?

Vielleicht hat die Rückbesinnung auf weitgehend gefahrlose und inspirationsfreie Texte ja auch mit der Angst vor den gescheiterten Menschenbildern zu tun. Der Idealtyp konservativer Politik ist der verdienstvolle langjährige Angestellte, dessen Frau ihm abends die Pantoffeln zur Couch bringt. Liberale idealisieren einen farblosen homo oeconomicus, der immer rational handelt – es sei denn, es ärgert ihn gerade etwas. Der neue Mensch sozialistischer Visionen ist in den Blutbädern Chinas und Russlands untergegangen, geistert heute noch durch albanische oder rumänische LIteratur.
Dabei wäre gerade hier viel Platz für ansprechende politische Theorie: Von welchem Menschen reden wir, welche Bilder haben wir dabei im Kopf? Welche Verhaltensweisen und Ideale helfen, eine Welt zu schaffen, die wir uns wünschen?
Ich fürchte, dass viele davon nur über Verhaltensweisen – im Konsum, im Wirtschaften, im persönlichen Umgang und auch in der Kultur – erreicht werden kann. Revolutionäre Wirtschaftsordnungen, auch wenn sie sauber marxistisch-leninistisch durchstrukturiert sind, leisten das nicht, fürchte ich.

“Man muss die Menschen …” – ach vergiss es

Es ist soweit: Auch die komplexitätsverliebtesten linken Theoretiker müssen heute Klartext reden; ihre Felle schwimmen davon. Vor fünf Jahren noch konnte man sich mit Visionen und deren Schönheit beschäftigen, sich einreden, die Konstruktion immer weiterer, durchaus auch ferner Visionen, sei eine Notwendigkeit. Dann kamen Trump, Duterte, Kurz, Macron und einige andere und spülten linke Politik ganz weit an die Ränder des Geschehens.

So marginalisiert wie heute waren linke Stimmen noch nie (wenn man auch ihre Relevanz miteinrechnet), so hilflos auf der Suche nach praktischen Handlungsanleitungen waren sie selten. Slavoj Zizek schafft es mit abenteuerlichen Konstruktionen, die Notwendigkeit des Klassenkampfs auch angesichts von Migrationsfragen als bestimmende Themen der Zeit zu retten, Chantal Mouffe steigt ganz tief hernieder und beschäftigt sich mit einer vermeintlichen Zukunftshoffnung linker Politik: „Linker Populismus“.

Die Voraussetzungen ihres Gedankengangs: Eine hegemoniale neoliberale Ordnung legt keinen Wert mehr auf Fronten zwischen Rechts und Links; politische Grenzen verschwimmen. Liberalismus und Demokratie sind zwei grundsätzlich positiv besetzte Begriffe, beide sind so etwas wie die Garanten westlicher Zivilisation, Errungenschaften, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Dabei sind es durchaus auch antagonistische Begriffe: Liberalismus pocht auf Individualität und verwehrt sich gegen Einschränkungen, Demokratie ist im wesentlichen ein Mittel. Einschränkungen zu legitimieren. Liberalismus negiert die Demokratie, diese wiederum negiert den Liberalismus, weil sie Freiheit an die Zustimmung vieler bindet.
Dieser Gegensatz wird durch gemeinsame Wurzeln von Liberalismus und Demokratie im Kampf gegen Absolutismus und Demokratie überbrückt.

Chantal Mouffe entscheidet sich nun nicht der Ordnung und der Demokratie halber tendenziell gegen den Liberalismus, für sie ist es eine Frage strukturell sauberer Logik. Es braucht Demokratie, also die Auseinandersetzung mit den anderen, weil politische Subjekte erst durch Repräsentation und Artikulation entstehen. Werte und Ideologien sind wertlos, wenn sie nicht in Kontext verankert sind, an Beispiele greifbar gemacht und an historischen Prozessen verständlich dargestellt werden. Politische Forderungen, die über einzelne Claims und Hashtags hinausgehen, die in ihrer Auswirkung auf gesellschaftliche Entwicklung deutlich werden sollen, sind auf ganze Ketten von Artikulation, Repräsentation und Spiegelung angewiesen. Für sich allein bleiben sie beliebige Begriffe, die jeder Mensch aus jeder politischen Position heraus beliebig ablehnen oder begrüßen kann.
Um dieses Problem zu lösen, schlägt sie eine Radikalisierung der Demokratie vor. Radikalisierung bedeutet: „Freiheit und Gleichheit für alle.“
Das eigentliche Problem dabei – das führt Zizek etwas deutlicher aus – ist dass sich die Vielzahl jeder, die diese Radikalisierung betreffen würde, nicht dafür begeistern lässt. Radikalität ist anstrengend und abschreckend, Feindbilder und Sündenböcke sind weitaus dankbarer. Mouffe führt noch hoffnungsvoll eine Reihe an sozialen Bewegungen – Occupy, Ciudadanos, Posemos, Oxi, La France Isoumise, Gilets Jaunes – ins Treffen und übersieht dabei, dass deren Radikalität sich entweder aus Richtungslosigkeit speiste (die drastischste Beispielen dafür sind Oxi und Gilets Jaunes) oder zu Staub zerfiel, sobald Fragen nach konkreten Anschlussmöglichkeiten lauter wurden (wie bei Occupy; wobei hier durchaus gilt: Das offene Ende war das beste und präziseste, das zumindest den Mythos am Leben gelassen hat).

Und weil auch Mouffe dann irgendwann zum Schluss kommen muss, landet sie dann bei einer wahrhaft schmerzhaften Wendung: Man müsse die Menschen dort abholen, wo sie stehen … Da hätte man ja gleich Politiker, Politikberaterinnen, Marketingleute oder Motivationstrainerinnen fragen können. Das ist das Radikalisierungsprojekt, auf dessen Basis sich gewinnbringender Populismus aufziehen lässt?

Dieses Rennen ist leider schon lange verloren; andere haben diese vermeintlichen Startblöcke schon lang gefunden und nicht nur einen uneinholbaren Vorsprung, sie haben schon mehrfach das Stadion umrundet, sich dabei gelangweilt und sich zu ganz anderen Ufern aufgemacht.

Der Gipfel solcher Plattitüden zeigt, wie traurig es wirklich um linke Visionen bestellt ist. Da wäre es noch besser gewesen, man wäre bei der hochabstrakten komplexitätsverliebten Theorie geblieben. Die lässt wenigstens Spielraum. Und manchmal liefert sie auch Inspiration.