Polarisierung: Zwischen lonesome Leistungscowboys und revolutionären Subjekten

Triggerpunkte – das klingt nach Ärger, Shitstorms und klaren Verhältnissen. Mit eindeutigen Spaltungsdiagnosen und Landkarten quer durch die Gesellschaft verlaufender Gräben können Steffen Mau, Thomas Laux und Linus Westheueser in ihrem aktuellen künftigen Soziologie-Klassiker allerdings nicht dienen. Im Gegenteil: Der gesellschaftliche Konsens ist breit. Allerdings gibt es an den Rändern tiefe Gräben – und diese sind nicht auf Klassenspezifika oder andere soziale, strukturelle oder ökonomische Gegebenheiten zurückzuführen, sondern auf politische Agitation.

Das ist eine schlechte Nachricht. 

Denn im Gegensatz zu stabilen Klassenverhältnissen sind Ergebnisse politischer Agitation dynamisch. Was heute noch ein auffälliges Randphänomen ist, kann morgen schon näher beim Konsens sein. Gewiefte Agitatoren wie Altkanzler Kurz haben darin denn auch klare Qualitätskriterien ihrer Arbeit gesehen: „Früher hat man gesagt, das ist rechtsextrem, heute wollen das alle.“ 

Politik erzeugt Spaltung (ebenso wie Religion, mit der Politik gemacht wird, und andere politisch instrumentalisierte Ideologien). Protagonisten sind sogenannte Polarisierungsunternehmer, die sich ihrerseits auch noch mal in Polarisierungsgewinner und Polarsierungsverlierer unterteilen lassen. Manche politischen Strömungen gewinnen mit ihrer Agitation, andere beschädigen sich selbst. Das zeigt die Analyse von Spaltungslinien in Wählergruppen, auf die Mau und Kollegen umgestiegen sind, nachdem die Analyse von Klassen wenig ergiebig war.

Grundsätzlich gilt auch im politischen Umfeld: Der allgemeine Konsens ist breit. Parteien beziehen immer etwas zugespitztere Positionen als ihre Wähler, um sich zu unterscheiden. In den meisten Themen liegen auch Parteien innerhalb eines recht dichten Konsensspektrums, manche allerdings scheren aus. Und dabei zeigt sich: Manche haben Erfolg mit ihren Extrempositionen, andere stoßen auf ungläubige Verwunderung. 

Letzteres trifft – die Analyse wurde für Deutschland durchgeführt – vor allem auf die FDP zu: Politstrategen entwickeln marktradikale Freiheitspositionen für die Chimäre eines lonesome Leistungscowboys, aber völlig an realen Menschen vorbei. Während FDP-Programme sozialen Ausgleich weitgehend ablehnen und auch gegen klimawandelbedingten Verzicht eintreten (Innovation und Technologie sollen es lösen), ziehen ihre Wähler da nicht mit. Sie sind bereit, Klimamaßnahmen mitzutragen und sie begrüßen sozialen Ausgleich in Maßen. 

Ähnlich ergeht es Sozialdemokraten: Das revolutionäre Subjekt ist immer eine Chimäre, die willigen Träger des Klassenkampfs sind offenbar noch nicht geboren. 

Allerdings programmiert sich die FDP noch hartnäckiger und deutlicher an den Grundsätzen ihrer eigenen Wählerschaft vorbei und verlässt dabei auch über weite Strecken sozialen Konsens.

Ganz anders sieht es bei den Positionen der AfD aus: Diese verlassen den gesellschaftlichen Konsens – und ihre WählerInnen folgen ihnen dabei weitgehend. Während die AfD klar zu den erfolgreichen Polarisierungsunternehmern zählt, ist die FDP eindeutiger Polarisierungsverlierer. Das ist allerdings nicht auf gern erzählte Heldensagen von differenzierten sachlichen Positionen, die im populistischen Geschrei anderer untergehen, zurückzuführen. Es sind hausgemachte strategische Fehlentscheidungen, die es eher abstrakten Lehrbuchwelten recht zu machen versuchen als an Wünsche, Ziele und Träume von Menschen anzudocken. Man versucht zu polarisieren – aber es interessiert halt niemanden. Allenfalls ein paar Zaungäste, die diese hölzernen holprigen Kopfgeburten mitleidig belächeln.

In Österreich sind die Verhältnisse vermutlich ähnlich. Liberale Leistungsträger ohne sozialen Sinn sind eine Chimäre manch ewiger BWL-Studenten und ein Feindbild linker Phrasendrescher, aber eine verschwindend kleine reale Kategorie. Revolutionäre Subjekte, die für Erbschafts- und Vermögenssteuern auf die Barrikaden steigen, Umverteilungsplänen zustimmen und willig auch ihre eigenen Taschen leeren, sind in der Praxis ebenfalls deutlich seltener anzutreffen als auf Twitter, beim Handeln seltener als beim Fordern.

Erfolgreiche Polarisierungsunternehmer sehen anders aus. Auch die Polarisierungsverlierer kennen sie und können ihnen zusehen. Und sie sollten in den vergangenen mittlerweile mehr als 40 Jahren gelernt haben, dass sie nicht mit ihren eigenen Waffen zu schlagen sind. Gegen Polarisierer verliert man nicht, weil diese lauter sind. Man verliert, weil man sich von den eigenen Anhängern entfernt, für die man vorgeblich Politik macht. „Triggerpunkte“ liefert jetzt auch Zahlen dafür. 

Thomas Meyer: Hannah Arendt

Literatur gibt es sicher nicht zu wenig: Hannah Arendt selbst war eine der produktivsten Autorinnen ihre Zeit, einige Monografien setzen sich mit ihrem Werk auseinander – eine Geschichte des Menschen Arendt gab es in der Ausführlichkeit noch nicht.

Was bleibt hängen von der Lebensgeschichte und dem Werk einer sehr prägenden, aber nicht leicht auf den Punkt zu bringenden Autorin? Hans Jonas – das war der mit der Verantwortung. Günther Anders, damals Stern – der mit dem Ende der Menschheit. Martin Heidegger – der mystische Phänomenologe, an der Grenze zum Schwurbler, der zuletzt völlig den Faden verlor. Adorno – der mit der Kulturindustrie. 

Ähnlich ungreifbar wie Hannah Arendt war eigentlich nur Walter Benjamin, für dessen Rezeption sie sich auch jahrzehntelang einsetze. Wie Benjamin ist auch Arendt ständig der Gefahr ausgesetzt, zur ergiebigen Beute plündernder Zitateräuber zu werden, die isolierte Sinnsprüche mit bedeutungsvoll gerunzelter Stirn vor sich her tragen und mit der Souveränität des wenig Belesenen, der sich nicht von zu viel Information verwirren lässt, ganz genau wissen, was dabei vermeintlich Sache ist.

Bei Arendt gibt es mehrere Ansatzpunkte dazu: Sie ist politisch schwer einzuordnen – das macht sie zu einer potenziellen Galionsfigur Liberaler. Auch wenn Liberale in den USA ihrer Zeit Linke waren.

„Ich bin nicht an Wirkung interessiert“ – diese wiederholte Feststellung in dem berühmten Fernsehinterview von 1964 macht sie in Abgrenzung von welterklärenden und Gefolgschaft sammelnden Männern zu einer Ikone weiblicher Andersartigkeit.

„Ich will verstehen“ – dieser auf mehrere Interviews zuruckzuführenden Aussage kann jeder Mensch mit philosophischem Grundinteresse zustimmen, aber sie bedeutet für sich genommen wenig. In Über das Böse hat Arendt das im übrigen etwas näher ausgeführt.

Was sind also Momente, die von einer 500-Seiten-Biografie über eine Frau, über die man vermeintlich alles weiß, hängen bleiben? 

Ihre Dissertation wurde als enttäuschend empfunden. Gutachter war Karl Jaspers, der später von einem Lehrer zu einem Bewunderer werden sollte.

Die Beschäftigung mit Antisemitismus hat Arendt ein Leben lang geprägt – auch wenn das Thema in vielen ihrer philosophischen und weniger historischen Schriften wenig durchscheint. 

Die 30er Jahre als Generalsekretärin einer jüdischen Organisation in Paris waren eine wichtige Phase praktischer Tätigkeit, aus der sie Knowhow für die Einschätzung politischer Arbeit schöpfte und die die Grundlage für Positionen schaffte, die sie in Vita activa beschrieb.

In manchen Themen war auch sie aus der Zeit gefallen. Mit Feminismus kann sie eher spät in Berührung; für Feministen der 60er und 70er Jahre blieb sie wenig relevant. 

Rassismus und schwarze Bürgerrechtsbewegung blieben ihr fremd, sie verstieg sich zu manchen eher kruden Thesen, die sie später zurücknahm. Auch in dieser Debatte spielte sie keine Rolle. Manch pseudodekonstruktiven esoterisch-postmodernen Linken, denen Arendt als abgestempelte Liberale suspekt war, konstruieren daraus bis heute Rassismusvorwürfe, „belegen“ diese aber absurderweise mit Passagen aus „Elemente und Ursprünge totalitäter Herrschaft“, in denen Arendt Rassismus beschreibt. 

Und es bleibt schwer vorstellbar, wie eine einzelne Person dass Arbeitspensum bewältigt hat. Schon ihre Publikationen sind enorm. Dazu kommen Vorträge, politische Arbeit, Arbeit als Lektorin – und all das lange Zeit aus eher prekären Verhältnissen ohne feste wirtschaftliche Beziehungen. Sie muss extrem produktiv und extrem organisiert gewesen sein. 

In die Faszination einer Denkerin, die zu sehr vielen Themen sehr hellsichtiges geschrieben hat, mischt sich, gerade in der intensiveren Auseinandersetzung, auch Distanz. Arendt ist eindeutig eine Denkerin des vorigen Jahrhunderts, einer vergangenen Zeit. Die stets präsente Rückbeziehung auf die Antike als Fundament des Westens, die universelle Belesenheit, aber auch die Selbstsicherheit in der Interpretation von Quellen sind starke Anzeichen dafür. Ein gemeinsamer Kanon gilt als vorausgesetzt – auch wenn die Schlussfolgerungen gerade bei Arendt häufig von herrschenden Lehren abweichende sind.

Arendt distanziert sich von Existenzphilosophie und der Pose der geworfenen Verzweiflung (sei es bei Heidegger oder bei Sartre), sie schreibt pragmatischer als ihre Freunde Hans Jonas und Walter Benjamin, sie ist moderner als Camus (den sie unter den Existenzialisten offenbar noch am ehesten gelten ließ) – und dennoch ist auch die Vertreterin einer Denktradition die gerade endgültig in Archive wandert und deren Anschlussmöglichkeiten an Debatten unserer Zeit verloren gehen. Die Geste der Jahrtausende überspannenden Kontexte, das Bedauern von Gottverlassenheit und anderen Verfallssymptomen, religiöse Anspielungen und Anrufungen – das sind Tropen, die schon völlig aus der Welt gefallen sind, bühnenbildende Maßnahme, die früher das passende Setting geschaffen haben, heute aber eher für Verwirrung sorgen.

Die Beschäftigung mit Hannah Arendt, die immer wieder noch heute gültige Diagnosen trifft, zeigt auch, wie sehr es an der Zeit ist, sich von einigen Denk- und Schreibtraditionen zu verabschieden. Gerade wenn man als public intellectual gehört werden will. Um einige Entwicklungen ist es wenig schade – etwa um die Sprachlosigkeit Heideggers, der über 50 Jahre hinweg daran scheiterte, seine Grundgedanken vom Sein präziser zu fassen oder gar zu einem Ausweg aus der diagnostizierten Sackgasse der Philosophie zu führen. Mit dem Verlust des gemeinsamen Kanons geht aber auch die Möglichkeit des intellektuellen Streits verloren – was man nicht versteht, darüber kann man nicht streiten, man kann es allenfalls doof finden. Die scheinbare Befreiung – endlich müssen wir nicht mehr 2000 Jahre Geistesgeschichte im Kopf haben, um mitreden zu können – ist auch eine Beengung: Der eigene kleine Gedankenhorizont verleiht absolute Urteilskraft, denn nichts außerhalb dieses Horizonts ist wichtig. Alle sind sich selbst die Klügsten und arbeiten schnell an der eigenen Gefolgschaft, die sich ebenfalls nicht zu sehr mit anderen Ideen beschäftigen sollte. Aus einem großen Horizont werden viele kleine Paralleluniversen, die ihre Belanglosigkeit nicht mit Information oder Argumenten bekämpfen, sondern mit der Behauptung der eigenen WIichtigkeit. Das habe ich schon öfters ausführlicher beschrieben.

Vielleicht gilt aber auch nur: Wer den Kopf schüttelt über Dummheit oder Anmaßung der Gegenwart, hat ganz einfach den Anschluss verloren. Arendt dürfte es in Hinblick auf Frauen und schwarze Bürgerrechte ein wenig ähnlich gegangen sein. In einigen Fällen revidierte sie ihre Position, in anderen blieb sie eher verständnislos, in wieder anderen wurde sie interessierte zurückhaltende Zuhörerin.

Meyers Buch ist tatsächlich eine Biografie und anderes als bisherige Arendt-Monografien keine Einführung ins Werk. Nicht zuletzt dank der enormen Produktivität sind diese Bereiche bei Arendt schwer zu trennen – sie verbinden sich eben zu dem Bild der heute mehr und mehr aus der Zeit fallenden öffentlichen Intellektuellen, die in aller Ruhe sagen konnte: „Ich bin an Wirkung nicht interessiert.“ Dass sie das im Fernsehen sagte, relativiert die Aussage ein wenig wie die Beteuerungen 90jähriger Schauspielerinnen, lieber einsam im Waldviertel zu leben als in der Stadt – nachdem sie ein ein buntes Leben in den Städten der Welt geführt haben und ihr zurückgezogenes Leben angereisten Reporterteams beschreiben. Oder so wie die Lebensweisheit Arnold Schwarzeneggers, man solle alles der Leidenschaft wegen machen, nicht des Geldes wegen – er habe seine ersten Millionen früh mit Immobilien gemacht und sei deshalb immer finanziell unabhängig geblieben. 

Alle drei Fälle sind widersprüchlich, allen dreien aber bleibt gemeinsame Substanz. Sie demonstrieren Bescheidenheit jener, die sich Bescheidenheit und Zurückhaltung leisten können – weil eben diese Zurückhaltung in der Vergangenheit gar nicht ihres war.

Trotzdem stehen alle – und Arendt ganz besonders – für Arbeit an der Sache, die Ergebnisse liefert und dafür lange Wege geht. Das steht in krassem Gegensatz zu einer halbintellektuellen Kultur der Wirkungsorientierung, die Reaktionen und deren Intensität deutlich höher bewertet als Konsistenz und Qualität des Gesagten. Wichtig ist nicht, was man sagt (und ob es richtig oder falsch ist), sondern wer darauf wie laut reagiert.

Belesenheit oder gar die Anknüpfung an große geistige Entwicklungslinien sind heute eher ein Hindernis. Wer sich damit aufhält, kommt nicht schnell genug in die Diskussion. Bis eine Position formuliert ist, hat die Umgebung schon vergessen, worum es ging. 

Diese Tatsache beschreibt eine der schärfsten Trennlinien zwischen den Denktraditionen einer Hannah Arendt und der Gegenwart. 

Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Triggerpunkte und Konflikte – der Titel lässt vermuten, die Antwort auf die noch gar nicht gestellte Frage läge auf der Hand. Aber so einfach machen es sich Steffen Mau, Thomas Laux und Linus Westheuser in ihrer aktuellen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Konflikten nicht. Auf der Suche nach der passenden Metapher der Gesellschaftsform – ist es ein Kamel mit zwei Höckern, also starker Polarisierung, oder eher ein Dromedar mit nur einem Höcker, der eher einer gleichmäßigen Verteilung entspricht – untersuchen sie potenzielle Spaltungskonflikte in vier Ungleichheitsarenen.

Die erste Arena entspricht klassischen Klassenkampfszenarien, hier geht es um ökonomische Verteilung zwischen oben und unten. Die zweite Arena dreht sich um Migration und Innen-Außen-Konflikte. Die dritte Arena beschreibt Identitätspolitik und Wir-Die-Divergenzen. In der vierten Arena von heute und morgen sind Veränderung und Klima die zentralen Themen.

Untersuchungsinstrumente sind ein aktualisiertes Klassenkonzept, das ökonomisches und kulturelles Kapital berücksichtigt, und ein Polarisierungsindex, der zusätzlich zum allgemeinen Wert der Antwort einer Gruppe die Streuung unterschiedlicher Antworten innerhalb dieser Gruppe angibt.

Die erste Diagnose: In keiner dieser Arenen lassen sich grundlegende Spaltungen feststellen. Trennlinien verlaufen werden zwischen Arm und Reich noch zwischen Alt und Jung oder zwischen Stadt und Land.

In den großen Fragen herrscht viel Konsens (es gibt Ungleichheit, Klimawandel ist real, Migration ist nicht per se ein Problem, Homosexualität oder Transgender sind zu akzeptieren), Differenzen gibt es aber in konkreten Punkten: Soll man sich auf den Kampf gegen den Klimawandel konzentrieren oder auf den Kampf gegen dessen Folgen? Müssen Migration und Sozialleistungen strenger geregelt werden? Dürfen Queer-Personen laut und fordernd auftreten? Erstaunlich wenig Unterschiede gab es bei Fragen zur Oben-Unten-Ungleichheit: Man ist sich über Ungleichheit einig, sieht aber wenig akuten Handlungsbedarf bei größeren Maßnahmen.

Trotzdem haben konkrete Fragestellungen das Potenzial, Triggerpunkte zu treffen und damit doch vorhandene Konflikte deutlich zu machen.

Triggerpunkte wirken dort am stärksten, wo Erwartungen verletzt werden. Die Autoren identifizieren vier verschiedene und besonders gefährdete Erwartungsfelder.

Egalitätserwartungen verbergen oft Erwartungen von Rangordnungen – warum bekommen auch die etwas aus dem Sozialsystem, die noch nicht eingezahlt haben? Warum gibt es Leistungen für Migranten, die es für andere nicht gibt?

Normalitätserwartungen betreffen das Verhalten anderer – wenn Homosexuelle ohnehin akzeptiert werden, warum müssen sie dann schrill auftreten? Gibt es überhaupt noch Diskriminierung?

Grenzerwartungen oder Entgrenzungsbefürchtungen sind die Abstraktion von „Da könnt ja jeder kommen!“ oder „Wo kommen wir denn da hin?“.

Verhaltenserwartungen oder -zumutungen kumulieren in „Man darf ja heute nicht mehr …“

Je zentraler die verletzte Erwartung für das Selbstbild ist, desto heftiger wirken Trigger. Auch dabei aber gilt: Trigger sind nicht deutlich verteilt. Es lassen sich kleine klassenspezifische Tendenzen feststellen, aber keine groben Spaltungslinien entlang von Klassen. Insgesamt sind alle Klassen eher progressiv als konservativ, Gruppierungen innerhalb des Meinungsspektrums nehmen je nach Frage sehr unterschiedliche Ausprägungen ein. Manager und Arbeitgeber etwa sind in Oben-Unten-Fragen eher konservativ, sie wollen also weniger umverteilen, in allen anderen Arenen dagegen sind die eher an der Spitze der Progressiven.

Auch bei simplen Sympathie-Befragungen ließen sich nur wenig klassenspezifische Unterschiede feststellen, dafür einige eher überraschende Einschätzungen: Langzeitarbeitlose und Konzernlobbyisten gelten als gleichermaßen unsympathisch. Feministinnen gelten als unsympathischer als Transgender-Personen oder arabische Zuwanderer.

Mau, Laux und Westheuser stellen den häufigen Polarisierungsthesen zwei Thesen von hergestellter oder geförderter Polarisierung entgegen.

Die erste Machart beschreibt ein Missverständnis: Gebildete neigen dazu, weniger Gebildeten bestimmte Meinungen und Haltungen zu unterstellen. Diese Meinungen gibt es durchaus, aber weniger in der geschlossenen Form, die Gebildete vermuten. Ungebildete sind sich nicht so einig. Eine Ursache dafür liegt vermutlich darin, dass Gebildeten die Konsistenz ihrer eigenen Ansichten eher ein Anliegen ist. Sie müssen sich homogene konsistente Weltbilder schaffen und unterstellen diese Konsistenz auch anderen. Weniger Gebildeten ist diese Konsistenz allerdings nicht so wichtig, weder in ihren Ansichten noch in der Wahrnehmung als Gruppe.

Die zweite Art hergestellter Polarisierung führen die Autoren auf Politik und Medien zurück. Menschen, die Nachrichten über Social Networks konsumieren, sind unzufriedener und wütender als Menschen, die Information aus traditionellen Medien beziehen. Wut sinkt mit dem Einkommen und steigt mit Veränderungserschöpfung, die oft auf wahrgenommene Veränderung zurückzuführen ist. Wut als Zeichen stark wirkender Triggerpunkte kennzeichnet Wähler rechter Parteien. – Überhaupt sind, so der Befund der Autoren, Spaltungen viel eher entlang politischer Einstellungen zu finden als entlang von Klassenunterschieden, und auch dabei sind es einzig die AfD-Wähler, die tatsächlich ausscheren.

Das bedeutet: Drastische Polarisierung existiert an den Rändern; es ist keine 50:50-Spaltung, sondern eine 90:10-Spaltung, die allerdings das Potenzial zum Wachstum hat. Polarisierung wird von politischen Polarisierungsunternehmern vorangetrieben. Das sind einerseits die bekannten Polarisierungskünstler vom rechten Rand, allerdings bemühen sich alle Parteien der Abgrenzung wegen immer wieder um möglichst polarisierte Profile. Grüne sind dabei in Deutschland meist Speerspitze progressiver Einstellungen, am konservativen Ende wechseln sich Linke und FDP ab (wenn man die AfD außer Acht lässt). Mit dem Bemühen um ein schärfer wirtschaftspolitisch konservatives Profil programmiert sich vor allem die FDP deutlich an den Einstellungen ihrer Wähler vorbei – denn diese sehen beispielsweise Umverteilungsfragen keineswegs so rigide wie die Partei selbst und sind sowohl gesellschafts- als auch wirtschaftspolitisch deutlich liberaler eingestellt.

Politische Unterschiede sind also deutlicher sichtbar und spürbar als sozialstrukturelle. Sie werden befeuert und zu Konflikten hochstilisiert, betreffen aber weniger Grundsatzfragen als Details und Ausprägungen. Menschen sind sich nicht sehr uneinig darüber, wie sie leben wollen – es gibt Uneinigkeit dabei, wie man dorthin kommt, was man dafür tun muss oder will und wer was geben oder was bekommen sollte.

Tiefere Gräben gibt es an den Rändern, die dafür oft umso lauter beschrieben werden – oder umso überraschender sind. Letzteres halten die Autoren etwa für gebildete und grundsätzlich gut situierte Menschen aus dem Anthroposophen-Milieu fest, die in den letzten Jahren zu lauten Querdenkern und Coronaschwurblern wurden.

Anstelle einer false balance diagnostizieren die Autoren eine false polarization – in vielen Fällen reden Menschen eher einander vorbei als einander antagonistisch gegenüberzustehen. Trotzdem können bei richtiger Bedienung der Triggerpunkte Unterschiede und Konflikte wachsen – dazu muss sich bei den eigentlichen Konfliktpunkten gar nichts ändern. Es muss nur der Eindruck erweckt werden, als drohte eines der vier Erwartungsfelder bedroht oder verletzt zu werden. Dann gerät Toleranz ins Hintertreffen, Kritik an als ungerechtfertig empfundenen Ansprüchen tritt in den Vordergrund.

Das sind dann eher problematische Konflikte, die leichter gesteuert als gelöst werden können, schließlich sind sie großteils imaginiert, indem sie sich um Unterstellungen drehen.

Sind Digitalabos so etwas wie Tabletmagazine?

Alle sind überzeugt: Man muss es probieren. Niemand weiß: Wie geht es wirklich, wer hat womit Erfolg gehabt? Erfolgsstorys haben immer den Unterton des Achtungserfolgs oder der Ausnahmesituation: immerhin das erreicht, besser als andere, für die Umstände nicht schlecht. Oder: Das Medienimperium mit weltweiter Reichweite und internationalen Schleuderpreisen konnte ja auch seine Registrierungen steigern.

Man muss es tun, man muss auf Digitalabos und direkte Kundenbeziehungen setzen, weil es aktuell keine alternativen Perspektiven gibt. Umso dringender ist es, welche zu entwickeln.

Vor 15 Jahren haben wir festgestellt, dass Onlinemedien nicht mehr so funktionieren werden. Nicht nur, weil niemand dafür bezahlen wollte, sondern auch, weil der wachsende Anteil von Mobilgeräten Design- und Usability-Überlegungen zunichte gemacht hat, die Webseiten in Brand- und Designerlebnisse verwandeln sollten, wie man es von Magazinen und Zeitungen kannte. Fancy Storytelling-Formate waren Schnee von gestern, Navigationskonzepte (darüber machte man sich damals noch Gedanken) waren über den Haufen geworfen.

Die Hoffnung lag in Tablets. Tablets sperrten User ein, beschränkten ihre Nutzungsmöglichkeiten und gaben Publishern Mittel an die Hand, Usern ihre Ideen aufzuzwingen. Wer Teil der schönen neuen Welt sein wollte, musste ein Tablet besitzen, die Magazin-App downloaden und das Magazin abonnieren. Verlage sahen ihre Zukunft im Nespresso-Modell: Schaff ein Convenience-getriebenes Modell, das Usern viele Annehmlichkeiten bietet und es ihnen sehr schwer macht, das geschlossene Umfeld zu verlassen.

Das Problem: Es hat niemanden interessiert. Ein paar unwillige Early Adopter, ein paar Fashion Victims und ein paar Schnorrer, die über Abogeschenke geködert waren – das blieb die Tablet-Ausbeute der meisten Verlage. User surften indessen fröhlich am Handy, pfiffen auf durchdachte multimediale Userexperience und stoppelten sich ihre Information aus verschiedensten Quellen zusammen.

Ähnlich verhält es sich jetzt mit Digitalabos. Publisher versuchen, Geschäftsmodelle von früher zu transformieren und digitalisieren, es liegt scheinbar auf der Hand, dass das Produkt funktionieren muss, es hat sich ja kaum verändert – aber es funktioniert kaum. Trotzdem ist es notwendig, das Produkt auszubauen, zu perfektionieren und alles rundherum zu perfektionieren. Niemand kann es sich leisten, dieses Thema unversucht zu lassen. Aber es ist durchaus vorstelllbar, dass das Digitalabogeschäft ebenso sang- und klanglos verschwindet wie das Tabletgeschäft.

Wie beim Tabbletgeschäft sind es vielleicht Nebeneffekte die den Ausweg zum nächsten Versuch weisen. Digitalprodukte sind datenintensiv und fordern zur Beschäftigung mit Künstlicher Intelligenz auf. Sie zwingen zur Beschäftigung mit Usern, Tech-Konzernen und digitalen Möglichkeiten. Sie zeigen neue Konkurrenzverhältnisse auf. Und sie lassen neue Ideen entstehen, welche Partner in Zukunft interessant für Verlage sein könnten. Früher waren es Werbetreibende; Leser wollten die von diesen hinterlassenen Lücken nicht ausfüllen. Vielleicht sind einmal mehr Tech-Konzerne Geldquelle für Verlage. Sie brauchen Inhalte, um User zu beschäftigen und zu binden, um Netzwerke zu füllen – und um KI-Modelle zu trainieren. Copyrights waren eines der am intensivsten diskutierten Themen rund um den EU AI Act. Und man kann noch nicht einmal sagen, ob das weise oder kurzsichtig war. Verlage brauchen Big Tech, und Big Tech braucht Content, nach wie vor.

Die letzte große Kooperationswelle leitete allerdings den Anfang vom möglichen Ende vieler Verlage ein. Rund um die Jahrtausendwende, Telekomunternehmen meinten, die besseren Medienunternehmen zu werden, war Syndication die neue heiße Geldquelle für Publisher. Sie lizenzierten Inhalte und hatten damit neben Werbung und Lesern eine dritte Einnahmequelle.

Genau die wurde ihnen zum Verhängnis. Leser gewöhnten sich daran, Inhalte überall und kostenlos zu bekommen – und verzichteten noch leichter als bisher auf ihr Zeitungsabo.

Das kann wieder so passieren. Allerdings hat auch Big Tech mittlerweile verstanden, dass Inhalte nicht von selbst wachsen und Verlage wichtig sind. Es liegt an den Verlagen, dieser Tatsache gerecht zu werden und das angemessene Selbstbewusstsein zu entwickeln. Dieses Selbstbewusstsein muss ein deutlich anderes sein als das der Vergangenheit.

Ukraine 22: Ukrainian Writers Respond to War

Die Sammlung von Essays ukrainischer AutorInnen erscheint gerade rechtzeitig; der eine Krieg droht hinter dem anderen in Vergessenheit zu geraten. Und viele Details habe zumindest ich schon vergessen – die Zuversicht, dass das schon nicht passieren wird, das Erschrecken, dass Russland wieder mit aller Macht Krieg führt, das Erstaunen, dass sich Russland nicht mal die Mühe macht, seinen Terror zu tarnen.

Das sind vermutlich Reaktionen, über die die ukrainischen AutorInnen ihrerseits nur staunen können. Viele Essays beschreiben eine lange Geschichte des Konflikts mit Russland, russiche Bestrebungen, Ukrainisches zu ignorieren und auszulöschen, russiche Angriffskriege gegen ehemalige Sowjetrepubliken. Aus Sicht der Ukraine wirkt es manchmal, als führte Europa einen bloß halbherzigen und ohnehin aussichtslosen Abwehrkampf dagegen, in absehbarer Zeit ein unwichtiges Anhängsel eines putin-dominierten Eurasien zu werden.

Fast vergessen ist auch schon, mit welcher Gewalt der Krieg mit Raketen und Bomben über Städte hereinbrach, fast vergessen die Angriffe auf flüchtende Familien. 

Die Annexion der Krim und die Kämpfe im Donetzk-Gebiet haben wir viel zu wenig beachtet – in der Ukraine haben sie die Politik der letzten Jahre bestimmt. Ich bin mit der Idee aufgewachsen, Russlannd wäre nicht mehr so. So wie in den Erzählungen meiner Großeltern. Jener Großeltern, die aus dem damaligen Ostpreußen, heute Polen geflohen sind, und zum Ende ihres Lebens noch mit Begeisterung Glasnost und Perestroika verfolgt haben. Es gab keine Panzer in europäischen Städten mehr, keine Mauertoten. 

War das reale und begründete Hoffnung, oder das ein Mosaiksteinchen mehr in einem europäischen Stimmungsbild, das ukrainische AutorInnen jetzt als nützliche Kreml-Idiotie in Westeuropa bezeichnen?

Kann man Kultur von Krieg trennen? Auch das ist eine Frage, der UkrainerInnen heute eher verständnislos gegenüberstehen. Russischer Angriffskrieg bringt Bilder des Bösen in die Welt, Zuspitzungen und Feindbilder wie im Blutrausch, der zwischen den Zeilen von Karl Kraus‘ Letzten Tagen der Menschheit steckt. Früher wollte jedes Land in seinem Größenwahn die Welt zerstören, heißt es in einem der Essays. Heute will das nur noch Russland. Und die Frage, ob man Krieg von Kultur trennen könne, ob es nur Putins, nicht aber Puschkins Krieg sei, sei gleichbedeutend mit der Frage, ob es nur Hitler gewesen sei – und alle anderen Deutschen unschuldig.

Die Essays sind chronologisch angeordnet. In den ersten Wochen dreht sich vieles um Bestürzung, Flucht, die Frage, welchen Widerstand man leisten kann und soll, wie man unter Raketenbeschuss und Fliegeralarm mit Kindern lebt. Dann wird die Gewalt mehr und mehr Teil des Alltags. Wichtiger werden politische Positionen, die Erinnerung an Ursachen es Krieges, an Verlorenes, aber vor allem an das, was es zu verteidigen gilt.

Wichtige Essenz für uns, die sich diese Fragen noch nicht in dieser Dringlichkeit stellen müssen: Nichts aufschieben, Zeit nützen, keine Ausreden gelten lassen und klare Prioritäten haben. Du muss heute tun, was dir wichtig ist und was dir Freude bereitet, auch wenn du glaubst, dass es auch kommende Woche genauso gut geht. Du kannst morgen zwischen Trümmern sitzen.

Künstliche Intelligenz, Medien und die beliebtesten Missverständnisse

Künstliche Intelligenz ist wohl wirklich der falsche Begriff. Gerade in Diskussionen über KI und Journalisnus merkt man oft: Menschen stellen sich vor, KI würde auf magische Weise ausrücken, um als Lokaljournalist über den Brand im Nachbardorf zu berichten oder zum Telefon greifen, um einem Staatsanwalt Geheimnisse zur Existenz eines bislang unbekannten Akts zu entlocken. 

Es kann sein, dass in vielen Medoen beides auch von menschlichen Journalisten nicht mehr gemacht wird – aber das ist ein anderes Problem.

Dass KI schreiben kann, ist im Wesentlichen irrelevant. Es ist ein netter Zug, der weit mehr Menschen ermöglicht, mit KI zu interagiern, als wenn man strukturierte Abfragen stellen oder gar programmieren müsste. Aber es erzeugt falsche Vorstellungen von einer aktiven, von sich aus tätigen KI. Und es erzeugt falsche Prioritäten. Gerade für die Medienbranche: Hier arbeiten Menschen, denen es leicht fällt, zu schreiben. Es ist ziemlich sinnlos, ihnen diesen Task abnehmen zu wollen und würde Effizienzsteigerungen unter der Wahrnehmungsgrenze bringen. Natürlich gibt es auch schlechte und untalentierte Schreiber. Das ist aber ein Problem, das man auf anderer Ebene lösen muss – und untalentierte Schreiber hötten auch Probleme, sich einer KI verstöndlich zu machen. Und automatisiert erstellte strukturierte Texte etwa in der Wahl- oder Fussbalberichterstattung bestätigen diese Regel.

Vernachlässigbar ist die Sache trotzdem nicht. In vielen Funktionen, die Medien selbstverständlich nützen, steckt KI.

  • Empfehlungen, Personalisierung, „Lesen Sie auch“ – hier versorgt Sie der Bot. Kategorisierung, Tagging, semantische Rechtschreibprüfung – im Idealfalll sind das lernende Systeme.
  • Synthetische Stimmen lesen Texte vor, mitlesende Bots geben Redakteuren Tipps, während diese schreiben. 
  • Textanalysetools kategorisieren Dokumente nach Personen, Organisationen und Themen und bieten kontextorientierte Suchen, mit denen tausende Seiten Material schnell durchsucht und nach Zusammenhängen abgeklopft werden können. 

Marketingetriebene Reichweitenportale ohne redaktionellen Ehrgeiz multiplizieren mit tatsächlich künstlich erstellten Texten an der Spam-Grenze ihren inhaltlich mageren Output. Dadurch entstehen bislang kaum erfolgreiche Anwendungen – aber sie tragen dennoch dazu bei, den Ruf anderer journalistischer Produkte weiter zu verschlechtern. 

Zahlreichen aktuell in Verlagen hausierenden KI-Predigern ist das zu wenig. Sie zitieren KI-Apps, ziehen Analogien zu Social Networks und anderen Plattformen, die User mit Empfehlungsloops tief in Kaninchenhöhlen ziehen und bedauern, dass Nachrichtenmedien das nicht auch machen. 

Das ist – neben den Erwartungen an das Schreibtalent von KI – das zweite große Missverständnis. Verlage und Redaktion überlassen das Ausspielen von Inhalten nicht einer KI, weil es zum Selbstverständnis redaktioneller Arbeit gehört, Inhalte selbst zu steuern, Themen zu setzen und Schwerpunkte bilden – das ist der Kern journalistischer Arbeit. 

Personalisierung gehört zu den häufigsten Userwünschen – die umgehend wieder relativiert werden. Man möchte maßgeschneiderte Information, aber man möchte nicht immer das gleiche lesen, auf Neues aufmerksam gemacht werden und nicht immer im eigenen Saft kochen.

Und schließlich sind die Mengengerüste völlig verschieden. Social Networks schöpfen aus Millionen täglich neuen Contentelementen. User haben oft 1000 oder mehr Kontakte. – Eine große Nachrichtenseite veröffentlicht vielleicht 300 Meldungen am Tag und hat 50 Redakteure. 300 Posts am Tag – auf Twitter schaffen das einzelne User täglich allein.

Dennoch überrascht die Hartnäckigkeit, mit der Verlage immer wieder neue Anläufe nehmen – und wie auch große, verzweigte Verlage, die aus den Inhalten vieler Regionalmedien schöpfen können, daran scheitern. 

Zuletzt gilt, was immer wieder festgestellt werden muss: Datengetriebene Innovation in Medien (und dazu gehört auch KI) findet im Kleinen statt. Es sind ein paar Prozent mehr Traffic hier, ein paar Sekunden mehr Verweildauer dort, die in Summe den Unterschied ausmachen – in Form von langfristigen Trends. Die plötzlichen Sprünge und die hohen Ausschlöge nach oben sind praktisch nie auf digitale Innovation zurückzuführen. Die deutlichen Unterschiede und die großen Sprünge sind immer noch einfach auf die bessere Geschichte zurückzuführen.

Data is overrated

Wie kommt man als Datenanalyst dazu, an dem Ast zu sägen, auf dem man sitzt? „Er ist der einzig seriöse Datenmensch“, hat mal ein Kollege über mich gesagt. Das war um vier in der Früh, zu dieser Tageszeit ist man ehrlich. Ich führe das darauf zurück, dass ich „Ich weiß es nicht“ für die wichtigste Aussage jedes Analysten halte. 

Die Auseinandersetzung mit den Versprechen von Data Science war denn auch von persönlicher Erfahrung und persönlichen Interessen getrieben. Du hast die Nase tief in den Zahlen und den Kopf hoch in Spekulationen über mögliche Zusammenhänge, die noch zu testen wären – und dann rauscht jemand vorbei und brüllt lauthals eine neue Erkenntnis in den Raum, die ihm die Daten geflüstert hätten. „Steil“, denkt sich der auch nur mäßig erfahrene Analyst. „Hier wären viele Schlüsse möglich. Dieser allerdings nicht.“ 

Jetzt ist es auch durchaus langweilig, immer erst auf fehlende Ergebnisse, noch durchzuführende Tests, neue Datenquellen oder andere Umwege zu verweisen. Es ist aber auch unsinnig, nur der Plakativität halber in den Kanon der Voreiligen  einzustimmen. Deswegen war es eine Grundfrage dieser Forschung, eine andere Antwort zu finden als: „Es kommt darauf an.“ 

Wenn wir verstehen wollen, ob Data Science zu besseren Entscheidungen führt, müssen wir erst verstehen, wo überall im Data Science-Prozess Entscheidungen getroffen werden. Sie stehen keinesfalls erst am Ende, so wie es viele Data Science-Konzepte mit technischem Schwerpunkt gern darstellen. 

Ebenso müssen wir uns die Frage stellen, ob und wie die Ergebnisse von Data Science oder Datenprozessen in allgemeinen noch irgendeinen Anspruch auf besondere Verhältnisse zu Tatsachen oder Realität stellen dürfen. Und schließlich müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie sich Bedeutung und Autorität auf der Basis von Daten sonst argumentieren lassen.

Die Grundfrage: Wie wird ein Datum zum Datum? 

Hinter der Frage steckt Skeptizismus, der nicht an seinen eigenen Zweifeln scheitern soll. Daten sind nicht erst seit dem Siegeszug von IT oder seit immer größer werdenden Big Data-Blasen Gegenstand von Erkenntnisdebatten. Daten waren früher Streitschlichter, Friedensbringer und sogar taktische Mittel, Kriege zu vermeiden. In den Frühzeiten der Royal Society im England des 17. Jahrhunderts vermittelte datengetriebene Wissenschaftlichkeit zwischen experimentellen Forschern wie Robert Boyle und strengen Rationalisten wie Thomas Hobbes. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, meinten die Rationalisten. Vielleicht schon, wenn wir auf die Daten achten, hielten die Experimentierer entgegen. Daten waren etwas für Gentlemen im wohlsituierten Wortsinn, die ihnen Beachtung schenken konnten, ohne auf ökonomische, politische oder religiöse Eigeninteressen achten zu müssen.

Daten sind keine losgelösten Abstraktionen. Materielle und technische Innovationen der Datenhaltung haben Informationsorganisationen geprägt und Rechtsenwicklung beeinflusst, zeigt unter anderem die Rechtshistorikerin Cornelia Vismann an der Entwicklung von Akten von Fadenheftung zu mechanischen Aktenordnern.

Mit dem Blick auf diese technischen und sozialen Komponenten von Daten stellt sich die Frage: Wie wird etwas zum Datum?

Wo entsteht dabei der Nimbus des besonderen  Naheverhältnisses zur Realität?

Daten ziehen normative und soziale Komponenten mit sich. Das zeigt sich besonders deutlich an den Erwartungen, die an Open Data gestellt werden. Open Data vermittelt Transparenz, Kontrolle, Offenheit und Effizienz – und verstellt damit den Blick darauf, wer was wie zum Datum gemacht hat, und wer über die Offenheit dieser Sammlungen entschieden hat.

So betrachtet wird Open Data zum herrschaftlichen Machtinstrument. Oft sind es aber auch nur Schwächen im Prozess des Erstellens und Bereitstellens von Datenpublikationen, die den angestrebten Nutzen von Open Data Publikationen hintertreiben. Das lässt sich an zahlreichen Beispielen dokumentieren, ich habe dafür unter anderem das Lobbying Transparenzregister der EU analysiert. Hinter diesem Beispiel steckt der politische Wille, mit Open Data Transparenz zu schaffen. Technische Unzulänglichkeiten verhindern das. Teils sind es tatsächlich technische Fehler im Datenhandling, teils sind es technische Unklarheiten, die zu große Interpretationsspielräume eröffnen, und das nicht nur in der Auswertung der Daten, sondern schon in ihrer Erhebung. Auch die Art der Speicherung und Publikation hat große Auswirkungen darauf, wie Daten ausgewertet und verwendet werden können.

Daten existieren nur in Beziehungen 

Diese vielschichtigen Einflüsse schwächen das Bild von der Macht der für sich sprechenden Daten. Daten sind keine isolierten uninterpretierten beziehungslosen und deshalb unverfälschten Realitätsfragmente. Sie werden, so die These, nur in Beziehungen verständlich. 

Eine häufige Spielart, sich diesem Komplex zu nähern, ist die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Arten von Bias in Daten und Analysen. Daten sind vielleicht nicht neutral, wird dann vermutet, wenn sie aus einer bestimmten Perspektive betrachtet werden. Wenn sie aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, sind sie allerdings ebenso wenig neutral. Das führt recht schnell in einen Regress, aus dem nur normative Entscheidungen einen provisorischen Ausweg bieten: Man nimmt bewusst diese (oder eine andere) Perspektive ein, um einen bestimmten (oft: bislang vernachlässigten) Standpunkt hervorzustreichen. 

Das ist dann allerdings Agitation, nicht Data Science. 

Biasorientierte Konzepte kommen selten über die Feststellung hinaus, man müsse sich eben möglicher Verzerrungen bewusst sein. Dem liegt aber noch immer eine Vorstellung unverfälschter Daten zugrunde, die Idee, es gäbe Daten auch ohne diese Verzerrung. Nur vielleicht nicht für uns, weil wir immer auf eine bestimmte Perspektive angewiesen sind. Damit wird das ein Erkenntnisproblem kantischen Ausmaßes, wie es seit rund 250 Jahren diskutiert wird. 

Die Theorie von theoriefreier Erkenntnis und hypothesenfreier Forschung funktioniert nicht 

Wie soll man in der täglichen Praxis der Datenanalyse mit diesem Dilemma umgehen? Analysten können Ergebnisse in den Raum stellen, weitgehend unkommentiert veröffentlichen – und anhand der Reaktionen lernen, welche Schlüsse verschiedene Publika ziehen. Analysten können kontextualisieren und damit Präzision und Prägnanz opfern. Analysten können auch umgekehrt weiter präzisieren und nur noch punktuelle Diagnosen liefern, die in einer breiter angelegten Praxis, die sich mit schwammigen Gegebenheiten auseinandersetzen muss, irrelevant sind.

Diese Unzulänglichkeiten führen zur großen Versuchung der Vorhersagen. Vorhersagen sind Wenn-Dann-Verknüpfungen, die auch in strengen Verfahren wie Wahrheitstabellen den großen Vorteil haben, praktisch nie falsch zu sein. Für die Logik ist eine Wenn-Dann-Implikation nur dann falsch, wenn die Wenn-Prämisse erfüllt ist, die Dann-Konsequenz aber ausbleibt. In der Praxis ist auch das noch nicht notwendigerweise ein Problem – es kann etwas dazwischengekommen sein, die Voraussetzungen haben sich geändert oder es gab sonst einen Eingriff, der die an sich richtige Prognose stört. Wir werden es nie wissen. Diese praktische Eigenschaft hat dazu beigetragen, Prognosen, Visionen und Prophezeiungen zu einem sehr beliebten Genre aufsteigen zu lassen. Es lässt sich nie fix feststellen, wo genau Prognosen falsch abbiegen. 

Es sei denn, es verändert sich die Perspektive darauf, was alles Bestandteil der Prognose ist und welche Ereignisketten abgedeckt werden müssten, um sinnvolle Aussagen treffen zu können. Das wirkt sich auf das Verständnis der diesen Prognosen zugrunde liegenden Daten aus.

Zwei unterschiedliche Schlüsse sind möglich. 

In der ersten Perspektive sind schlicht nur noch nicht genug Daten vorhanden. Wenn einmal alles datafiziert ist, dann werden keine Fragen mehr offen bleiben, dann können wir alles berechnen, dann sind Algorithmen exakte Abbilder der beschriebenen Realität. Sind sie dann allerdings noch Abbilder? Ist eine solche Datenfülle noch in irgendeiner Form besser handlebar als die Realität selbst? Was gewinnt man mit der Idee, auf Kategorisierung, Sampling und andere Formen der Aggregierung zu verzichten und stattdessen schlicht alles zu betrachten? In euphorisierten Varianten dieser Idee wurde Daten die Macht zugeschrieben, neue Paradigmen der Wissenschaftlichkeit zu begründen. Manche Denker feierten eine Rückkehr der Induktion: Wir bräuchten keine Theorien und Hypothesen mehr, aus denen wir Gesetzmäßigkeiten anhand von Fakten deduzieren können, wir können aus Gesetze und Fakten allein anhand  von Regelmäßigkeiten induzieren. Die Idee, aus Regelmäßigkeit (etwas geschieht öfters) Notwendigkeit oder Kausalität abzuleiten (es gehört so, es gibt ursächliche Zusammenhänge zwischen vorher und nachher), war lange Zeit verpönt und feiert hier ihr Comeback. Unbeantwortet bleibt aber die Frage, wie – ohne jede Hypothese über Zusammenhänge oder Wirkungen – Zusammenhänge und Wirkungen erkannt werden können. Irgendwo lauert dann meist doch eine zumindest recht allgemeine Hypothese über Zusammenhänge im Hintergrund. 

Daten können nicht von ihren Infrastrukturen und ihren Anwendungen getrennt werden

Eine zweite Perspektive beschäftigt sich mit Veränderungen des Datenbegriffs. Wissenschaftsphilosophie hat einige neue und erweiterte Datenbegriffe entwickelt. Rob Kitchin empfiehlt das Denken in Data Assemblages. Daten sind also gerade nicht mehr als Isoliertes, Unverfälschtes zu betrachten, sondern als größere Konstrukte. Sie können nicht losgelöst von ihrer Umgebung analysiert werden, sie sind immer mit ihrer Entstehungsgeschichte und mit ihrem Verwendungszweck verbunden und von beiden abhängig. Daten können nicht von Infrastruktur getrennt werden. Sabina Leonelli verwendet den Begriff Data Journeys, um darauf hinzuweisen, dass Daten keine punktuellen statischen Realitätsfragmente sind. Sie müssen in Beziehungen und Entwicklungen betrachtet werden – und sie verändern sich in ihrer Geschichte und in ihrer Verwendung.

Beide Konzepte nehmen davon Abstand, Daten irgendeinen bevorzugten Status einzuräumen. Beide betrachten Daten als komplexe Gebilde, die durch eine Reihe von Entscheidungen entstanden sind. Das richtet die Datenpraxis in den Blickpunkt. Wie gehen wir mit Daten um, welche Fragestellungen sind im Raum, zu welchen Zwecken werden sie herangezogen? Damit werden Entscheidungen in den Analyseprozessen deutlich sichtbar. Daten weisen nicht per se den Weg zu einer Erkenntnis, sie sind Instrumente, die als Argumente benutzt werden können. 

Das ist ein gänzlich anderer Zugang als die Idee, dass Daten Hypothesen, Theorien und Perspektiven ersetzen und einen direkten Weg zur Erkenntnis weisen könnten. 

Daten sind Modelle 

Was haben wir damit gegenüber dem Ausgangspunkt („Es kommt darauf an …“) gewonnen? Kann irgendein sinnvoller Weg von Daten zu Erkenntnis gerettet werden? Wie erlangen Daten, wenn sie keine bevorzugten Realitätsfragmente sind, Autorität und Bedeutung?

Ich schlage vor, dafür in Wissenschafts- und Technologiephilosophie nachzublättern. Wissenschaftsphilosophie beschäftigt sich unter anderem häufig mit der Frage, wie wissenschaftliche Repräsentation und Modellbildung funktionieren. Konkret bedeutet das: Welche Vereinfachungen sind sinnvolle und nützliche Konstrukte, um mehr über etwas Komplizierteres zu erfahren, welche sind Willkür oder schlicht falsch? Wie weit können ForscherInnen mit Modellen arbeiten und Erkenntnisse aus dieser Arbeit ableiten, wie weit sind Modelle bloß Darstellungen bereits gewonnener Erkenntnisse und sollten nicht Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit sein? – Diese Fragestellungen sind der Idee, man könne jede Frage beantworten (ohne sie konkret gestellt zu haben), hätte man nur ausreichend Daten, sehr ähnlich. 

Repräsentationen, so die Kurzfassung einer von mehreren relevanten Strömungen, sind keine Abbildungen, sondern eigentliche Präsentationen. Es ist ein produktiver Akt, (Re)Präsentationen zu erstellen – und auch in diesen Akt fließen eine Reihe von Entscheidungen. 

Modelle können Analogien sein, Metaphern, Apparate, Formeln, Gleichungen – sie sind jedenfalls etwas von ihrem Objekt verschiedenes. Manche TheoretikerInnen fordern eigene Regeln, um aus Modellen gewonnene Ideen auf Realität und das Objekt zurück übertragen zu können. Andere sehen Modelle als eigenständige Entitäten, die ein Eigenleben entwickeln können und auf deren Basis eigene Erkenntnisse entstehen. Diese sind bereits in einer Realität, sie müssen nicht übertragen werden. Relevant ist weniger, was nach der Arbeit mit dem Modell geschieht, als wie die Konstruktion des Modells zustande kommt. 

Können Daten noch Autorität und Bedeutung für sich beanspruchen? 

Mit diesen Konzepten lassen sich klare Argumente gegen technologischen Determinismus formulieren, gegen naive Vorstellungen von Bias und dessen Überwindbarkeit und gegen eine bevorzugte Rolle von Daten. Umso dringender bleibt die Frage: Wie sonst erlangen Daten Autorität im Sinn von Geltungsanspruch und Bedeutung im Sinn konkreter Aussagen? 

Data Science ist Technik. Die Disziplin hat viele Berührungspunkte in viele Richtungen, ist aber doch, in ihrer aktuellen Ausprägung, im wesentlichen eine Disziplin der Informatik. Das macht insofern einen Unterschied, als sich Technik anders zu Realität verhält als etwa Sozialwissenschaft. Technik erklärt und begründet nicht, Technik definiert und entscheidet. Die literarischen Gattungen der Technik sind die Anleitung oder die Spezifikation.

Das ist eine sehr praxisorientierte Perspektive, die sich gut in Beziehung zu pragmatischen Wahrheitskonzepten setzen lässt. Wahr ist, was nützlich ist. Das lässt sich gerade im Zusammenhang mit Technik auch umlegen als: Wahr ist, was funktioniert. 

Das ist aus mehreren Gesichtspunkten relevant. Zum einen setzt die Idee der Nützlichkeit oder des Funktionierens einen Zweck voraus. Es gibt ein Ziel, das einen Rahmen vorgibt, der darüber entscheidet, ob Nützlichkeit oder andere pragmatische Kriterien erreicht sind. Das unterscheidet sich von der Idee eines automatisierten – datengetriebenen – Entscheidungsprozesses, der über alle möglichen Fragestellungen und Realitäten gestülpt werden kann und unabhängig von Zweck und Ziel besser entscheidet. Es unterscheidet sich auch von der Idee der hypothesenfreien Entstehung von Wissen, denn der Zweck ist bereits deutlich konkreter als es viele Hypothesen sind, die am Anfang eines Forschungsprojekts stehen.

Mit steigender Präzision der Ergebnisse nimmt ihre Anwendbarkeit ab

Data Science beantwortet also auf generischer Ebene alles – eben weil technische Methoden entscheiden und definieren. Damit erklären sie nichts. Aber sie legen fest. Je weniger generisch und je weiter konkret eine Fragestellung wird, desto weniger greifen Data Science-Methoden. Statistik hat bei kleinen Fallzahlen bloßer Beobachtung wenig voraus. Algorithmen als Einzelfallbeschreibung liefern keine neue Erkenntnis und kein unerwartetes Ergebnis. Die Beschreibung ist dann allerdings überaus präzise. Sie ist das Idealbild einer Prediction, die ganz präzise Abläufe beschreibt, die so auch geschehen werden – weil sie gerade schon geschehen.

Diese gegenläufige Bewegung zwischen Verbreitung und Generalisierung auf der einen Seite und Spezialisierung auf der anderen Seite ist ein Spezifikum von Data Science-Methoden, insbesondere, weil die Richtung der Bewegung oft nicht klar diagnostiziert werden kann. Wird der Scope enger, wenn die Fragestellung präziser wird und weniger Antworten gegeben werden können? Oder vergrößert sich der Scope durch diese Spezifizierung, weil die Antworten, die gegeben werden können, treffender und aussagekräftiger sind? Das ist Ansichtssache, beide Optionen können argumentiert werden. Es bleibt eine Frage der gewählten Abstraktionsebene, welche Option als sinnvoller empfunden wird. 

Data Science kann auf allen Ebenen nützlich sein und entfaltet ihre Stärke vor allem in der Wiederholung: Data Science-Methoden liefern nicht die besseren Antworten, aber sie liefern in kürzerer Zeit mehr Antworten. 

Nuancierte Fragestellungen auf unterschiedlichen Abstraktionslevels helfen, Teilaussagen in Beziehung zu setzen und abzugleichen. In Luciana Floridis Network Theory of Account entsteht konkrete Bedeutung durch die Interaktion zwischen einzelnen Informationselementen. Bedeutung wird nicht aus Begriffen oder Kategorien abgeleitet, Bedeutung entwickelt sich aus Reaktionen auf Reaktionen.

Darin liegt die Stärke von Data Science-Methoden. Datenbanken können als Networks of Account funktionieren, in denen einzelne Elemente nach klaren Regeln in Beziehung zu einander gesetzt werden. Beziehungen können auch zwischen verschiedenen Datenbanken hergestellt werden. Das setzt klare Regeln und Standards voraus, deren Fehlen die Qualität der Ergebnisse beeinträchtigt. Tempo und Erweiterbarkeit dieser Netzwerke dagegen verbessern die Informationsqualität, solange Regeln und Standards stimmen. 

Technik definiert und entscheidet – unabhängig von richtig und falsch oder gut und böse

Das schwächt den Anspruch von Data Science, eine universelle Entscheidungsmaschine zu sein und neue Information zu generieren. Aber diese Konzentration auf schnelle Iterierbarkeit steigert die Nützlichkeit von Data Science Methoden. Die relevanteste Einschränkung dabei: Data Science dient nicht der Wahrheitsfindung; Data Science ist ein Instrument der Taktik, mit dem schnell Theorien getestet werden können. Dazu braucht es aber zuerst Theorien. 

Partei zu den fröhlichen Totengräbern

Es war eine liebgewordene Tradition in Österreich, dass die Abschiedsreden von (ÖVP-)Politikern zu den Highlights ihrer Karrieren gehörten. Othmar Karas hat damit gebrochen. Sein Abschied blieb so farblos und volle Konjunktive wie sein bisheriges politisches Wirken. Ich habe mich nach etwa einer Minute verabschiedet, als zum ersten Mal die magischen Worte fielen “Es geht ja nicht um mich, aber …” Diese Formulierung gehört zum Standardrepertoire alternder Politbesserwisser, die ganz sicher nicht zur Seite treten werden, um Platz dafür zu machen, worum es denn eigentlich gehen soll.

Keine Nachlese, keine Kritik oder kein Lob von Karas’ Abtritt konnte mich bislang davon überzeugen, dass ich etwas versäumt hätte.

Im großen Sonntagsinterview mit der Kronen Zeitung sprach Karas auch wenig, widersprach auch nicht, als ihm gemeinsame Bewegungsambitionen mit Christian Kern, Reinhard Mitterlehner und Josef Schellhorn nachgesagt wurden. Das wäre ja mal was. Der parteiübergreifende Einheitsbrei der Gekränkten und Beleidigten, die sich nicht durchsetzen konnten und deshalb mit einer eigenen Neugründung sportlich dazu ansetzen, sogar die Republik Kuglmugl auf dem politischen Parkett Österreichs in den Schatten zu stellen. Die Partei zum fröhlichen Totengräber mit lauter älteren Männern, die schon (mindestens) einmal entnervt und beleidigt hingeschmissen haben. In ihrem ersten politischen Leben konnten sie nichts dazu beitragen, den Aufstieg der Rechten zu verhindern, dafür tragen sie jetzt mit neuem Pathos den Anspruch vor sich her, einen Wahlsieg der FPÖ verhindern zu wollen.

Putzig.

Denn sie wildern natürlich nicht in deren Revier, sondern in den Revieren jener, die sich den gleichen Anspruch auf die Fahnen geheftet haben.

Sollten die Comebackfreudigen das also aus Gründen der politischen Raison lieber lassen? Dazu muss man sagen: Nicht jeder Unterschied muss gleich das Gegenteil bedeuten. Im Klartext: Wenn ein Waschmittel nicht sauber wäscht, macht es deshalb noch nicht schmutzig. Aber wenn man etwas gegen die braunen Flecken in der Unterhose tun möchte, sollte man es trotzdem nicht verwenden.