Kenzaburo Oe: japanisches Drama

Kenzaburo-Oe

Ich vertrage japanische Literatur nicht. Dieser endlos weitreichende Sinn für Niederlage, Erniedrigung, Demütigung und Dunkelheit ist einfach zu radikal-depressiv.
Jetzt habe ich trotzdem – weil Leopold Federmair das so nachdrücklich empfohlen hat – Kenzaburo Oes „Reißt die Knospen ab“ gelesen.
Es gibt kein Happy end.
Es gibt keine Helden.
Es gibt keine Lichtblicke.
Es gibt sogar in den wenigen Momenten, in denen es irgendwo Ansätze menschlicher Regungen geben könnte – der junge Ich-Erzähler verliebt sich, hat sogar Sex – immer nur eiskalte Distanz. Und nicht einmal für den Hund geht die Sache gut aus.

Japanische Literatur – egal ob Osamu Dazai, Ryu Murakami oder Kaneshiro Kazuki, um nur einige zu nennen, die ich in letzter Zeit gelesen habe – ist noch trauriger und düsterer als rumänische Literatur, dramatischer als Gabriel Garcia Marquez und hoffnungsloser als russische Vorrevolutionsprosa. Dabei ist japanische Literatur erschreckend schön zu lesen, zugleich aber eben so entsetzlich.

Es wäre wohl auch mal eine literaturwissenschaftliche Analyse wert, zu untersuchen, ob in Japan andere Erzählmuster wirken. In der westlichen Welt (als sehr weit gefasster Begriff, quasi schon gleichzusetzen mit „in der ganzen Welt) haben sich seit langem Schemata etabliert: Heldenfiguren, Heldenreisen funktionieren nach dem gleichen Prinzip; es darf durchaus Hindernisse, Tiefen und dramatische Wendungen geben – aber diese dienen der festeren Bindung mit den Figuren, jede Hürde, jedes Problem ist ein Emotionalisierungsmoment. In Japan nicht. Da sind nicht einmal Brutalität oder Entsetzlichkeit besonders emotionale Angelegenheiten. Ist halt so.

In Europa können wir uns sogar auf Grundzüge des Storytelling einigen und sie in Marketingkursen unterrichten. Und dann macht so eine japanische Story wieder alles ganz anders.
Aber das ist nur eine Anregung; das muss ich Expertinnen überlassen.
Mangas sind in ihrer Erzählweise im übrigen weit traditioneller als japanische Literatur oder Filme. Da bekommen – wie in Tokio Ghoul – auch mutierte Menschenfresser ihre Emotionen in den Griff und finden sogar Freunde. Bei Oe hätte es das nicht gegeben.

Das dämliche Kind bringt auch nichts

Das war wohltuend: „Mir ist das Kind immer am Keks gegangen. Das ist doch vollkommen hohler dummer Optimismus – da sagt das Kind was, ja und was soll dann passieren? Wir wissen es doch alle, wir sind nicht auf dieses Kind angewiesen.“
Alfred Pfabigan stellte diese Woche sein neues Buch „Kaiser, Kleider, Kind“ mit Paraphrasen und Anmerkungen rund um das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern vor. In seinen Anmerkungen zum Buch wendet er sich nicht nur gegen diese überbordende sinnlose Feelgood-Blindheit, die sich mit ergebnislosen Nettigkeiten amüsiert und sich darüber freut, dass sich das nett anfühlt (das sind ähnliche Mechanismen, wie hier sie hier am Beispiel von inhaltslosem Feelgood-Marketing beschrieben haben.)
Pfabigan wendet sich auch gegen das inflationäre Bild es Aufdeckers, Querdenkers oder Enthüllers, der oder die auf den Putz hat, endlich „die Wahrheit“ sagt, gegen „den Mainstream“ auftritt – und dabei das sagt, was ohnehin alle sagen und zum glattesten Opportunisten im dauernden Kampf um Aufmerksamkeit wird.

In „Kaiser, Kleider, Kind“ beschäftigt sich Pfabigan mit einem der berühmtesten Märchen von Hans Christian Andersen und zerlegt die Story in ihre Einzelteile. Die Grundfrage ist dabei nicht nur: Wie lässt sich dieser Betrug auflösen, wenn man nicht an das Wunder mit dem Kind glaubt? In Frage steht auch, warum die Kleider für den Kaiser gar so wichtig waren, und wie die Betrüger so erfolgreich sein konnten.

Eine der Varianten, die Pfabigan erzählt, verpasst dem Kaiser eine Vorgeschichte als in den Schweinestall verstoßener Erstgeborener, der erst nach langer Zeit, als der Betrug aufkam, wieder entdeckt, gewaschen, und auf den Thron gesetzt wurde. Die Einschätzung des Hofstaats dabei: „Wenn wir ihn saubermachen und gut anziehen, dann wird’s schon keiner merken“ – daher also die Konzentration auf die Kleider und die Angst davor, schon wieder als Lügner und Betrüger dazustehen.
In Pfabigans Variante ist es dann auch ein Fremder, der von all dem nichts weiß, der die Nacktheit ins Gespräch bringt – das spricht sich herum, und selbst wenn die Leute in der Menge, die den Festzug begleitet, den Kaiser gar nicht sehen, dann gefällt ihnen doch die Vorstellung der wäre nackt. Und es wird plötzlich möglich, das auszusprechen.

Damit zerfällt die Geschichte. Aber sie wird um einiges praktikabler. Die Moral von der (klassischen) Geschichte (Steh auf! Sag die Wahrheit! Es wird sich lohnen! Alles wird gut!) ist nett, aber überaus zweifelhaft. So passiert das nicht in unserer Welt, so hätten wir es gerne, aber die Praxis zeigt viel häufiger: Nichts dergleichen passiert, und statt uns durchzusetzen, resignieren wir viel häufiger.
Das ist jetzt gar nicht unbedingt ein abwertender Vorwurf. Die Feststellung ist einerseits praxisorientiert, andererseits drückt sie auch Bewunderung für das Geschick der Betrüger aus. Die Weber, sie unsichtbaren Stoff weben und verarbeiten, mit einer gut strukturierten Story eine ganze Stadt in Schach halten und ein schwer zu verlassendes Konstrukt in den Raum gestellt haben, haben gute Arbeit geleistet. Um dagegen aufzutreten, muss man sich schon sehr weit hinauslehnen – im wahrsten Sinn des Wortes eben, nämlich einen ganz anderen Standpunkt einnehmen.
Die Geschichte der Weber („Unseren Stoff sieht nur, wer noch nie gelogen hat“) setzt die ganz einfache Waffe der Moralkeule ein. Es braucht einen aller Konvention nach unmoralischen Akt, um sich dagegenzustellen und eine andere Position einnehmen zu können. Und selbst die Einladung zur Entgegnung („Kritisiere mich!“, „Du siehst doch bestimmt nichts“) zwingt den Kritiker oder die Kritikerin ein moralisches Defizit einzugestehen oder eine der Konvention nach unmoralische Position einzunehmen.
In der politischen Diskussion von heute ist das die Wendung des „Für unsere Leute“; der Sicherheit und des Schutzes für die kleinen Menschen. Politik wird nicht mit rationalen Motiven gemacht, sondern mit moralischen. Populistische Politik hat das internalisiert und braucht gar nicht darüber nachdenken, wert- oder vernunftorientierte Politik hat damit meist ein großes Problem.

Der Kritiker oder die Kritikerin, die eine neue Perspektive auf das Problem ins Spiel bringen will, muss daher von ganz woanders kommen – oder die gleiche Sprache sprechen. Ein Kind, das das sagt, was sich ohnehin alle denken, es aber nicht auszusprechen wagen, ist da eine nette Allegorie, aber völlig realitätsfremd. Viel wahrscheinlicher als Anerkennung wären Unterdrückung und – zumindest zu Zeiten Andersens – eine prophylaktische Ohrfeige.
Die ganz von außen kommende Sichtweise könnte Fragen stellen, die so neu wären, dass man tatsächlich über eine Antwort nachdenken müsste, selbst wenn man es gar nicht wollte.
Und von innen kommende Kritik, die im gleichen System bleibt, müsste eine bessere Sprache sprechen, stärkere Bilder verwenden, eine griffigere Story haben als die Betrüger. Das ist in so einer perfekten Inszenierung überaus schwer.

Ähnlich verlaufend war dann auch die Diskussion im Publikum. Natürlich liegen Parallelen zwischen dem nackten Kaiser und dem Holocaust auf dem Tisch. Natürlich muss man nicht so weit ausholen und kann die Parallelen auch zur Tagespolitik ziehen (die dreifache Erwähnung des Kaiser-Märchens in drei verschiedenen Beiträgen in einer einzigen Spiegel-Ausgabe war für Pfabigan auch Anlass, seine Überlegungen niederzuschreiben).
Aber auch dabei ist die Lösung, der gelingende, zündende Einwand nicht greifbar. „Wir sollten die Politiker für 1,50 € pro Stunde arbeiten lassen“, war einer der Zurufe aus dem Publikum. „Aber mindestens ein halbes Jahr lang.“ – Netter kindlicher Einwand. Alle können zustimmen. Alle sehen das gleiche Bild. Nichts wird passieren.
Wir kennen dieses Prinzip schon lange, und wir haben noch immer keine Lösungen.
Ein bisschen Philosophie kann wenigstens die falschen Lösungen entlarven. Und man fühlt sich damit nicht so allein, wenn wieder mal das große gutgelaunte Rauschen nervt.

 

***

Alfred Pfabigan
Kaiser, Kleider, Kind
Limbus Verlag

Nach Gott, Nach Sloterdijk – Wer macht jetzt die Regeln?

Peter Sloterdijk widmet der Zeit „Nach Gott“ ein ganzes Buch, Gottlosigkeit oder -verlassenheit (Achtung, das sind eigentlich Gegensätze) sind in der einen oder anderen Art allgegenwärtig, und praktisch jeder hat schon mal gehört, dass der Typ mit dem großen Schnauzer diesen Spruch drauf hatte und jetzt aber selber tot ist (wenn er nicht mit der Katze in der Schachtel sitzt). – Nietzsche, Nihilismus und Schrödingers Katze sind gleichermaßen Allerweltsrepertoire für Halbgebildete. Warum also eine ganze Essaysammlung über einen verstorbenen Gott, noch dazu zu einer Zeit, in der Karel Gott gerade in allen Medien dementiert, gestorben zu sein?

Gut und Böse sind auch nicht mehr was sie einmal waren

Ich bewundere und beneide Menschen, die sich religiös ereifern können, sei es als Gläubige, als Atheisten, Säkularisten, Laizisten – da sind wirklich viele billige Pointen abzuholen .
Aber wenn wir Religion, ihre Kritik, ihre Machtansprüche und die umgekehrten Machtaktiken der Weltlichen, die religiöse Strategien als Vor- oder Feindbilder strapazieren, wirklich mal beiseite lassen, dann müssen wir jetzt mehr denn je die Frage nach den großen Welterklärungs- und Weltlenkungssystemen stellen. Was gibt Orientierung, was setzt einen Bezugsrahmen für richtig und falsch, gut uns böse, schlecht und besser, verbohrt und pragmatisch, aufgeschlossen und verklemmt?
Die Verschiebung dieser gut/böse-Begriffspaare deutet schon darauf hin, dass Werte und Ideale überaus unterschiedlich sein können; die Differenzierung in wünschenswert und nicht wünschenswert aber zieht sich weiter, auch ohne von außen vorgesetzte kontrollierende Instanz.

Wertegläubige und Werteanwender

Meines Erachtens müssen wir hier unterschiedliche Kategorien voraussetzen: Es gibt am Nutzen orientierte Erklärungs- und Steuerungssysteme und es gibt solche, die auf Ideale abzielen. Manche dieser Systeme sind ihren Anwenderinnen und Anwendern bewusst, andere nicht. Beide Varianten gibt es aber in beiden Kategorien, und in manchen Fällen wäre es sicher auch treffender, von Gläubigen als von Anwendern zu reden. Anwendung ist mitunter ein zu bewusster, klar gesetzter Akt, etwas, das nicht allen im Zusammenhang mit der Wertewahl offensteht. Denn diese zeichnet sich in vielen Fällen gerade dadurch aus, dass sie nicht als Wahl, sondern als Voraussetzung und Gegebenheit verstanden wird.
Am Nutzen orientierte Werte- und Erklärungssysteme kennen als leitende Fixsterne etwa

  • Erfolg
  • die Wirtschaft
  • Kraft, Macht, Potenz im weitesten Sinn

An Idealen orientierte Systeme beziehen ihre Argumente aus Konzepten wie

  • Ökologie
  • die Anderen
  • Gerechtigkeit
  • Gemeinschaft

Vielleicht wirkt diese Aufzählung willkürlich und sehr punktuell. Aber sehen wir noch mal genauer hin.

Gut ist, was nützlich ist

Erfolg als Leitstern bedeutet nicht nur, dass ich alles tun will und darf, was meinem Erfolg dient. Es bedeutet auch, dass andere, deren Erfolg größer ist, „besser“ sind. Es bedeutet, dass diese sich Dinge herausnehmen können, die mir vielleicht verweigert bleiben, dass sie Vorgaben und Standards setzen (und verschieben), die ich zu akzeptieren habe. Wer Erfolg hat, ist gut. Wer keinen hat, ist ein Auslaufmodell. Klingt nach ferner düsterer Utopie? Dann schaut noch mal die türkise „Bewegung“ und ihre Bewunderer an … Aus diesen Urteilen und Priorisierungen lassen sich klare Wertesysteme ableiten, klar jedenfalls so lange, wie sie sich keinen Grundsatzfragen stellen müssen. Dann gerät unter Umständen schnell die allererste Entscheidung ins Wanken – man müsste erklären können, warum Erfolg das Maß aller Dinge sein soll.
Wir müssen aber gar nicht stromlinienförmige Politkörper und -geister strapazieren. In der Ökonomie sowieso, aber auch in der Kultur ist Erfolg der Leitstern. Wachstum (nahezu egal wovon und wozu) und Reichweite sind Qualitätskriterien, die vervielfachende Mechanismen in Gang setzen.

Gut ist, was wächst

Kraft und Macht als Leitbilder funktionieren nach einer ähnlichen Logik. Kraft und Macht sind wichtig und vorteilhaft, also muss es gut sein, mehr davon zu besitzen, sowohl für einzelne als auch als Leitbild.
Ein Primat der Ökonomie dagegen muss nicht von vornherein auch die Wirtschaftstreibenden an die Spitze seiner eigenen Wertepyramide stellen. Hier ist das Rechnen das entscheidende Wertekonstrukt, die scheinbare Genauigkeit, mit der der gemessen, berechnet, vielleicht sogar vorhergesagt werden kann. Es ist das klare Urteil von Mehr oder Weniger, das ein einfaches und deutliches Bild der Welt zeichnet und klar macht, wohin man möchte.
Wachstum als oberstes Prinzip anzusetzen schließt von vornherein schon aus, das Ganze im Blick zu haben. Es kann nicht alles wachsen. Wachstum bedeutet zugleich auch Verdrängung.

Gut ist, was überleben sichert

Das klingt nach moralischem Unterton, nach betulichem Beigeschmack. Ist aber nicht so. Wir nähern uns hier nur einer Sphäre andersartig orientierter Wertesysteme. Eines der am klarsten nachvollziehbaren ist dabei ein von Ökologie dominiertes Wertesystem: Es gibt nur eine Erde. Und die brauchen wir. Können sich also gut/schlecht, nützlich/schädlich und ähnliche Kategorisierungen daran orientieren, was für die Erde nützlich ist?
Das klingt altruistisch, ist es aber nicht. Denn was für die Erde nützlich ist, sichert schließlich den Fortbestand dessen, was Menschen zum Überleben brauchen. Bruno Latour greift den Gedanken der Erde als zentralen Leitwert in seinen Lebenswelt-Überlegungen mehrfach auf. Wie so oft bleibt auch dabei das Problem, dass die Erde grundsätzlich recht schweigsam ist und auf Vermittler angewiesen ist. Da bewundert man wieder die strukturelle Effizienz der religiösen oder antireligiösen Organisationskomplexe, die mit Glauben an den Glauben oder Glauben an die Rationalität unbeirrbar klare Linien fahren können.
Offenere Anstands- und Wertesysteme müssen sich da auf mehr Diskussion einlassen.

Damit kommen auch die Anderen ins Spiel. Die einfache Variante wäre: Gut ist, was für die anderen gut ist. Das ist aber eigentlich und rational betrachtet nicht verständlich. Welche Grund gibt es, hier eine Grenze zwischen uns und denen zu ziehen und andere auf eine höhere oder moralisch relevantere Stufe zu stellen? – Dieser Einwand funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie der Stammtischreflex gegen Politische Korrektheit, Feminismus und andere Antidiskriminierungstechniken. Das wäre auch der falsche Weg.
Die anderen kommen dann ins Spiel, wenn sie Betroffene sind, wenn unsere Handlungen Einfluss auf sie haben. Dieser Kreis wächst laufend. Handlungen ziehen größere Kreise, Information verbreiten sich schneller, globale Zusammenhänge werden unmittelbarer spürbar. Die Philosophin Lisa Herzog hat diese Dynamik der engeren und dichteren Zusammenhänge als Argument zur Ehrenrettung für Adam Smith ins Spiel gebracht, dessen Sichtweise eines (auch moralisch) regulierenden Marktes heute naiv wirken mag, aber für die Realität des 18. Jahrhunderts konzipiert war. Der Evolutionsbiologe und Mathematiker Martin Nowak stößt auf seiner Suche nach den Grundlagen, Ursachen und Motivationsfaktoren für Kooperation immer wieder auch grundsätzlich unscharfe, aber sehr bestimmende Elemente wie Hoffnung oder Vertrauen auf und in andere. – rational wäre es ja, nicht zu kooperieren. Menschen tuen es trotzdem, oft auch in der Hoffnung auf Entgegenkommen der anderen (Nowak nennt das indirekte Reziprozität).
Die anderen sind vor allem dann keine zu vernachlässigende Größe, wenn die Perspektive des einzelnen verlassen wird. Erfolg, auch für einzelne, ist ja nichts schlechtes. In dieser Isoliertheit taugt Erfolg nur wenig als Leitsystem, das Weiterentwicklung für alle im Blick hat.

Von hier aus ist es dann in vielen Debatten nicht weit zu schwierigen Begriffen wie Gerechtigkeit und Gemeinschaft, die ohne politischen Hintergrund ziemlich nutzlos sind. Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Gerechtigkeit als Rache – hier kommt man auch von der politischen gefährlich schnell nah an eine praktisch religiöse Diskussion.

Heute müssten wir uns ja nicht mehr einigen …

Wozu also, warum sollten wir uns mit Fragen nach Leitsystemen beschäftigen, wenn wir diese, vor allem in ihrer Eigenschaft als Herrschaftsinstrumente endlich ein wenig in den Hintergrund gedrängt haben, wenn wir es uns auch im vielstimmigen Pluralismus gemütlich machen könnten?
Das ist eine Zeitfrage.
Wir können im friedlichen Pluralismus aneinander vorbeireden, ohne Entscheidungen treffen müssen, wir können uns auf relativistische Positionen zurückziehen, rationalistische Kahlschläge fordern, individualistische Absolutisten sein, moralisch aufmunitioniert unangreifbar werden – aber aus all dem entsteht nichts. Es bleibt bei einem Gewirr nebeneinander stehender Positionen, die wieder nur innerhalb ihres eigenen Kontexts rechtfertigen können, warum sie den anderen überlegen sind.

Warum sollten wir hier raus? Es ist dringend notwendig, Entscheidungen treffen zu können. Um Entscheidungen treffen zu können, müssen wir aber erst wieder Auseinandersetzung lernen. Dagegen sagen die Individualisten und Ausgegrenzten, dass sich sich nicht mehr mit den Machtansprüchen und Vorurteilen der anderen beschäftigen wollen, die Rationalisten sehen Jahrhunderte der Aufklärung in Gefahr, Esoteriker und Nazis sehen sich von Mainstream oder Verschwörungen bedroht, Medien freuen sich an wortreichen Debatten und mächtige Entscheidungsträger messen Gut und Böse in den kurzen Fristen von Vorstandsperioden oder Wahlzyklen.

Dann gibt es aber keine Basis für Handlung mehr

In dem großen Rauschen verliert man als nachdenklicher Mensch jede Lust, überhaupt noch etwas zu sagen. In vielen Fällen ist das auch nicht schlimm. In anderen Fällen ließe sich mit ein wenig Argumentation und Ruhe viel Aufregung vermeiden, Zeit sparen und Energie für anderes freisetzen. Und in wieder anderen Fällen braucht es anscheinend Regeln und Werte und Grundsätze, um überhaupt entscheiden zu können, wer reden sollte, wem man Aufmerksamkeit schenken sollte und wessen Einwände eine Rolle spielen.
Solange hier unhinterfragt und unreflektiert unterschiedliche Systeme aufeinanderprallen und es keine Kultur der Übersetzung gibt, es nicht notwendig ist, den Standpunkt wechseln zu können, ja solange das eigene System nicht einmal annähernd so bewusst und durchdacht ist, wie es verordnete Zwangssysteme wie Religionen noch waren – so lange haben wir keine Basis, um uns mit großen Herausforderungen zu beschäftigen. Wie wollen wir leben, Arbeit organisieren, die Umwelt überleben lassen – das sind warteorientierte Fragen. Für eine sinnvolle Beschäftigung mit diesen müssen wir uns auch sinnvoll wieder mit Wertesystemen beschäftige können, und ganz praktisch betrachtet, als vielleicht erster Schritt, müssen wir auch reden und verhandeln lernen.
Das ist die dringend notwendige Basis.
Dafür brauchen wir keine traditionellen, weltumgreifenden oder auf andere Art und Weise unverschämten Systeme wie Religionen (seien sie jetzt spirituell, ökologisch oder rationalistisch). Wir brauchen eher die Offenheit, auch außerhalb der eigenen Clique verständlich sein zu wollen. Oder die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, fürs erste vielleicht auch mal schwer verständlich zu sein …

Lisz Hirn, Geht’s noch!

Der Titel ließe eigentlich ein angriffigeres Buch vermuten: „Geht’s noch!“ heißt das neue Buch von Lisz Hirn, das sich mit aktuellen Gefahren für die Geschlechtergleichstellung beschäftigt. Im Buch findet sich dann aber eine weitgehend nüchterne Bestandsaufnahme, die kein besonders rosiges Bild der Gegenwart zeichnen.
Hirn greift Max Frischs Geschichte von Biedermann und den Brandstiftern auf – Biedermänner öffnen Brandstiftern ihre Tür statt klare Grenzen zu setzen, und natürlich geht alles in Flammen auf.
Biedermänner und Biederfrauen sind leitende Figuren in Hirns Buch, sie sind das Gegenstück zu Radikalen in alle Richtungen, sie sind jene, für die alles halb so schlimm sind und die „Das wird man doch noch sagen dürfen“ und „Früher war es einfacher“ zu ihren Leitmotiven machen.

Zwei wesentliche Gedanken unterscheiden Hirns Überlegungen von vielen anderen feministischen Diskursen.
Der erste: Sie macht Diskriminierung nicht nur am Geschlecht, sondern vor allem auch an der Mutterrolle fest. Frauen können bei vielem mit, sind formell gleichgestellt, abstrakte Diskriminierungsbeispiele können oft (ebenso abstrakt) entkräftet werden (auch wenn die Praxis eine andere Sprache spricht), Frauen können Karriere machen – aber sie müssen Entscheidungen treffen. Sobald Mutterschaft ins Spiel kommt, verändert sich das Bild. Kind oder Karriere ist immer noch eine weibliche Entscheidung. Es ist auch eine Entscheidung, die immer nur falsch sein kann – zumindest können jede Menge Einwände ins Feld geführt werden, egal wie die Entscheidung getroffen wurde. Das sind Mechanismen, die Frauen kritisieren, in die Pflicht nehmen und mit Entscheidungen belasten – obwohl der ganze Themenkomplex grundsätzlich nicht ausschließlich Frauensache ist. Als zugespitztes Gedankenexperiment lädt Hirn dazu sein, sich vorzustellen, anstelle von Frauenquoten gäbe es Mütterquoten …

Der zweite Punkt: Hirn schreibt auch mit dem Blick auf Männerrollen. Emanzipation von Geschlechterrollen ist eine Entwicklung, die auch vor Männern nicht halt macht. Das betrifft männliche Privilegien genauso wie Zwänge, Verpflichtungen und Einschränkungen, die vorrangig Männer betreffen. „Auch wenn es weht tut: Emanzipation kann nur nachhaltig gelingen, wenn sich mit den Frauen auch die Männer emanzipieren.“
Mit der Bereitschaft, auch Männerrollen anders zu sehen (oder Männlichkeit, so wie sie traditionell und nach wie vor mehrheitlich gesehen wird, überhaupt erst als Rolle zu verstehen), entsteht die Möglichkeit, neue Verhältnisse zuzulassen. Diese Art der Emanzipation ist eine Entwicklung, die vorrangig Männer selbst durchlaufen müssen. Die – vorrangig von Biedermännern und Biederfrauen ausgehende – Gefahr dabei ist, die Verantwortung für diese Entwicklung wiederum Frauen in die Schuhe zu schieben, sei es durch Kindererziehung oder durch Alarmismus in der politischen Diskussion. Männliche Emanzipation dagegen wäre eher als Reifeprozess der Männer zu sehen.

Das Buch erzählt vielleicht nichts zwingend neues, aber es leuchtet neue Facetten aus und setzt etwas andere Schwerpunkte, als sie sonst in der Diskussion vorherrschen.
Ich habe eigentlich nur zwei kleine Einwände, die an der Sache nichts ändern, sondern eher nur eine nerdige Frage der Textgenauigkeit sind: Lisz Hirn sieht politische Entwicklungen als mitverantwortlich, manchmal klingt es sogar so als wären sie ursächlich für neue konservative Tendenzen; „Niemand hätte sich früher als konservativ bezeichnet.“ – Dem möchte ich entgegenhalten, dass Österreich nie nicht-konservativ oder traditionskritisch war. Gerade in Bezug auf Geschlechterrollen zieht sich das Reaktionärkonservative durch alle politischen Lager, und Tradition war praktisch immer ein liebliches Abziehbild, das gern auch mit einem Augenzwinkern für alles eingesetzt werden kann und alles entschuldigt. Vor zehn Jahren, nach zwei aufeinanderfolgenden sozialdemokratischen Wahlsiegen und zwei Jahre nach Schwarz-Blau startete ausgerechnet die tiefrote, aus der Zentralsparkasse hervorgegangene Bank Austria eine neue Werbelinie: „Konservativ liegt voll im Trend“ und illustrierte sie mit Fotos von patschentragend zeitunglesenden Männern und kopftuchtragenden Frauen. – Damals war es allerdings nur Werbung, heute ist es Regierungspolitik.

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Rückkehr zur Natur, hinter der sich das Vorbild der Natürlichkeit als neues zusätzliches Unterdrückungsinstrument verbirgt. Lisz Hirn sieht hier erstaunliche Parallelen zwischen linksorientierten Ökos und Konservativen – beide Seiten seien gegen hormonelle Medikamente, ähnlich wie sie auch gegen Impfungen seien. Ich sehe solche Parallelen auch, allerdings eher zwischen linksorientierten Ökos und dem rechten Rand – in beiden Szenen gibt es seltsame Esoterikphantasien; links und rechts sind oft schwer zu unterscheiden. Die Natürlichkeit, die Konservative propagieren, ist dagegen eher eine von Kultivierthiet geprägte Natürlichkeit; Natürlichkeit ist hier das Gegenstück zu Aufdringlichkeit, Natürlichkeit ist das Verhalten, das (von Gott oder der Tradition) vorgegebenen Rollen entspricht. – Man soll das Makeup einer Frau vielleicht nicht auf den ersten Blick sehen, aber rasieren soll sie sich bitte schon, und die Absätze nicht zu hoch. Da “natürliche” Frauenbild, das mir hier in den Sinn kommt, ist das zurückhaltender Frauen auf Burschenschafterveranstaltungen, oder das jener, deren Neigung zur Hausarbeit, wie es die Sozialministerin sieht, in ihrer Natur festgelegt sein soll.

Gerade dieser letzte Punkt zeigt aber eher, wie verworren die Diskussion sein kann und wie wichtig eine klare analytische Sicht ist. Also lest dieses Buch. Denn letztlich – insofern bin ich schon auf ein nächstes Buch gespannt – ist für Hirn auch Emanzipation nur eine Spielart einer grundlegenden Freiheit, nämlich jener Freiheit, Dingen ins Auge sehen zu können um sich mit den großen Fragen beschäftigen zu können, jenseits von vorschnellen Antworten und zweckorientierten wirtschaftspolitischen Banalitäten. Und große Fragen wird es in den nächsten Jahren schließlich genug geben.

Zizeks “Sex”-Outing ist ziemlich traurig

Ach herrje, es ist ja oft ein Vergnügen, Texte derart abstrakter Denker wie Zizek zu lesen, weil sie selten konkret werden, weil sie Spielraum lassen, manchmal auch anregen. Umso schlimmer ist es dann oft, wenn sie konkret werden.
Wenn Slavoj Zizek mit Gewalt Dinge in Popkultur reinlesen will, dann ist das ok. Schließlich regt auch Popkultur zum weiterspinnen an. Wenn er um jeden Preis brachialrevolutionäre Phantasien herbeischreiben möchte und mit Werkzeugen der Siebziger Jahre Entwicklungen von heute – dazwischen liegen bald fünfzig Jahre – erklären möchte, ist das im besten Fall lächerlich, im schlimmsten Fall ungewollt zynisch und dumm. Wenn er über Sex schreibt, wird es haarsträubend.

In der NZZ fabuliert Zizek etwas von der Entsublimation des Sex durch den Feminismus, von der Rückeroberung der Vulva, die „unsexy“ sei. Es ist ein sehr schwacher Text, der mich zumindest geradezu entsetzt zurücklässt. Da ist ein Mann jenseits des Erwachsenenalters auf Körperteile fixiert, ohne sie als Körperteile zu sehen, er verbindet sie mit einem Mysterium, das ihnen erst angedichtet werden muss und ist enttäuscht, wenn deren biologische Funktionsweise ans Tageslicht kommt.
Hey, dabei kann man doch viele praktische Dinge lernen!, könnte man jetzt zumindest aus bildungsbürgerlicher Sicht entgegensetzen.

Wollte man auf all die absurden Vermutungen, Verknappungen und an den Haaren herbeigezogenen Zusammenhänge eingehen, die Zizek in seinem Text bemüht, und dabei über Sex reden – man könnte auch nur in ein großes Fettnäpfchen stolpern und ein Musterbeispiel von too much information liefern.
Ich würde es sogar unbezweifelt stehen lassen, dass es das Unerreichbare ist, das uns antreibt, und dass es eine der größten Enttäuschungen wäre, wenn wir dieses wunderbarerweise erreichen könnten (das ist eine Variante von Lacan psychoanalytischer Trieblehre, die in praktisch jedem Zizek-Text auftaucht).

Aber die Vorstellung, dass all das den Bach runtergehen soll, weil man mehr über die Funktionsweise eines Körperteils weiß … – auch Philosophen sollten mehr Sport machen. Training hat schließlich auch etwas mit Logik zu tun, und der Körper (egal welcher Teil) macht dann gleich mehr Platz für aufregendere Mysterien.

Und auf der professionellen Seite liegt diese Erkenntnis auch die Vermutung nahe, ich hätte mir bislang zu viel MPhe gegeben, in Zizek-Texten Sinnvolles zu entdecken, sie wohlwollend und konstruktiv zu lesen. Dieser Vulva-Text jedenfalls ist dumme planlose Faselei.

Aufmerksamkeit: wichtig ist nicht, ob es dir gefällt

Nachdem ich mich am Wochenende über Monocle aufgeregt habe, war ich ein paar Schritte in der Stadt unterwegs. Gerade wenn man sein Leben eher entlang des Gürtels verbringt, sticht das sinnlose Glitzern der Innenstadt noch mehr ins Auge. Man braucht nicht mal das Goldene Quartier mit seinem Charme einer Westernstadt-Kulisse (aus einer deutschen Fernsehproduktion) zu betreten, um in der Wiener Innenstadt von einer Flut von Nobelbrands erschlagen zu werden, die laut schreiend und glitzernd so alles andere als nobel sind.
Wer soll das kaufen? Wer soll sich – abgesehen von der Frage der Leistbarkeit – mit Luxus von der Stange, der überall auf der Welt so gleich ist wie die hochindividuellen Yogalifestylehandmadesoulmateartikel, die letztlich ja auch nur Dinge sind, wohlfühlen? Und was wollen diese Brands sagen, wenn sie sich überall auf der Welt gleichermaßen zusammenrotten, das Stadtbild gleichförmig verwandeln und Luxus der Qualität mit Hochpreisigkeit verwechseln und den Nimbus der Unerreichbarkeit durch deutlich zur Schau gestellte Preisetiketten zerstören?

Da kann ich gleich wieder meine neue Lieblingszeitung des Grauens zur Hand nehmen. Im Monocle-Shop gibt es Style-Empfehlungen, wie sie Herausgebers-Gattinnen nicht absurder hätten zusammenstellen können (HerausgeberInnen-Gatten sind mir in dieser Hinsicht tatsächlich noch nicht aufgefallen).
Ein langweiliges farbloses Outfit um 1430 Pfund, dazu ein Koffer für 630 Pfund (der sich nicht von einem für 60 € unterscheidet). Das ist es also, womit sich Menschen, die Magazine wie Monocle gut finden sollen, beschäftigen (sollen).
Ich gehe ja davon aus, dass diese Preislagen für solche Artikel auch für die überwiegende Mehrheit der Monocle-LeserInnen nur unter Schmerzen leistbar sind. “Darum geht es nicht“, wurde ich dann gleich von lifestyleerfahreneren Mitmenschen eines Besseren belehrt. „Das richtet sich nicht an Leser, sondern an Anzeigenkunden, damit diese sehen, dass sie in einem hochklassigen Umfeld bei einer kaufkräftigen Zielgruppe werden.“

Aha.

Wir bewerben also Produkte bei Menschen, die sie sich nicht leisten können, damit diejenigen, die sie sich leisten können, das Gefühl haben, dass die Produkte bei denen, die sie sich nicht leisten können, hochbegehrt und schick sind. Man möchte ja schließlich auch ein wenig beneidet werden. Oder zumindest die Sicherheit haben, dass man sein Geld nicht für uncoolen Schwachsinn ausgibt.

Was für ein Schwachsinn, denke ich mir, und denke gleichzeitig, dass sich so etwas auch nur ein selbstzufriedener Nerd denken kann. Jemand, der von Lacan gelernt hat, dass die Triebbefriedigung das größte Übel ist, das die Welt zu bieten hat – so wie der Motte das Licht auch nicht gut täte, wenn sie davon nicht durch ein Glas oder zumindest ein Fliegengitter getrennt wäre. Denn was täte man ohne Triebe und Sehnsüchte?
Ok, aber man kann sie zumindest auf etwas anderes richten, denke ich mir.

Dann lasse ich allerdings diesen Gedanken schleunigst fallen. Denn ich bin inzwischen einige Schritte weiterspaziert, und ich sehe Menschen vor dem offensichtlich überfüllten Café Sacher Schlange stehen. – Gut, wenn es nur teuer genug ist, setzen Menschen eben wirklich viel daran, bitter enttäuscht zu werden. Dann sollen sie eben auch Socken um 65 Pfund kaufen. Die haben vielleicht auch noch eine schöne Verpackung.

Aber die, die im Sacher sitzen und draußen die Schlange stehen sehen, könnten sich für exklusiv und begehrt halten – wenn, ja wenn sie nicht selbst vorher noch draußen in der Schlange gestanden wären. Und wenn es im Sacher irgendetwas zu sehen gäbe – außer Menschen, die vorher in der Schlange gestanden sind, um selbst dort zu sein und eben jetzt sich selbst dort zu sehen.
Menschen, die in der Schlange vor dem Café Sacher stehen, ruinieren also gleichzeitig das Erlebnis, das sie gerne hätten, und schaffen es auf einer anderen Ebene aber erst. Sie ruinieren es in dem Sinn, als man als Tourist wohl ins Sacher geht, um dort etwas von Tradition, altem Wien und Kaffeehauskultur zu schnuppern. Was man dort findet, sind allerdings andere Touristen.
Deshalb schaffen sie zugleich ein anderes Erlebnis, nämlich das, sagen (oder posten, sharen, fotografieren) zu können: „Ich war im Sacher. Diesem berühmten Caféhaus.“ Der Caféhausbesuch als performativer Akt wird also dadurch (wieder) relevant, dass das Behaupten der Relevanz ein konstitutiver Akt ist, der sich nicht verleugnen lässt. Wenn ich behaupte, dass mir das wichtig ist, kannst du nichts dagegen sagen. Und außerdem stehen draußen noch hundert Menschen in der Schlange, die das gleiche wollen wie ich. (Die sind dann zwar auch vielleicht ein wenig enttäuscht (sofern sie präsent genug sind, um mitzubekommen, was passiert), aber auch sie werden Teil der Performance sein und der Welt erklären, wie wichtig es ist, im Sacher gewesen zu sein – sie werden der Welt erklären, wie wichtig ich bin.

Ziemlich genau das gleiche leistet die Anzeige mit überteuertem Kram. Und ich rede dann noch darüber. Naja, es gibt eben kein Entkommen … und mit genug Publikum kommt man heute vielleicht sogar noch über die Enttäuschung des erfüllten Triebs hinaus.

Was für ein Schrott

Noch eins aus der Reihe: Lange nicht gelesen. Monocle war mal ein großer Hoffnungsträger für smart gemachte Magazine. Eine Mischung aus Lifestyle und klugen Artikeln, eine globale Perspektive und eine einladende Aufmachung, die Leserinnen und Lesern das Gefühl gibt, das beste Zeug zu lesen.
Das ist etwa füpf Jahre her.
In den letzten Jahren ist mir Monocle oft und, wie es sich gehört, an verschiedenen Plätzen der Welt begegnet, ich habe es gelegentlich auch in die Hand genommen, fand aber nie einen Anreiz, es durchzublättern, geschweige denn zu lesen
.
Mit einem Stapel anderer Hefte habe ich es jetzt doch mal gekauft und gelesen, und ich muss sagen: was für ein übler, oberflächlich brand- und locationdroppender Schrott! Die banalsten Storys werde an entfernte Orte verlegt, was ihnen auf den ersten Blick einen gewissen Reiz verleiht, sie auf den zweiten aber noch oberflächlicher macht (Fettleibigkeit in Qatar, Straßenkiosks in Athen, den Rest habe ich schon wieder vergessen). Was spannend klingt, wenn es denn eine Story wäre, wird in etwa mit der Tiefgründigkeit eines schnellen Stadtspaziergangs abgehandelt.
Sogar das schnelle Durchblättern eines solchen Hefts fällt unter verschwendete Lebenszeit; Monocle ist das auf Menschen, die gerne reich und schön und witzig wären abzielende Pendant zu den sonder Zahl den Zeitungsmarkt überflutenden Beilagen zur Österreich-Tageszeitung. Beides finden seinen Markt (bei Anzeigenkunden), beides hält sich erstaunlicherweise noch immer.

Man kann den Macherinnen und Machern dahinter nur gratulieren. Aber gleichzeitig steigt damit auch das nackte Grauen auf, die Angst davor, Publikationen ausschließlich auf kommerziellen Erfolg zu trimmen. Denn es ist ja nur zu deutlich absehbar, in welche Richtung der Weg geht. Das kann doch niemand gewollt haben; Geldverdienen geht doch anders einfacher …

Florent Couao Zotti, L’homme dit fou

Benin hat seine dunklen Seiten. Voodoo, die blutrünstigen Könige von Dahomey, Sklavenhandel und dann noch eine kommunistische Phase in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Diese dunkle Seite kommt in Florent Couao Zotti Erzählungen zum Tragen. “L’homme dit fou” (“Der Mann, den sie verrückt nannten”) ist eine Sammlung düster-schwermütiger Geschichte, Hexer, Irre, Arbeitslose, schwangere Teenager oder Münder sind das Personal, das in seinen Storys die Städte des südlichen Benin bevölkert.
Das ist oft mitreißend, manchmal anstrengend, sicher nicht jedermanns Sache. Zotti schreibt in einer sehr bunten, von vielen Neologismen geprägten Sprache, die es nicht leicht macht, der Story zu folgen, denn Couao Zotti trägt da durchaus dick und oft überraschend auf.
Aus eine europäischen Perspektive sind diese Erzählungen jedenfalls andere Literatur, die manchmal fasziniert, manchmal gewöhnungsbedürftig und befremdlich dramatisch ist.

Das Buch habe ich in Benin von einem fliegenden Händler am Straßenrand gekauft, der eine bunte Mischung aus Schulbüchern aus den letzten 50 Jahren, zeitgenössischer afrikanischer Literatur, literarischen Klassikern, auf dünne Stangen aufgespießte Singvögel, Coca-Nüsse und Alkohol verkauft hat. Er kannte seine Bücher und konnte zu jedem etwas sagen.

Florent Couao-Zotti wurde 1964 in Benin geboren und lebt als Journalist in Cotonou.