Owned Media & Content Marketing in der Politik: Das neue Match zwischen FPÖ und SPÖ

OwnedMedia+Politik
Der Wochenblick blattlt den Kanzler beim Pizzaliefern auf, Politiknews malt eine Kurz-Mateschitz-Griss-Partei an die Wand – statt Wahlkampf gibt es jetzt eben harte Bandagen in Politmedien. 
 
Der Trend zur eigenen Meinung, die man nicht nur haben, sondern auch möglichst ungefiltert in Owned Media verbreiten will, ist heute in der Politik gut verankert.
Fast alle Parteien setzen auf selbst aufbereitete Inhalte in unterschiedlicher Form und auf unterschiedlichen Kanälen, allen voran Rot und Blau.
Was bringt das eigentlich?
 

Owned Media der Parteien schlagen Parteiseiten um Längen

Ich habe die Webseiten der Parteien in Österreich und diverse redaktionelle Ableger in Hinblick auf ein paar einfache Kriterien durch einige Analysetools laufen lassen.
Auf der ersten Blick ist klar: Content zahlt sich aus, wenn man die Reichweite im Blick hat. Falsche oder halbtransparente Behauptungen über die eigenen Medien können aber auch nach hinten losgehen – es sei denn, das eigene Publikum ist schon so abgerichtet, dass es ohnehin schon überall Verschwörungstheorien wittert.
 

FPÖ: Reichweite mit der eigenen Wahrheit

Am verhaltensauffälligsten ist sicherlich die Kommunikation der FPÖ. Die FPÖ ist offenbar auch so eingenommen von ihrem eigenen Medienimperium, dass sie sich auf Facebook mittlerweile als Nachrichten-/Medienwebseite klassifiziert, nicht als Politische Partei. Die geteilten Links stammen auch fast ausschließlich von den nennen wir’s mal befreundeten Medien unzensuriert.at und wochenblick.at. Wurden früher noch Krone- und ähnliche Artikel verbreitet, so sind diese mittlerweile vollständig verschwunden. Stattdessen werden Unzensuriert und Wochenblick als eigenständige Medien behandelt, die keinerlei Naheverhältnis zur Partei hätten.
 
 
Die Satellitenmedien sind wohl auch dringend notwendig, um Reichweite zu erzeugen. Denn die FPÖ-Webseite selbst ist nicht sonderlich gut besucht.
Fpoe.at liegt österreichweit im Trafficrank auf Platz 9.812. User halten sich durchschnittlich eine Minute auf der Webseite auf. Die meisten Zugriffe erfolgen direkt (43%), etwa 30% finden über Suchmaschinen zu Seite, 12 % über Social Media.
Unzensiert.at dagegen liegt auf Platz 566. Zum Vergleich: derstandard.at liegt auf Platz 11, nachrichten.at auf Platz 139 und Billard.at auf Platz 339. User bleiben knapp zwei Minuten auf der Webseite, zu 40 % rufen sie die Seite direkt auf, je ein Viertel kommt über Suchmaschinen und Social Media.
User aus Österreich und Deutschland halten sich in etwa die Waage; zusätzlich gibt es noch die Domain unzensuriert.de.
Aufschlussreich sind auch die eingehenden und ausgehenden Links – hier bewegt sich unzensuriert ganz im Dunstkreis von Hartgeld.com, pi-news.net und dem Kopp-Verlag. Gut die Hälfte der ausgehenden Klicks führt zu YouTube und damit wohl (das ist allerdings nur eine Vermutung) zu FPÖ TV.
Der Wochenblick ist ebenfalls eine in FPÖ-Communities gern geteilte Quelle.
Die relativ neue Seite liegt im Trafficranking auf Platz 1.500. User kommen zu mehr als 50% über Facebook; über Suchmaschinen finden derzeit noch weniger als 10% zum Wochenblick. Bei der Verteilung über Facebook unterstützen FPÖ-Seiten ebenfalls kräftig.
 
 
Offiziell gibt es keinerlei finanzielle Verflechtungen zwischen Unzensuriert, Wochenblick und FPÖ.
Technisch betrachtet teilen sich unzensuriert.at und die Webseiten des ehemaligen 3. Nationalratspräsidenten Martin Graf und des aktiven Nationalratsabgeordneten Gerhard Deimek (beide FPÖ) eine IP-Adresse; beide Politiker-Seiten verlinken auch direkt auf Unzensuriert.
Ein Blick in das Firmenbuch zeigt ein recht weit verzweigtes Netz von Beteiligungen an Verlagen und Onlineplattformen, die letztlich in einer Beteiligung GmbH münden.
 
Beim Wochenblick, der auch auf Papier erscheint, schweigt man grundsätzlich zu Geldquellen. Geschäftsführer Norbert Geroldinger scheint im Firmenbuch noch als Geschäftsführer einer Werbeagentur und einer Künstlervermittlung, die früher ein Sexshop war, auf – wird aber wohl auch nicht reichen, um eine Wochenzeitung zu finanzieren.

SPÖ: Aufholjagd mit unterschiedlichem Geschick

Die SPÖ setzt ebenfalls verstärkt auf eigene Contents, mit wechselndem Geschick.
Die Webseite enthält vergleichsweise mehr Content als andere Parteiseiten und in Österreich auf Platz 2.357.
Fast 60% der Aufrufe kommen über Suchmaschinen – das spricht für gut gemachten Content. 20% rufen die Seite direkt auf, knapp 8% kommen über Social Media.
Unter der gleichen IP-Adresse ist auch noch die Domain laurarudas.at geparkt (die derzeit auf den Wikipedia-Eintrag weiterleitet).
An eigenen Onlinemagazinen wird derzeit nur kontrast-blog.at beworben.
Die Reichweite ist etwa die gleiche wie von spoe.at (3.378 in Österreich), zuletzt allerdings stark steigend. Über 60% der Zugriffe kommen über die Suche.
Kontrast-blog.at wird ausgewiesenermaßen von zehn SPÖ-MitarbeiterInnen und FunktionärInnen betrieben und auch gern innerhalb von SPÖ-Communitys geteilt.
 
 
politiknews.at ist seit kurzem online (Platz 12.142) ist und präsentiert sich als unabhängiges von einer Agentur betriebenes Medium. Dagegen spricht jetzt nicht nur, dass politiknews.at-Beiträge sehr SPÖ-lastig sind. Die Domain teilt sich überdies eine IP-Adresse mit zahlreichen weiteren SPÖ-Domains wie iamred.at, jusos.st, werner-faymann.at, jan-krainer.at oder spoe.wien.
 
politiknews-domains
 
Und Robert Neiger, Geschäftsführer der Chapter2 Medien GmbH, die politiknews.at produziert, dürfte in SPÖ-Kreisen kein ganz unbeschriebenes Blatt sein: am 14. März 2017 wurde Geigers Vorgängerfirma, die Magazinwerkstatt Medienproduktion GmbH mit der Chapter2 Medien GmbH verschmolzen. Die Magazinwerkstatt Medienproduktion GmBH produzierte unter anderem die Magazine „Unser Wien – Unsere Stadt“, die online (wienunserestadt.at) und mit Printausgaben für Leopoldstadt und Floridsdorf erschienen. Von 5. Juni 2013 bis 1. Dezember 2015 war Gerhard Kubik an der GmbH beteiligt. Gerhard Kubik war 1999 bis 2013 SPÖ Bezirksvorsteher in der Leopoldstadt  (seit 2013 ist er wieder SPÖ Gemeinderat, seit 2017 wieder SPÖ Bezirksvorsitzender in der Leopoldstadt). (Anmerkung: die „Der Zweite“-Ausgaben für die Leopoldstadt wurden offenbar erst 2016, also nach dem Ausscheiden Kubiks als Gesellschafter aus dem Verlag, produziert.)
 
 
Über die Herkunft der Zugriffe gibt es in den gängigen Analysetools noch keine aussagekräftigen Daten. In SPÖ-Communitys ist man anscheinend unschlüssig – spätestens seit die Hintergründe der Seite zur Debatte stehen, teilt man offenbar nicht mehr so gerne.
 
 
 

Und die anderen?

ÖVP

Die ÖVP ist in Hinblick auf ihr Medienuniversum offenbar unschlüssig. Zahlreiche kampagnenartige Seite verschwinden gleich wieder oder heben nie ab, ein Klub-TV des Parlamentsklubs auf YouTube ist in den letzten Wochen ebenfalls wieder verstummt, dafür gibt es auf Facebook jetzt den ÖVP Talk.
Das Domainarsenal auf der oevp.at IP-Adresse hat auch eher historischen Wert: Dort liegen z.B. noch alois-mock.at und andreaskhol.at.
Oevp.at erreicht im Alexa-Ranking Platz Platz 21.063 in Österreich, drei Viertel der Zugriffe kommen dabei über Suchmaschinen, unter 1% über Social Media.
 

Grüne

Gruene.at hat viel Content, auch wenn der auf den ersten Blick nicht gleich sichtbar ist.  In Suchmaschinen macht sich das bezahlt, 30% der Zugriffe kommen von Suchmaschinen. In Social Media sind grüne Inhalte nicht so populär: Nur 10% der Zugriffe kommen aus geteilten Links.
Im Trafficranking ergibt das Platz 3.180.
Die meisten unter der gleichen IP-Adresse angelegten Domains linken auf Inhalte von gruene.at oder Subdomains. Online tut sich wenig – dafür sind gerade in Wien die grünen Bezirksorganisationen mit Postwurfsendungen und Mini-Magazinen sehr aktiv.
 

NEOS

 Neos.eu ist ist die einzige Parteien-Domain, die eine IP-Adresse für sich allein hat. Zahlreiche weitere, offenbar für Kamagnenzwecke eingesetzten Domains, wurde von anderen Einheiten reserviert und haben kaum längerfristigen Content.
Im Ranking liegt neos.eu auf Platz 4.556.
Nur 16% der Zugriffe erfolgen über Suchmaschinen, nur 13% kommen aus Social Media. Auffällig ist: 10% der Zugriffe kommen aus Mailclients, also vermutlich über Klicks in Newslettern – das ist der einzig nennenswerte Wert; andere Parteien bewegen sich hier im 1%-Bereich.
 

Team Stronach

Team Strohdach haben wir nicht eigens analysiert. Der Vollständigkeit halber aber sei erwähnt: Die Parteizeitung „transparenz“ ist auch 2016 noch in vier Ausgaben erschienen, und die Team Stronach Akademie betreibt den Frank und Frei-Verlag, in dem Kaliber wie Andreas Unterberger, Martin Lichtmesz (Identitäre) oder Werner Reichel publizieren.

Die Fake News-Finder

FakeNewsFinder
Die Verbreitung von Fake News und Zusammenhänge zwischen Informationsnetzwerken lassen sich schön nachzeichnen. Die Recherche bleibt aber mühsame Handarbeit.
 
Facebook gibt seinen Usern jetzt – in einer ersten Phase in 14 Ländern – Tipps, woran Falschmeldungen zu erkennen sind. Etablierte Medienunternehmen und neue Medienprojekte beschäftigen sich mit der Frage, wie bei zunehmenden Datenmengen Informationen überprüft, zurückverfolgt und zugeordnet werden können. ForscherInnen erstellen Handbücher, die JournalistInnen das Prüfen und Visualisieren von Informationsquellen erleichtern sollen, um über deren Qualität entscheiden zu können.
Sind das sinnvolle Strategien gegen die Verbreitung von Fake News und Informationsmüll?
 
Die Visualisierungen im „Field Guide to Fake News“ (veröffentlicht im April 2017) sind klar: Falschinformationen verbreiten sich in ähnlichen Netzwerken, sie tauchen oft nach monatelangen Pausen wieder auf, und bekannte Fake News-Seiten benutzen sogar statistisch relevant oft andere Tracker (zur Sammlung von Userdaten und zur Auslieferung von Werbung) als echte News-Seiten.
All diese Informationen können mit großteils frei verfügbaren Tools abgefragt werden. Die Zusammenfassung in aussagekräftigen Berichten ist allerdings einiges an Arbeit und (noch) nicht wirklich endusergerecht.
 

Fake News-Tools

Trotzdem eine kleine Übersicht über ein paar Tools, die von jedermann verwendet werden können. Im Wesentlichen sind es Tools, die sonst auch zur Erfolgskontrolle im Onlinemarketing verwendet werden. Bei der Auseinandersetzung it Fakenews oder fragwürdigen Quellen helfen sie, ein Gefühl dafür zu bekommen, in welcher Blase man sich gerade bewegt.

Crowd Tangle

Crowd Tangle analysiert die Verbreitung einzelner Urls in sozialen Netzwerken. Im Gegensatz zu reinen Zähltools wie sharedcount.com liefert Crowd Tangle nicht nur die Interaktionszahlen, das Tool misst auch, in welchen größeren Facebook-Gruppen und Twitter-Accounts ein Link wann verbreitet wurde. Damit bekommt man erste Hinweise darauf, welche Netzwerke welche Informationen unterstützen, wann sie etwas aufgreifen, und – über die zeitliche Reihenfolge – wer von wem Informationen übernimmt. Zur Visualisierung der Daten (sind als csv downloadbar) wird Raw Graphs empfohlen.
Die Vollversion von Crowd Tangle (mittlerweile auch von Facebook übernommen) ist leider nicht frei zugänglich und soll in erster Linie Publishern vorbehalten werden. Wie das ausgelegt wird, bleibt abzuwarten. Für jedermann offen ist aber die Crowd Tangle Chrome Extension, mit der zumindest einzelne Seiten direkt aus dem Browser überprüft werden können.
 
Fake News CrowdTangle
 

Tool Tracker

Erste Hinweise zu kommerziellen Interessen und Zusammenhängen zwischen fragwürdigen Newsseiten bietet der DMI-Tooltracker. Diese Abfrage liefert Informationen darüber, welche Tracker zur Datensammlung oder zur Auslieferung von Werbung oder weiterführendem Content in der jeweiligen Seite zur Anwendung kommen. Diese wesentlichen Tracker sind zwar überall ähnlich; einige Tracker, so die Autoren des Field Guide, sind aber klare Hinweise für eigene fragwürdige Contentnetzwerke.
Für die tagesaktuelle Recherche ist das wohl weniger praktisch, spannend ist aber die Langzeitanalyse, die zeigt, wie schnell die Zahl solcher Tracker wächst.
Wer Seiten nicht systematisch analysieren will, aber trotzdem einen schnellen Überblick will, bekommt die gleichen Informationen mit dem Ghostery-Browserplugin.

Spyonweb

Spyonweb ist eine Abfrage, mit der sich Zusammenhänge zwischen Webseiten herausfinden lassen. Die Abfrage kann mit Domains, IP-Adressen oder auch mit Tracker-IDs (z.B. einer Google Analytics ID) gestartet werden. Das Ergebnis sind dann die jeweils fehlenden Daten – und die Analyse, welche Seiten zusammenhängen: Wo wird die gleiche Google Analytics ID verwendet, welche Domains verwenden sie gleiche IP-Adresse.
Ab Beispiel der abgefragten fpoe.at erkennt man beispielsweise: Die Seite und diverse Sprache-Seiten werden gemeinsam gezählt, und auf der gleichen IP-Adresse laufen 30 weitere Domains, von denen manche (z.B. mieterschutz.at) nicht eindeutig als FPÖ-Seiten ausgewiesen sind.
Fake News spyonweb
 
Die angeblich unabhängige Domain politiknews.at teilt sich eine IP-Adresse mit 84 weiteren SPÖ-Domains.
 
Fake News spyonweb2
 

Facebook Fake News-Tipps

Der Haken dabei: Die Hinweise zur Identifikation von Fake News sind um einiges länger als die Artikel, die üblicherweise gelesen werden. Aber immerhin sind sie in Listenform geschrieben.
Mit den Tipps geht auch eine Funktion einher, mit der einzelne als Fake empfundene Berichte gekennzeichnet werden können.
 
Das – in Verbindung mit der manchmal ungeschickten Sperrpolitik von Facebook bei gemeldeten Personen oder Postings – zeigt, wie sehr der Stellenwert von Netzwerken wie Facebook zunehmen wird.
 
Das gilt auch für die Fake News-Recherche-Tipps im Field Guide: Alle Recherchen nehmen ihren Ausgang bei Google. Google-Ergebnisse sind die erste Autorität wenn es um Datierung und Zuordnung von Inhalten geht und damit um das Nachzeichnen von Abhängigkeiten.
Was Google in dieser Welt nicht kennt, falsch indiziert oder datiert, existiert nicht – und kann auch nicht entlarvt werden.
 
Die schlechte Seite dabei ist: Der Ursprung von Information ist selten online. Dieser letzte Schritt kann auch mit den bisherigen Mitteln nicht nachvollzogen werden*.
Die gute Seite: Es werden nicht alle Social Media- und Google-User zu Faktenprüfern werden oder die Tools beherrschen lernen. Aber vielleicht gelingt es ja, einen Eindruck von Aufwand hinter der Faktenprüfung und der Bildung von Zusammenhängen zu vermitteln. Und das wären ja wieder Argumente, mit denen man für Journalismus Geld verlangen kann …
 
 
***
 
PS: Falls sich jemand fragt, warum sich hier so viele FPÖ-Beispiele in den Abfragen finden – die Facebook-Seite der FPÖ bezeichnet sich jetzt als Nachrichten-/Medienwebseite, nicht mehr als politische Partei. Dort werden auch praktisch nur noch eigene Publikationen geteilt, die vor wenigen Monaten noch vorhandenen Restbestände an Krone.at-Links scheinen zu verschwinden.
 
Medienwebseite
 
 
 
* PPS: Hinweis in eigener Sache: Ich habe einmal eine etwas nerdige Geschichte geschrieben, in der es um genau solche Informationstracker geht. Damals (2009) war das noch eine (wenn auch nicht ganz aus der Luft gegriffene) Vision. Und der letzte Schritt (der in der Geschichte schon umgesetzt ist), das Anzapfen von Information in Mails, Messengern und Unternehmensnetzwerken, ist noch nicht gemacht. Aber warten wirs mal ab.

Faktencheck für Fortgeschrittene

Welche Art Fakten braucht man, um ernsthaft über Politik reden zu können? 
Wirklichkeit und Wahrheit halte ich ja nicht gerade für aussagekräftige journalistische Kategorien.
Einerseits ist da die Sache mit der Objektivität. Lernt man schon von klein auf und ist halt immer schwierig: Objektiv gibts eben nicht wirklich, auch ausgewogen und pluralistisch ist nur dann wirklich möglich, wenn man sich auch Fragen der Unendlichkeit stellt – wie viele Sichtweisen sind schließlich schon genug?
Andererseits ist da die Frage der Relevanz: Viele Fakten sind – korrekt und meinungsfrei für sich genommen, auch wenn sie großartig aufbereitet sind – eben bloß stille und ruhige Fakten, die erst dann eine Art von Wirkung entfalten, wenn sie mit Macht und Meinung kombiniert werden. Es gibt mehr Fakten als Macht, deshalb fällt es unterschiedlichen Machtinteressen auch recht leicht, die jeweils passenden Fakten zu finden.
Ganz gemein ist auch die Logik: Abhängig von Präzisions- und Verallgemeinerungsgrad können manche Dinge einfach nicht falsch ein. Richtig sein können sie dagegen sehr wohl – wobei die Betonung auf „können“ liegt. Das ist die Art von Behauptungen, über die es sich nicht zu streiten lohnt.
Besonders schwierig wird das dann, wenn man außerhalb der eigenen Bibelrunde argumentieren möchte. Ich hab mir da mal ein paar Beispiele rausgesucht. Alles sind öffentlich gepostete Beiträge zu aktuellen politischen Diskussionen. Veröffentlicht wurde entweder in großen Tageszeitungen oder auf deren Userseiten – von Menschen, die offensichtlich der Meinung sind, dass sie sich informieren und Dinge verstehen.
Aber was brauchen wir, um sie zu verstehen?

Typ Hausverstand

Fakt1
Der Mann weiß es einfach. Und er hat ja auch recht: Bier und Tschick, die Insignien des Fußballfans, sind besonders hoch besteuert. Nachdem anzunehmen ist (Evidenz!), dass deren Konsum während besagter Events steigt, steigt damit auch das Steueraufkommen. Was einer Steuererhöhung, naja Dings, halt schon sehr ähnlich ist.
Und wer noch mit dem Auto zu Stadion fährt, ist sowieso die Melkkuh der Nation.

Typ geheimes Wissen

Fakt3
Historische Herleitung, bestechend zusammenhanglose Argumentation, geschickte Abkenkmanöver für Gesprächspartner mit historischer Restbildung (Cäsar, der krasse Christ!), dokumentierbare Evidenz – und außerdem ist alles ganz einfach.

Typ äh …?!

 Fakt2
Ok. Das ist nicht ganz einfach. Wenn man auch hier davon ausgehen möchte, dass diese Person nicht ausschließlich über das vegetative Nervensystem kommuniziert, wäre das etwas in der Logik von „Wenn du sie nicht überzeugen kannst, verwirr sie“. Und damit wahrscheinlich auch eine Anspielung auf elitäres Wissen einer intellektuellen zumindest Mittelklasse, die diesen Spruch Harry Truman zuordnen kann (nein, das ist nicht der aus der Truman-Show). Ich persönlich habe ihn ja mal bei Garfield gelesen. „So ist es“, um die Original-Meinungsmutige nochmal abschließend zu zitieren. Oder?

Es ist aber also gar nicht so einfach mit der Wahrheit.
Dazu kommt: Wo es um offizielle und kanonisierbare Wahrheiten geht, ist die Wahrheit immer die eines anderen. Wahrheit ist, was man draus gemacht hat.
Das gilt auf mindestens zwei Ebenen:
Die erste beruht auf Macht oder Konsens: Man hat sich darauf geeinigt, dass etwas so sein soll. Beispiele dafür sind Mathematik oder Recht. Mathematik ist zwar abstrakter, aber noch direkter mit ihrem Gegenstand verknüpft (ohne Mathematik gäbe es schließlich auch kaum Zahlen). Recht klingt zwar greifbarer, wäre aber ohne Macht noch sinnloser. Denn der praktische Wahrheitscharakter dessen, was als Recht festgeschrieben ist, ergibt sich aus der Durchsetzbarkeit.
Die zweite Ebene hat mit Beschreibung und Dokumentation zu tun: Enthüllt wird über Akten, Datenbanken und Protokolle. Dort steht das drin, was wer anderer hineingetan oder -geschrieben hat. Die enthüllte Wahrheit ist also grundsätzlich einmal die Erfindung eines anderen.
Natürlich wird es ab hier dann erst richtig spannend. Die schönsten Fakten ergeben sich dort, wo dokumentierte Daten den offiziellen Daten und im Idealfall auch noch den normativen Daten widersprechen. Im Klartext: Jemand macht nachweislich etwas anderes als er oder sie sagt und sollte das auch nicht tun. Und es gibt jemanden der diesen Zustand auch dokumentieren und sanktionieren möchte. – Und das auch kann (damit wir die Machtdimension nicht vergessen).
Große, ruhige Reportagen, für die jemand von seinem Sessel aufgestanden ist und über das Internet (oder die Bibliotheken und andere Archive) hinausgeblickt hat, sind für mich die journalistische Kategorie, die noch am ehesten mit Wahrheit zu tun hat. – Wenn es genug davon zu ähnlichen Themen von verschiedenen Seiten gibt. Dann hat man nämlich auch den Rahmen, in dem man mit Fakten etwas anfangen kann.

Diogenes übersiedelt also in die Red Bull Dose.

Das nur gerüchtehalber bekannte „Medienprojekt“ verspricht „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“. Das ist nur die logische Fortsetzung von Gratishandys und Rubbellosen.
… und diese Spekulationen sind mittlerweile so absurd geworden, dass ich diesen Post zur Überarbeitung offline genommen habe, weil es hier eigentlich um was anderes ging.

Blogger x Influencer – vom Nerd zum Fashionvictim in 3, 2, 1 …

Influencer-Logik: Was du sagst, ist egal. Wichtig ist, wem du es sagst. 
Das ist schon lustig.
Es ist keine 10 Jahre her, da haben wir über Blogs noch als Indie-Medien diskutiert. Autorinnen und Autoren hatten Themen im Kopf, konkrete Vorstellungen, wie sie diese aufarbeiten wollten. Konzepte und Medienstrategien im Kleinen waren nicht immer ausgefeilt, aber oft hochgestochen.
Beim World Blogging Forum 2007 etwa war man sich noch ziemlich einig: Die besten Seiten eines Blogs sind Unabhängigkeit, Experimentierfreude, erdhaftes Spezialistentum und die Freude daran, Position zu beziehen.
Ein paar arbeitslose FH-Studenten und Ex-Journalisten später hat sich das Bild ziemlich geändert: Die Lifestyle-Keule hat sehr viele andere Ideen plattgemacht; auf Blogger-und Content-Events (von denen es jetzt viele gibt) geht es offenbar vorrangig um Monetarisierung oder „Partnerschaften” und BloggerIn ist ein ähnlich valides Ziel geworden wie Start-Up UnternehmerIn.
Content1
Ich halte das aus zwei Gründen für ein wenig tragisch: 

Erstens:

Es wiederholt sich damit im Kleinen, was sich auch in der großen Welt der Oldschool-Medien abgespielt hat. Vergesst Anspruch, Arbeit und Recherche, es geht um Reichweite, eine SEO-optimierte Mindestwortanzahl und soziales Wutpotenzial, das wahlweise auch durch Feelgood-Potenzial für jene ersetzt werden kann, die ihrem/r YogalehrerIn schon immer mal an die Batikhose wollten.
Die Themen haben sich von Wissen (sei es technischer, andersartig fachlicher, persönlicher oder eben erdhafter Natur) zu Stylefragen verwandelt (sei es Fashion, Food oder Inneneinrichtung). Aus Überlegungen zur Selbstpositionierung und Verwertbarkeit der über Blogs erzielten Aufmerksamkeit auf Umwegen sind Duckface-Fotos und Badezimmer-Selfies geworden. – Man probiert eben alles mögliche.
Eine weitere Parallele sehe ich in der sich breit machenden Fahrlässigkeit: Bei Blogs äußert sie sich im galoppierenden Verzicht auf Inhalte – sei es in Qualitätsfragen (wenn schöne Bilder und ein gut shareable Leadtext schon ihren Zweck erfüllen), im Verzicht auf Quellen (erst kam die Zitateflut, dann die Flut der als bunte Bilder gesetzten Zitate, und heute werden sie kaum noch als Zitate ausgewiesen. Wobei man sie ja eh leicht erkennt: Ein Satz ohne Sinnfehler ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein per Copy & Paste recyceltes Zitat. Tragischerweise gilt das auch andersrum: Per Copy & Paste verbreitete Tipp- und Sinnfehler sind verlässlicher als jedes High Tech Digital Rights Management.)
Die „Großen“ haben auf der einen Seite ihre Agenturmeldungen zum Copy & Pasten, auf der anderen Seite entspricht diese Fahrlässigkeit im Umgang mit Inhalten der Unsitte, die schockierendsten Bluttaten jenseits aller Vorstellungskraft in den schillerndsten Farben anzukündigen, die dann allerdings, falls jemand so weit liest, erstens nicht so, zweitens irgendwo in Zentralchina und drittens auch dort nur gerüchtehalber stattgefunden haben.
Das ist nicht verwerflich. Vielleicht ist es sogar weniger langweilig als Texte von Menschen, die denken oder etwas vermitteln wollen. Es führt aber direkt zum zweiten Problem.

Zweitens:

Das Businessmodell „Influencer“ spielt mit Phantasien, die für die wenigsten aufgehen. Reichweiten, die sich auch unabhängig von konkreten Kundenaufträgen monetisieren lassen, sind selten; Reichweite hilft auch dann am ehesten, wenn es ein Produkt dahinter gibt, dass sich zusätzlich zu Geld machen lässt. Influencer Marketing ist ein Groschengeschäft, das man durchaus ausprobieren kann, wenn man gerade nichts besseres zu tun hat. Die Vorstellung, hier ein valides Geschäftsmodell zu sehen, drückt halt massiv auf die Preise. Auch das soll allen, die es probieren möchten, unbenommen bleiben.
Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich mittlerweile auch die Prioritäten im ehemals kommerziellen Medienbusiness verschieben: Man macht Reichweite, weil sich das eben so gehört. Man weiß zwar nicht, was man damit anfangen soll (außer anderen den Platz wegzunehmen), aber man kann sich immerhin in Rankings brüsten. Und weil Reichweite eben schwieriger mit klassischer redaktioneller Arbeit zu erreichen ist, setzt man eben, siehe oben, auf Duckfaces und Katzen.
Das wiederum ist nicht besonders schwierig zu produzieren und wird dementsprechend honoriert. Und das färbt auf Bereiche ab, in denen nun tatsächlich Arbeit anfallen würde – sei es Recherche, sei es die konsistente Vermittlung von Themen oder sei es Denk- und Konzeptarbeit, die einmal geleistet werden müsste, damit ein Thema über mit Zielen verbunden werden kann und vermittelbar wird.
Die Idee von der Monetarisierbarkeit jedweden Kanals hat die finanzielle Latte sehr tief gelegt. Wenn ein paar Euro pro Artikel als Honorar empfunden werden, macht das klar, wie die Arbeit eingeschätzt wird: Schreiben ist die lästige Tipparbeit, die halt auch erledigt werden muss, damit a) Google zufrieden ist und b) das Shareable wenigstens aussieht als hätte es Inhalt dahinter.
Das eigentliche Problem: Erstens gibt es Menschen, die derartige redaktionelle Arbeit tatsächlich als (inhaltlich und finanziell) angemessen empfinden. Zweitens gibt es Menschen (und die Überschneidung mit den unter Punkt 1 angeführten mag groß sein), die gar nichts anderes kennen. Sie sind in einer Medienblase aufgewachsen, in der Mentions, Duckfaces und die richtigen Follower das Surrogat von Relevanz sind, in einer Blase, in der wichtiger ist, wem man etwas sagt, als was man eigentlich sagt. Und drittens kommen diese Menschen altersbedingt jetzt auch in Positionen, in denen sie etwas planen und entscheiden könnten.
Das äußert sich zunehmend darin, dass auch Kommunikatoren mehr und mehr auf Inhalte verzichten. Um Missverständnissen vorzubeugen: Man braucht keine Textwüsten und schon gar keine hochdotierten Edelfedern, um Inhalte zu transportieren. Man kann das auch mit Bildern oder Hashtags machen. Man kann aber nicht übergangslos von der SEO-Strategie (ok, ernst gemeint würde ja auch die schon inhaltliche Überlegungen voraussetzen) zur Produktion schreiten und auch nur die Tipparbeit oder das Kamera-Halten als Aufwände sehen. Da fehlt ein Schritt: So banal es klingt – man bräuchte einen Plan, was man eigentlich sagen will, warum man das will und was damit erreicht werden soll. – Sonst bleibt halt Reichweite das einzige Ziel. Und die kann man zwar verkaufen, aber man kann sich nichts darum kaufen. Und nachdem auf diese Weise jeder Reichweite generieren kann, ist das eine – wenn auch lange und freundliche – Sackgasse.
Daran stört mich weniger, dass es den Markt ruiniert und die Preise in den Keller treibt. Aber es verwandelt die Welt zusehends in ein Topmodelcasting, bei dem Reichweitenrankings Heidi Klum spielen dürfen.
Aber (heute fällt es mir wirklich schwer, zum Schluss zu kommen): Wenn man sich die aktuellen Blogheim-Rankings ansieht, muss man den Fashionvictims ja recht geben …

Was wollt ihr von mir? Das unternehmerische Identitätsproblem

Der Klassenfeind feiert seine Wiedergeburt.
Ich habe ein Identitätsproblem. Ich erkenne mich schon noch im Spiegel, ich weiß meinen Namen und fühle mich heute früh auch noch als der, der gestern Abend eingeschlafen ist.
Aber wenn ich darüber nachdenke, was ich geschäftlich mache, bin ich verwirrt. Und das liegt nur zum Teil an systemimmanenter, also eigener, Planlosigkeit. Dieses Gefühl entsteht meistens dann, wenn ich zu verstehen suche, mit welchen Bildern im Kopf verschiedenste politische Farben versuchen, Unternehmer zu umgarnen.

Auf Entdeckerreise: Unbekannte Unternehmertypologien

  1. Da gibt es die, die Ein-Personen-Unternehmen super finden. In der Sicht der einen werden EPUs dabei zu armen ausgebeuteten Hascherln, verirrten Seelen, die – seien es jetzt Tagelöhner oder Ziegelarbeiter – staatliche Fürsorge brauchen. In der Sicht der anderen sind es heldenhafte SelbstausbeuterInnen, sie unter dem verhandelten Mindestlohn von 1500 € dahinvegetieren und auch gar nicht mehr möchten. Für wieder andere sind es Menschen, deren herausforderndstes Problem in der Entscheidung besteht, ob man heute mehr als eine Unterhose anziehen soll und ob man am Küchentisch, auf der Couch oder vielleicht doch mal im Kaffeehaus arbeitet.
    Verbreitungsgebiet: Grün, SPÖ
  2. Dann gibt es die (und die handelnden Personen sind dabei oft die gleichen wie jene in Punkt 1), die Unternehmer nur super finden, wenn sie Jobs schaffen. Produkt, Inhalt und Sinn sind ganz egal – der oder die UnternehmerIn zählt nur dann, wenn er oder sie klassische Jobs nach dem Angestelltengesetz schafft. Und sich dabei so viel Organisationskram aufhalst, dass jede genuin unternehmerische Tätigkeit garantiert unter die Räder kommt. Aber das macht nichts. Denn so wie der Lebensinhalt von Frauen darin besteht, Mutter zu sein, möchten auch Unternehmerinnen um jeden Preis von MitarbeiterInnen wegen der nächsten Gehaltserhöhung angeraunzt werden. Sonst sind wir’s nicht.
    Verbreitungsgebiet: SPÖ, Neos, ÖVP
  3. Dann gibt es die Freunde der Schattenboxer und Scheinhürdenkämpfer. Sie finden überall unglaubliche Herausforderungen, deren Existenz alleine denjenigen, der sich ihrer bewusst ist, zur Heldenfigur wachsen lassen. Da ist es noch gar nicht notwendig, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Geschweige denn, sie zu bewältigen. Oder auch nur von ihnen betroffen sein. Da werden Einzelunternehmer oder Personengesellschaften in freien Gewerben zu siegreichen Finishern im Triathlon durch einen unüberwindbaren Bürokratiedschungel. Nicht selten dabei am meisten von jenen bewundert, die große Teile dieses Dschungels zu verantworten haben.
    Verbreitungsgebiet: ÖVP, Wirtschaftskammer, FPÖ
  4. Eine besonders kunstvolle Konstruktion ist das rechte Unternehmerbild. Unternehmer sind zugleich Teil der Ordentlichen und Anständigen, die dafür sorgen, dass in diesem Land etwas weitergeht, zugleich aber auch der Klassenfeind, der gerechten Mindestlöhnen für die Anständigen und Ordentlichen im Weg steht.
    Außerdem ist der oder die UnternehmerIn Teil einer Elite und eines Establishments, dem so ganz prinzipiell einmal eine Lektion erteilt werden muss.
    Verbreitungsgebiet: FPÖ
  5. Schließlich gibt es noch die Blumenwiesen-Unternehmer. Sie erzählen jedem von Ihrem Unternehmen (meist mit hübschem Foto, kurzer Headline und dem Hinweis „more to come“ oder „hier erfahren Sie in Kürze …“), finden nach jedem gemeinsamen Kaffee im Kaffeesud einen Hinweis mehr auf ihre großartige Zukunft („wegen genau solcher Projekte habe ich mich selbstständig gemacht“) und sind eine spezielle Untergattung jener Spezies, die „Wie werde ich mit dem Internet reich?“-Ratgeber veröffentlicht (statt „mit dem Internet” kann man hier saisonal abwechselnd auch „mit besserem Verkauf“, „mit positiver Lebenseinstellung“, „mit Contentprodukten“ oder ähnliches einsetzen). Sie reden so viel über ihren Erfolg, dass ich mich frage, wann sie Zeit haben, erfolgreich zu sein.
    Verbreitungsgebiet: JunggründerInnen, “Start-Up“-Szene (Deppenanführungszeichen intended)

Vom Gründer-Hype zum Trauerspiel

Das sind nur ein paar Streiflichter.
Journalisten, die großteils den Eindruck erwecken, wirtschaftliche, finanzielle und steuerrechtliche Analphabeten zu sein, setzen mit einer akuten Welle an Mitleidsreportagen noch eine Krone (hübsch wie ein seit zwei Wochen im Regen stehender überquellender Aschenbecher) auf diesen welken Blumenstrauß. „Datum“ packt den dümmsten aller Titel („Selbst & Ständig“) aus und langweilt mit traurigen Geschichten, Brand eins schlägt in eine ähnliche Kerbe, und der Standard veröffentlicht eine „Reportage“ über verschuldete Unternehmer, die mehr Fragen offenlässt als sie stellt (Ist die Drittelmillion jetzt die 10%-Quote oder der gesamte Betrag? Warum sollte es nicht möglich sein, über Jahrzehnte eine Drittelmillion Schulden abzuzahlen?).

Identitaet2

Man macht sich also Gedanken darüber, was es heißt, UnternehmerIn zu sein – und erkennt anscheinend sehr wohl Anzeichen dafür, dass auch das UnternehmerInnen-Dasein, ganz so wie das Angestellten-Dasein, nicht mehr so ganz in geregelten Bahnen verläuft. So wie es nicht mehr direkt vom Vorstellungsgespräch geradeaus zu Dienstjubiläum und Frühpension geht, geht es heute auch nicht mehr ganz so geradlinig von der Gründung zur ersten Million (oder zum ersten Konkurs) – es gibt ein paar neue Nuancen und Abstufungen.

Liegt die Zukunft wirklich hinten?

Was macht man also als Unternehmer, den weder Selbstverwirklichung noch Größenwahn antreiben, der potenziellen MitarbeiterInnen gegenüber keine Muttergefühle entwickelt, der lieber Dinge macht als davon zu erzählen und der trotzdem der Meinung ist, dass es auch wirtschaftlich Sinn macht, weiterzumachen wie bisher?
Naja, man macht einfach. Und zahlt die Rechnungen seiner Partner, Lieferanten und Freelancer pünktlich. Und denkt sich manchmal, dass es trotzdem schöner wäre, wenn (vor allem auch öffentliche) Auftraggeber nicht so scharf darauf wären, Overheadkosten in Form von Organisations- und Personalkosten zu zahlen. Bankdirektoren und Industrie-CEOs, die sich eine Armada von Assistenzen für Diktate, Kontaktverwaltung und ähnliche anders bewältigbare Tasks halten, würde schließlich auch niemand für besonders innovativ und leistungsfähig halten.

Identitaet3

Wenn der Staat EPUs so super findet, warum arbeitet der Staat dann nicht mit EPUs?

Es ist nur eine Facette der beliebten unternehmerischen Schizophrenie: Öffentliche Ausschreibungen ergehen sich in Formvorlagen und Auflagen, die Einpersonenunternehmen praktisch ausschließen. Und dann kommt der Kanzler und sagt, EPUs wären cool. 
Die Frage stellt sich jedes Jahr. Pünktlich gegen Mitte Jänner, wenn mal klar ist, dass dieses Jahr jetzt tatsächlich begonnen hat, wenn ich mir einen Überblick über zu erwartende Steuer- und Versicherungsnachzahlungen verschafft habe und wenn eben auch so richtig klar wird, dass auch dieses Jahr wieder viele neue Kunden und Projekte braucht.
Die Liquiditätsplanung für die nächsten zwölf Monate zeigt ein großes Loch. Die Ausgaben für das kommende Jahr stehen fest, die Einnahmen entwickeln sich wie immer erst im Lauf der Zeit.

Last Exit Vergabeplattform?

Heuer war das Loch vielleicht ein bisschen größer als sonst. Ich war fast zwei Monate lang unterwegs, hab erst mal das Büro für zwei Wochen nach Buenos Aires verlegt, war dann ein paar Wochen weiter in Südamerika unterwegs und nach ein paar Tagen Zwischenstopp in Wien noch mal knapp drei Wochen in Uganda. Remote arbeiten klappt gut – wenn klar ist, was zu tun ist. Neue Projekte dagegen planen sich via Skype und Mail nicht ganz so gut. Deshalb war dann auch mal Ebbe in der Firma.
Nicht bedrohlich, aber bedrohlich genug, um mal andere Wege zu gehen. Nach ein paar Tagen Recherche in diversen Vergabeportalen habe ich mich entschlossen, in einen Auftrag.at-Account zu investieren. Auf dieser Plattform der Wiener Zeitung finden sich praktisch alle öffentlichen Ausschreibungen.
Dass die Ausschreibungsunterlagen zwanzig bis vierzig Seiten mit Formalitäten füllen, bevor sie zur Sache kommen, war mir schon klar, dass der Aufwand eher selten Früchte tragen wird, ebenso. Die Nutzbarkeit der Plattformen und die Verständlichkeit der Ausschreibungsunterlagen lasse ich hier auch mal außen vor.
Es hat mich auch gar nicht so sehr verwundert, dass in aller Regel die Nachweise der „technischen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“ großteils absurde Overhead-Kosten verlangen: Für Projekte, die gerade mal eineinhalb Leute beschäftigen würden, werden fünf Mitarbeiter verlangt (die dann aber auch gar nicht im Projekt mitarbeiten müssen), für Kreativ-Projekte, die erst mal mit einem Analyse- und Beratungsteil beginnen sollten, werden Kostenpläne für die komplette Umsetzung über zwei Jahre hinweg verlangt (oder gleich vorgegeben) und für die Vergabe von 100.000 € Budgets werden Referenzen über Millionenprojekte verlangt. Soll sein. Und der Ordnung halber: Man kann ja oft auch in Bietergemeinschaften bieten, wenn die eigene Personaldecke und die Umsätze mal nicht ausreichen.

… und dann entdeckt die Politik die Kleinen für sich

Dann aber kann der Kanzler. Auf markige Sprüche zu EPUs („sind die neuen Ziegelarbeiter“) folgten der KMU-Gipfel (im übrigen mit einem dezenten Widerspruch zur EPU Hymne: „Jeder, der Beschäftigung schafft, ist Bündnispartner der SPÖ“) und ein Bad in der Crowd der Austrian Startups, bei dem Kern auf einem goldenen Einhorn-Füllhorn zu reiten schien („nächstes Jahr im Praterstadion“).
Kleine Strukturen, entstehende Unternehmen, die sich unter neuen, sich laufend ändernden Rahmenbedingungen entwickeln, Einzelunternehmer, die das Heft selbst in die Hand nehmen – das wär also was für den Kanzler, wenn man die neue EPU-Freundschaft für bare Münze nimmt.
Allerdings: Ich habe jetzt keine detailgenauen statistischen Auswertungen gemacht (was im übrigen wiederum an der mangelnden Qualität und der oft verhaltensauffälligkreativen Komplexität der Ausschreibungsunterlagen liegt). Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich keine der aktuellen staatlichen Ausschreibungen an Einzelunternehmer wendet. Dass kaum eine Ausschreibung den oder die UnternehmerIn UnternehmerIn sein lässt, sondern Personalausstattung und Formvorgaben für Bietergemeinschaften vorschreibt.  Und dass zugleich oft ein fachlicher (nicht kreativer) Spezialisierungsgrad verlangt wird, der einerseits die Auswahl an in Frage kommenden Unternehmen massiv einschränkt, andererseits die einmal ausgewählten Unternehmen in die Abhängigkeit ihrer großen öffentlichen Kunden treibt.
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Ich schau mir das einfach mal weiter an. Und währenddessen frage ich mich: Wenn der Staat, vertreten durch den Kanzler, Ein-Personen-Unternehmen so krass super findet – warum arbeitet der Staat dann nicht mit ihnen?
Bei Teilzeit, Home-Office oder Geschlechtergerechtigkeit behauptet der Staat ja auch gern, Role Model zu sein.

Unternehmer können selbst entscheiden, was sie anbieten

Ich hätte da eine Idee für neue Herausforderungen.
Für solche, die auch Ausschreibungen für jene Formen des Wirtschaftens öffnen, die im 21. Jahrhundert funktionieren. Dazu gehört es, Neztwerke erntzunehmen (auch wenn sie nicht institutionalisiert sind und keine Mitgliedsbeiträge verlangen), Generalunternehmer ihren Job machen zu lassen (was am Bau oder in der Finanzwirtschaft funktioniert, funktioniert auch in anderen Branchen – auch wenn das vielleicht genau die Beispiele sind, die Kontrollfreaks Gänsehaut verursacht) und die unternehmerische Verantwortung, die gefordert wird, auch zuzulassen (auch wenn es dabei nicht nur um Verantwortung gegenüber Mitarbeitern, sondern um Verantwortung gegenüber der Leistung geht).
So kann Wachstum entstehen. Wenn man es schon unbedingt darauf anlegen möchte. Und so wäre es möglich, auch den armen Ziegelarbeiter-EPUs zu helfen – ohne sie in die klassischen Formen zwischen Sozialversicherung, Gewerbeordnung und Rechtsformen zu pressen, die viele Pflichten, aber wenig Möglichkeiten mit sich bringen.
Aber eine milde Form von Schizophrenie ist man als Kleinunternehmer ja mittlerweile durchaus gewohnt.
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