Kosovo 2.0

Ein Magazin für die Stimme aus dem Inneren eines unbekannten Landes.

Die zehnteilige Magazinserie Kosovo 2.0 stellt das kleine und jüngste Land Europas (das noch immer nicht von allen anerkannt ist) in den Mittelpunkt. In der Welt verstreute KosovarInnen sollen eine Quelle aus erster Hand haben, die sich mit dem Kosovo auch jenseits von Themen wie völkerrechtlicher Anerkennung, Kriegserinnerungen  beschäftigt – und die wirklich aus dem Inneren kommt, sagt Herausgeberin Besa Luci.

Ein Land, das kaum wahrgenommen wird, dessen etablierte Medien man nicht kennt, dessen Kultur man kaum kennt schafft sich eine eigene Stimme – und noch dazu eine, die kräftig in der Welt wahrgenommen wird. Kosovo 2.0 hat mit seinen zehn großformatigen Heften mit je rund 150 Seiten schon einiges an Gewicht, zusätzlich erzielt  die Onlineplattform auf drei Sprachen (Englisch, Serbisch, Albanisch) dank über 30.000 Freunden auf Facebook einiges an Reichweite.

Die Onlineplattform wird bestehen bleiben. Denn die Magazinserie ist mit der „90s“ Ausgabe zu einem Ende gekommen.

Die Neunziger waren zugleich Untergang und Geburtsstunde des Kosovo. 1992, nach den ersten Jugoslawienkriegen, war der Kosovo Teil des neu geordneten Jugoslawien, 2003, nach dem Ende der folgenden Kriegswirren, Teil der Republik Serbien. Dazwischen lag der vorerst ergebnislose Kosovokrieg von 1999, der nicht in der seit den frühen 90ern erstrebten Autonomie geendet hatte. Erst 2008 rief Kosovo die Unabhängigkeit aus, die erst von 111 der 193 UN-Mitgliedsstaaten anerkannt ist.

Die Neunziger waren eine Zeit der eiskalten Segregation im Kosovo: Gegenseitige Anschuldigungen, erfundene Übergriffe von Albanern auf die serbische Minderheit, Ressentiments aus den Kriegszeiten hatten zu apartheidsähnlichen Zuständen geführt. Unter anderem waren 20.000 LehrerInnen aufs Abstellgleis gestellt, 400.000 SchülerInnen die Weiterbildung an öffentlichen Schulen verboten worden.

Die Kosovo 2.0 90s-Ausgabe geht dieser Zeit aus der Perspektive junger JournalistInnen und WissenschafterInnen, für die dieses Jahrzehnt großteils schon Ewigkeiten her ist.

Es sind aber nicht nur historische Abrisse und Nacherzählungen ohnehin schon oft dokumentierter Ereignisse, die das Magazin einzigartig machen. Zwischendurch finden sich Fotostrecken aus dem Kosovo, die albanische Geschichte ins Bild rücken, wie man sie im Rest Europas noch nicht gesehen hat – etwa die auf eine Initiative von sieben StudentInnen zurückgehenden Massenversöhnungen tausender Kosovaren, mit denen weitreichende Blutrache-Fehden begraben wurden.

Als Buch wäre die Zusammenstellung der Inhalte kritisch, für ein laufendes Periodikum müsste viel von der Konzentration auf Schwerpunkte zugunsten von Aktualitätsbezügen aufgegeben werden. Insofern ist die abgeschlossene und klar konzipierte Magazinserie das ideale Format.

Finanziert wurde die Publikation mit Hilfe der schwedischen Menschenrechtsorganisation Civil Rights Defenders und des National Endowment for Democracy.

 

Die Print-Geschichte ist zu Ende. Ein fixes Team von zwölf Mitarbeiterinnen führt die Onlineplattform weiter und baut die Plattform auch zu einer Institution für Journalismus-Ausbildung aus. „K2.0 is reshaping Kosovo’s media landscape, while enabling our audiences to think beyond the news and search outside the box“, sagt Beta Luci.

 

Kosovo 2.0

 

Until Death Do Us Part

Das Fotobuch als Zigarettenschachtel – Basteln für die Kunst.

Yuan Di Yanyou produziert aufwendige Fotobände, für die sein Verlag Jiazazhi Press schon einiges an internationalen Auszeichnungen abgeräumt hat. In China selbst wird er weniger wahrgenommen: Denn Indie-Publishing existiert in China offiziell nicht.

Einer von Yanyous größten Coups bislang war Thomas Sauvins „Until Death do Us Part“ – Der Band sammelt Bilder von chinesischen Hochzeiten, die Sauvin auf einer Müllhalde in Peking gesammelt hat. Sie dokumentieren einen aus der Mode kommenden Brauch: Die Braut muss jedem Besucher eine Zigarette anzünden, dem Bräutigam auf möglichst spektakuläre Art und Weise. Das Buch hat Zigarettenschachtel-Format und ist in originale Shuangxi-Zigarettenschachteln verpackt. Denn die für die erste Auflage benötigten 1000 Stück waren günstiger über Social Networks zusammenzuschnorren – trotz billiger chinesischer Handarbeit.

Mittlerweile ist das Buch in der für Indies beachtlichen dritten Auflage und trotzdem kaum im Handel erhältlich. Wir haben ein paar Stück bei Indiekator im Shop.

Indie-Publishing in China

Independent Publishing ist ganz eindeutig in China nicht vorgesehen. Es ist so unvorstellbar – dass es nicht einmal verboten ist. ISB-Nummern, mit denen Bücher im Handel identifiziert und bepreist werden, werden nur an autorisierte staatliche Verlage vergeben. Für andere ist der Handel nicht offen.

Was nicht erlaubt ist, ist allerdings auch nicht direkt verboten. „Es ist eine große Grauzone“, erzählt Yanyou. „In Europa ist vieles klar geregelt, in China ist manches eine einzige große Grauzone.“ Sein Vorteil: „Den Behörden ist großteils ziemlich egal, was wir machen. Solange ein Beamter keinen Ärger mit seinen Vorgesetzten hat, interessiert sie nicht, was wir machen. Dadurch bekommen wir ein wenig Spielraum.“

Yanyou startete 2007 mit dem Onlinemagazin „Jiazazhi“, zu deutsch „Fake-Zeitung“. „Zeitung, weil ich immer Zeitung machen wollte, Fake, weil es sich nicht richtig, nicht echt angefühlt hat“, erklärt Yanyou. 2011 folgte das erste Fotobuch, seit 2012 ist Yanyou hauptberuflich Verleger, Sammler und neuerdings auch Gründer einer Fotobuch-Bibliothek.

Seine eigenen Fotobände profitieren von günstiger Handarbeit in China: Aufwendige Kleb-, Falt- und Klapp-Elemente loten produktionstechnische Grenzen und neue Wege des Erzählers mit Bildern aus. Und sie werden von kunstbeflissenen Europäern, die chinesische Billiglöhne in der Hightech- oder Textilbranche anprangern, immer wieder mit Preisen ausgezeichnet …

 

Bei Jiazazhi gibt es noch einige andere Bildbände von Thomas Sauvin; die Müllhalden-Funde werden auch noch unter dem Arbeitstitel „Beijing Silvermine Project“ ausgewertet.

 

“Until Death Do Us Part” im Shop

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The Outpost

The-Outpost-Cover
Das Magazin über Möglichkeiten

Nach fünf Jahren gönnt sich The Outpost gerade eine Pause. Die unlängst erschienene Ausgabe 07 ist die vorläufig letzte. „Es ist Zeit zu überdenken, was wir machen und wie wir es machen“, sagt Herausgeber Ibrahim Nehme.

The Outpost erscheint in Beirut und ist laut Selbstbeschreibung „a magazine of possibilities for the Arab World.“ Jedes Heft hat bisher die gleichen drei Fragen gestellt: „What’s happening?“, „What’s not happening?“ Und „What could happen?“ Das schafft viel Freiraum für facettenreiche Storys, die sich immer um einen Themenschwerpunkt drehen, und doch unterschiedlichste Zugänge bringen können.

Publiziert wird auf Englisch, fallweise werden einzelne Strecken in arabischer Sprache noch einmal beigelegt.

Abgesehen von der Aufteilung in die immer gleichen drei Fragen erfindet sich The Outpost für jede Ausgabe neu. Die aktuelle Ausgabe – „Possibilities of Finding Home“ – ist zugleich auch ein Sticker-Sammelalbum: Das Magazin enthält keine Fotos, sondern nur leere Rahmen als Platzhalter. Dafür liegt ein Bogen mit Stickern bei. Die einzelnen Sticker sind weder beschriftet noch nummeriert – es liegt an den LeserInnen, herauszufinden, welches Bild zu welcher Story passen könnte. Eindeutig ist das keineswegs.

Die Geschichten selbst erzählen von Heimatbegriffen, Formen, sich zuhause zu fühlen, und natürlich auch von Flucht. Aus europäischer Sicht schwingt dabei auch noch der Reiz des Fremden mit; einzelne Schicksale brauchen keine besondere Entwicklung, eine exotische Note schwingt immer mit. Und lenkt dann oft auch unvermittelt die Sicht auf Aspekte, die für EuropäerInnen kaum nachvollziehbar sind – etwa wenn ein syrischer Flüchtling in Europa mit einem Palästinenser, der zuletzt in Syrien gelebt hat und ebenfalls geflohen ist, über Heimat spricht.

Die meisten Storys in der „Home“-Ausgabe sind aufgezeichnete Gespräche, einige sind klassische Interviews, dazu ein paar Essays und eher poetische Texte.

Im Editorial gibt Herausgeber Ibrahim Nehme dem Heimat-Thema eine in Zeiten von Flucht und Migration auch noch einmal überraschende Wendung: Heimat ist seiner Ansicht nach erst in dritter oder vierter Linie eine kulturelle oder geografische Angelegenheit – in erster Linie ist es eine Frage des Selbstverständnisses und der eigenen Identität: Zuhause ist man, wenn man weiß, wer man ist und das auch sein kann.

 

Was nach der Publikationspause passieren wird, ist spannend: The Outpost ist seit jeher ein unkonventionelles Magazin, dessen Andersartigkeit aber nie auf Kosten von Professionalität oder Souveränität ging. Insofern hat Nehme durchaus neue Maßstäbe im Indiepublishing gesetzt und konsequent eine Linie verfolgt, die sich wenig an bestehendem orientiert hat, aber doch klar und sofort verständlich war.

Zur Finanzierung gab es auch Partnerschaften; die aktuelle Ausgabe etwa entstand mit Hilfe der Amsterdamer Prinz Claus Stiftung für Kultur und Entwicklung.

Nehme selbst war eine Zeit lang gefragter Vortragender auf diversen Medienevents, ist mittlerweile aber recht still. Ich bin jedenfalls neugierig auf die nächsten Sachen.

 

The Outpost

The-Outpost-Cover

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Weapons of Reason

Weapons-of-Reason-Cover

Waffen bringen ja oft das Problem mit sich, in den falschen Händen zu liegen. Das Schicksal der Weapons of Reason dürfte ein ähnliches sein. Allerdings ist in diesem Fall nicht das Problem, was jene, die im Besitz dieser Waffen sind, damit anrichten, sondern was jenen, die sie nicht haben, entgeht.

Das Magazin, produziert von der Londoner Kreativagentur Hüman after all, möchte Verstehen lehren. „This is a magazine to turn knowledge into action“. „You’ll find suggestions on how you can learn more and take action. What  will you do?“ – Das ist ein recht erzieherischer Ansatz, den Weapons of Reason in langen grundlagenorientieren Storys unterstreicht.

Themen in der Power-Ausgabe sind Macht und Territorien, Kunden, Daten und Märkte, Großbritannien, China oder Syrien und ihre Rolle in der Welt oder auch Populismus und soziale oder nationale Spaltungstendenzen.

Jede Story holt weit aus und versucht, ein Thema von den Grundlagen weg zu klären. Aktualität ist dabei vernachlässigbar, wichtiger sind klare, gut durchziehbare Argumentationslinien.

Ein wenig zahlt Weapons of Reason dabei auch auf Fakten-Journalismus ein – redaktionelle Arbeit orientiert sich nicht an den letzten Aussagen, Gerüchten oder Vermutungen, sondern geht eher Vorgeschichte auf den Grund und sammelt historische Tatsachen. Wertfrei ist das freilich nur, wenn man die Werte der Autoren teilt.

Das bunte Layout setzt viele Grafiken und Illustrationen ein und vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck, es würde sich um einfache, leicht verständliche Storys handeln, vielleicht auch noch einfach lesbar. Das ist nur bedingt so. Und wirft insgesamt auch die Frage auf, an wen sich Weapons of Reasons wirklich richtet: Wer bereit ist, sich mit den Inhalten und Grafiken auseinanderzusetzen, kennt großteils auch die Vorgeschichte dazu oder weiß, woher er oder sie sich diese holen kann.  – das ist das übliche Dilemma des erklärenden politischen Journalismus.

Weapons of Reason ist als Serie angelegt. Vier Hefte sind bereits erschienen, vier weitere stehen noch auf dem Plan. Themen bisher waren Ageing, Megacities, und die Arktis. Zu den nächsten Themen hält sich Weapons of Reason noch bedeckt.

 

Online gibt es einige Storys auf Medium in unterschiedlichen Publikationen nachzulesen. Ob Medium jetzt wirklich eine gute Wahl für zusammenhängende Publikationen ist, das ist allerdings eine andere Geschichte …

 

Weapons of Reason

Weapons-of-Reason-Cover

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Anxy Magazine

Ein Magazin über “die Welten in Inneren”

Anxy liegt erst unschuldig pink auf dem Tisch und wirkt wie das Lifestyle-Magazin für weibliche Zielgruppen von nebenan. Ein paar Stacheln auf dem Cover stören nicht weiter. Anxy widmet sich „inneren Zuständen“ – und damit sind ausdrücklich nicht immer Happiness, Gelassenheit und innere Ruhe gemeint.

Anxy thematisiert Ängste, psychische Zustände, die gemeinhin als „Störungen“ bezeichnet werden und Gefühle, die nicht immer angenehm sind. Für die erste Ausgabe wird deshalb nicht gespart: Das erste Thema ist Zorn. 

Anxy wurde über Kickstarter finanziert; die Crowdfunding-Kampagne brachte stolze 50.000 Dollar von noch stolzeren mehr als 800 UnterstützerInnen ein. Eine entsprechend große Vision hat Gründerin Indhira Rojas auch vor Augen: „Anxy soll eines Tages in allen TherapeutInnenpraxen aufliegen. Wir möchten Menschen die Hemmung davor nehmen, über Sorgen und Ängste zu reden. Unser Magazin redet darüber – das soll es anderen auch leichter machen.“

 

Zorn bietet jetzt eine breite Palette an Geschichten. Und nicht jede davon ist eine Leidensgeschichte. Kindheitstraumen, die die Betroffenen zornig machen, und chronisch Zornige spielen in Anxy ebenso eine Rolle wie Call Center Agents, die täglich mehrere Stunden lang dem Zorn unzufriedener Kunden ausgesetzt sind.

Noch breiter aufgefasst ist Ärger in Fotostorys, die teils ebenfalls sehr persönlich sind, teils sich auch mit Ärger etwa als Grundstimmung beschäftigen – etwa in Gefängnissen, oder, am Beispiel der Türkei: „What happens when your country is full of people who are angry with each other?“

Die erste Anxy-Ausgabe ist mal eine breit angelegte Sammlung verschiedener Zugänge und Facetten zu einem Thema; Strukturen oder Heftformen für die Zukunft lassen sich noch nicht erkennen. Eine Ausgabe #2 ist auch noch nicht konkret. Grundsätzlich sollen es zwei Hefte im Jahr werden – für heuer wird das schon ein wenig knapp.

Was Anxy jedenfalls nicht ist: Ein Lebenshilfe- oder Ratgeber-Magazin. Indira Rojas: „We aren’t telling you how to ‚fix‘ yourself. We are any. Aren’t you?“

Blattmacherisch und optisch ist Anxy auf allen Ebenen sehr klassisch. Neuartigkeit liegt im Zugang zum Thema selbst. Ob das trägt, lässt sich noch nicht sagen.

Anxy

 

 

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“Surreal Noir”: Misery City

Ich bin ja zugegebenermaßen bei Independent Comics oft etwas skeptisch. Comics sind ein Haufen Arbeit und vertragen sich schon deshalb nicht so gut mit den Indie-Gedanken (irgendwann geht einem die Luft aus, wenn die Qualität passen soll …), Comics wirken oft leicht und einfach mal so hingerotzt, brauchen aber eine gut durchdachte und wirklich ausgeklügelte Story, um zu funktionieren, und sie leben von der Verkürzung, die nur das Wesentliche übriglässt, im Hintergrund aber ein ganzes Universum hat, mit dem die Story spielen kann.

Deshalb war ich auch recht skeptisch, als ich am Rand irgendeiner Comic Con Kostas Zachopoulos’ Misery City kaufte. Eigentlich habe ich mich eher gefreut, auf einer Comic Con noch andere Comic-Produzenten zu treffen. Comics sind bei Comic Cons zwischen Merchandising, Gimmicks und Autogrammstunden von Schauspielern die für je zwei Sekunden 30 verschiedene Zombies in “The Walking Dead“ gespielt haben, mittlerweile eher Mangelware. Und Zachopoulos’ Versprechen eines neuen Genre, des „Surreal Noir“ machte mich neugierig.

Als ich zu lesen begonnen habe, habe ich eher die üblichen Probleme erwartet: Zu viel Text, zu viel Worte, die versuchen, Stimmungen zu beschreiben, die aber nur ohne Worte funktionieren, und den Versuch, Probleme in der Story mit Menge statt mit Reduktion zu lösen.

Das war allerdings nur auf den ersten Seiten so. Dann hat Misery City sein Arsenal an Hintergründen, Charakteren und Settings etabliert und erzählt tatsächlich wirklich coole Detektiv-Noir-Storys. Wir trotzdem nicht jedermanns Geschmack sein,  aber wer Sinn für Raymond Chandler oder James Ellroy hat, sich aber nicht immer wieder die alten Schinken reinziehen will, findet ihr ein passendes Update.

Außerdem hat Kostas eine der schönsten Widmungen in das Buch gekritzelt: „Have the most miserable of all times while reading this book“ …

Kostas Zachopoulos (Autor), Vassilis Gogzilas (Illustrator): Misery City
 

 

Lost Magazine

„Lost” ist schon im vierten Jahr – für eine Indie-Publikation, die alle Klischees ihres Fachs vermeidet, ist das beachtlich. Lost ist ein Reisemagazin. Sollte finanzierbar sein, könnte man meinen. Sähe nicht Herausgeber und Art Director Nelson Ng Reisen vor allem als Möglichkeit, sich in irgendwelchen Ecken der Welt möglichst fremd und unwohl zu fühlen, um so aus dieser Situation zu lernen. – Damit ist kein Platz für Bar- oder Hoteltipps, es geht auch nicht um Schönheiten und Sehenswürdigkeiten, also eigentlich um nichts, was man gemeinhin mit Reisen verbindet.

Dementsprechend spröde sind auch manche Geschichten: Businessaufenthalte in Tokio, Unterhaltungen mit afrikanischen Migranten auf dem Jakobsweg in Spanien, Hühnerschlachten im winterlichen Kaschmir sind Themen, die einiges an schreiberischer Kunst erfordern. Für meinen Geschmack ist die auch nicht immer da. Der Persönlichkeitsfaktor macht Geschichten nicht immer spannender, wenn er nur persönlich ist – und sonst nichts.

Die Story über den “Beijing Tea House Scam“ (Touristen werden von freundlichen Chinesen rund um die Verbotene Stadt zum Teetrinken eingeladen – und böse abgezockt) ist dagegen schon reines Entertainment.

Fotos und Layout machen allerdings einiges wett – mit rauem Papier und Fadenheftung mit offenem Rücken fühlt sich „Lost“ eher wie ein Kunstband an.

 

Nelson Ng produziert „Lost” in Singapur auf Englisch und Chinesisch. Seinen Job in der Werbung hat er mittlerweile aufgegeben, „Lost“ trägt sich allerdings noch lange nicht selbst. Das Magazin ist werbefrei, rund um die Marke „Lost“ produziert Ng aber Branded Content und veranstaltet Branded Events.

Die Onlineausgabe ist neu und soll dem Magazin keine Konkurrenz machen (bei 30 Euro Verkaufspreis zählt jedes Exemplar …). Nachdem „Lost“ aber nur einmal jährlich erscheint, war mit der Zeit etwas mehr Präsenz und Frequenz notwendig, um in der Erinnerung der LeserInnen zu blieben. lostmagazine.org probiert es jetzt mit sparsamen eigenständigen Inhalten; wo die Onlinereise hingehen soll, hält sich Ng noch offen.

 

Die aktuelle Ausgabe Lost #4 gibt es im Indiekator-Shop

 

Lost

 

 

EU-House of Cards: Robert Menasse, “Die Hauptstadt”

 

Es gibt einen Mord, ein paar Bürokratenintrigen und -dramen, aufwendig miteinander verwobene Nebenstorys und eine mysteriöse Schweineerscheinung, sie sich durch das ganze Buch zieht.

Ich habe noch nie ein Buch von Robert Menasse so gern und schnell gelesen. Menasse schafft es, das Brüsseler Bürokratengewirr als spektakulär spannende Kulisse hinzustellen, die große Ereignisse erwarten lässt. Die kommen dann zwar nicht unbedingt (also, ein wenig schon – aber das wäre spoilerverdächtig. Und wer hätte gedacht, dass ein Buch von Robert Menasse jemals spoilerbare Storyelemente enthalten könnte …), aber die Idee, die Brüsseler Bürokratie zugleich als menschenfeindliches Labyrinth und als Schauplatz für Schicksale zu inszenieren, ist schön und sehr kunstvoll gemacht.

Nach den ersten Seiten wirkt „Die Hauptstadt“ wie ein Thriller, in dem sich bald Ereignisse überschlagen werden. Dann aber schlägt doch die Bürokratie zu. Brüsseler Beamten stehen vor der Herausforderung, irgendeinen Anlass zu finden, das Image der EU aufzupolieren. Sie erfinden Events, entwickeln Konzepte, kämpfen sich durch einfallslose Kritik. Parallel dazu entwickelt ein Think Tank Zukunftsperspektiven; die Rolle des zerstörerisch-konstruktiven Visionärs fällt dabei der Figur eines emeritierten österreichischen Volkswirtschaftsprofessors zu. Diese Passagen bieten dann auch viel Platz für politisch-historisch-bürokratische EU-Kritik und -Analyse.

Hier hat jemand ein Buch geschrieben, das es so eigentlich nicht geben sollte: Es enthält belehrende Passagen, konstruiert eine Welt, die nur durch bürokratische Formalitäten zusammengehalten wird und beschränkt sich künstlich auf deren Grenzen, spannt einen sehr großen Bogen, dessen einzelne Elemente Überhaut nichts miteinander zu tun haben und ebenso als haarsträubende Willkür gelten könnten – aber es funktioniert.

„Die Hauptstadt“ ist ein durchweg rundes Buch, das zu lesen durchweg lohnend ist. Das Verdienst des Buches – über die Tatsache hinaus, ein guter Roman zu sein – ist es auch, „der EU“ als abstrakte, angreifbare und nicht unbedingt spannende Organisation ein Denkmal zu setzen. Eines mit dem man sich gern beschäftigt. Klingt banal, ist aber angesichts der quälenden Konstruiertheit und Ungeschicklichkeit so zahlloser EU-Werbekampagnen, -Förderprogramme, -Informationsoffensiven und -Vernetzungsversuche (vor allem in Kulturangelegenheit) ein sehr großes Verdienst.